SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS

PAOLO MENGOZZI

2. September 20101(1)

Rechtssache C‑279/09

DEB Deutsche Energiehandels- und Beratungsgesellschaft mbH

gegen

Bundesrepublik Deutschland

(Vorabentscheidungsersuchen des Kammergerichts Berlin [Deutschland])

„Effektiver gerichtlicher Schutz der Rechte aus dem Unionsrecht – Recht auf ein Gericht – Verfahrensgarantien – Juristische Person – Grundsatz der Effektivität – Versagung der Prozesskostenhilfe gegenüber einer juristischen Person für die Erhebung einer Klage auf Geltendmachung der Haftung eines Mitgliedstaats wegen Verstoßes gegen das Unionsrecht, wenn keine ‚allgemeinen Interessen‘ vorliegen“





I –    Einleitung

1.        Das vorliegende Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Grundsätze der Effektivität und der Gleichwertigkeit in Bezug auf die Bestimmungen der deutschen Rechtsordnung, die auf Prozesskostenhilfeanträge anwendbar sind, wenn diese von juristischen Personen im Rahmen von Haftungsklagen gegen den Staat wegen Verstoßes gegen das Unionsrecht gestellt werden.

2.        Der Gerichtshof hat zum ersten Mal über die Vereinbarkeit einer Prozesskostenhilferegelung zu befinden, die u. a. die Befreiung von der Verfahrensgebühr zum Gegenstand hat und deren Gewährung bei juristischen Personen von strengeren Voraussetzungen als bei natürlichen Personen abhängig gemacht wird, und folglich über den Umfang der juristischen Personen zu gewährenden Verfahrensgarantien.

II – Rechtlicher Rahmen

A –    Internationales Recht

3.        Das Haager Übereinkommen über den Zivilprozess vom 1. März 1954, dem bis heute 21 Mitgliedstaaten der Europäischen Union beigetreten sind, widmet Abschnitt IV dem Armenrecht. Im Einzelnen sieht Art. 20 des Übereinkommens vor, dass „in Zivil- und Handelssachen … die Angehörigen eines jeden Vertragstaates in allen anderen Vertragstaaten ebenso wie die eigenen Staatsangehörigen zum Armenrecht nach den Rechtsvorschriften des Staates zugelassen [werden], in dem das Armenrecht nachgesucht wird“.

4.        Laut Art. 1 des am 27. Januar 1977 im Rahmen des Europarats in Straßburg unterzeichneten Europäischen Übereinkommens über die Übermittlung von Anträgen auf Bewilligung der Prozesskostenhilfe, dem 21 Mitgliedstaaten der Union beigetreten sind, kann „[j]ede Person, die ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Hoheitsgebiet einer Vertragspartei hat und im Hoheitsgebiet einer anderen Vertragspartei Verfahrenshilfe in Zivil-, Handels- oder Verwaltungssachen beantragen will, … ihren Antrag in dem Staat einreichen, in dem sie ihren gewöhnlichen Aufenthalt hat. Dieser Staat übermittelt den Antrag dem anderen Staat“.

5.        Art. 1 Abs. 1 des Haager Übereinkommens über den internationalen Zugang zur Rechtspflege vom 25. Oktober 1980 sieht vor, dass „Angehörige eines Vertragsstaats und Personen, die ihren gewöhnlichen Aufenthalt in einem Vertragsstaat haben, … zur unentgeltlichen Rechtspflege in Zivil- und Handelssachen in jedem Vertragsstaat unter denselben Voraussetzungen zugelassen [werden] wie Angehörige dieses Staates, die dort ihren gewöhnlichen Aufenthalt haben“. Nach Art. 1 Abs. 2 dieses Übereinkommens werden „Personen, auf die Absatz 1 keine Anwendung findet, die jedoch früher ihren gewöhnlichen Aufenthalt in einem Vertragsstaat hatten, in dem ein gerichtliches Verfahren anhängig ist oder anhängig gemacht werden soll, gleichwohl unter den in Absatz 1 vorgesehenen Voraussetzungen zur unentgeltlichen Rechtspflege zugelassen, wenn der geltend gemachte Anspruch mit dem früheren gewöhnlichen Aufenthalt in diesem Staat in Zusammenhang steht“.

B –    Unionsrecht

6.        Art. 6 Abs. 2 EU stellt den Grundsatz auf, dass „[d]ie Union … die Grundrechte [achtet], wie sie in der am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten [im Folgenden: EMRK] gewährleistet sind und wie sie sich aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten als allgemeine Grundsätze des Gemeinschaftsrechts ergeben“.

7.        Art. 47 („Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf und ein unparteiisches Gericht“) der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) lautet:

„Jede Person, deren durch das Recht der Union garantierte Rechte oder Freiheiten verletzt worden sind, hat das Recht, nach Maßgabe der in diesem Artikel vorgesehenen Bedingungen bei einem Gericht einen wirksamen Rechtsbehelf einzulegen.

Jede Person hat ein Recht darauf, dass ihre Sache von einem unabhängigen, unparteiischen und zuvor durch Gesetz errichteten Gericht in einem fairen Verfahren, öffentlich und innerhalb angemessener Frist verhandelt wird. Jede Person kann sich beraten, verteidigen und vertreten lassen.

Personen, die nicht über ausreichende Mittel verfügen, wird Prozesskostenhilfe bewilligt, soweit diese Hilfe erforderlich ist, um den Zugang zu den Gerichten wirksam zu gewährleisten.“

8.        Nach Art. 10 Abs. 1 EG treffen die „Mitgliedstaaten … alle geeigneten Maßnahmen allgemeiner oder besonderer Art zur Erfüllung der Verpflichtungen, die sich aus diesem Vertrag oder aus Handlungen der Organe der Gemeinschaft ergeben“. Art. 10 Abs. 2 EG bestimmt, dass sie „alle Maßnahmen [unterlassen], welche die Verwirklichung der Ziele dieses Vertrags gefährden könnten“.

9.        Der vierte Erwägungsgrund der Richtlinie 2003/8/EG des Rates vom 27. Januar 2003 zur Verbesserung des Zugangs zum Recht bei Streitsachen mit grenzüberschreitendem Bezug durch Festlegung gemeinsamer Mindestvorschriften für die Prozesskostenhilfe in derartigen Streitsachen(2) weist darauf hin, dass alle Mitgliedstaaten Vertragsparteien der EMRK sind und die Richtlinie 2003/8 unter Einhaltung dieser Konvention zur Anwendung kommt.

10.      Der fünfte Erwägungsgrund legt das Ziel der Richtlinie 2003/8 wie folgt fest:

„Diese Richtlinie zielt darauf ab, die Anwendung der Prozesskostenhilfe in Streitsachen mit grenzüberschreitendem Bezug für Personen zu fördern, die nicht über ausreichende Mittel verfügen, soweit diese Hilfe erforderlich ist, um den Zugang zu den Gerichten wirksam zu gewährleisten. Das allgemein anerkannte Recht auf Zugang zu den Gerichten wird auch in Artikel 47 der [Charta] bestätigt.“

11.      Im elften Erwägungsgrund der Richtlinie 2003/8 wird die Prozesskostenhilfe dahin gehend definiert, dass sie „die vorprozessuale Rechtsberatung zur außergerichtlichen Streitbeilegung, den Rechtsbeistand bei Anrufung eines Gerichts und die rechtliche Vertretung vor Gericht sowie eine Unterstützung oder Befreiung von den Prozesskosten umfassen“ sollte.

12.      Der 13. Erwägungsgrund dieser Richtlinie legt ihren Anwendungsbereich wie folgt fest:

„Unabhängig von ihrem Wohnsitz oder ihrem gewöhnlichen Aufenthalt im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats müssen alle Unionsbürger Prozesskostenhilfe bei Streitsachen mit grenzüberschreitendem Bezug in Anspruch nehmen können, wenn sie die in dieser Richtlinie genannten Voraussetzungen erfüllen. Gleiches gilt für die Angehörigen von Drittstaaten, die ihren rechtmäßigen gewöhnlichen Aufenthalt in einem Mitgliedstaat haben.“

13.      Art. 1 Abs. 2 der Richtlinie 2003/8 sieht vor, dass diese „für Streitsachen mit grenzüberschreitendem Bezug in Zivil- und Handelssachen [gilt], ohne dass es auf die Art der Gerichtsbarkeit ankommt. Sie erfasst insbesondere keine Steuer- und Zollsachen und keine verwaltungsrechtlichen Angelegenheiten“.

14.      Nach Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 2003/8 haben an „einer Streitsache im Sinne dieser Richtlinie beteiligte natürliche Personen … Anspruch auf eine angemessene Prozesskostenhilfe, damit ihr effektiver Zugang zum Recht nach Maßgabe dieser Richtlinie gewährleistet ist“.

15.      Art. 6 Abs. 1 dieser Richtlinie („Voraussetzungen für den Inhalt der Streitsache“) bestimmt, dass die „Mitgliedstaaten … vorsehen [können], dass Anträge auf Prozesskostenhilfe für offensichtlich unbegründete Verfahren von den zuständigen Behörden abgelehnt werden können“.

16.      Art. 6 Abs. 3 der Richtlinie 2003/8 lautet:

„Bei der Entscheidung über das Wesen, insbesondere die Erfolgsaussichten, eines Antrags berücksichtigen die Mitgliedstaaten unbeschadet des Artikels 5 die Bedeutung der betreffenden Rechtssache für den Antragsteller, wobei sie jedoch auch der Art der Rechtssache Rechnung tragen können, wenn der Antragsteller eine Rufschädigung geltend macht, jedoch keinen materiellen oder finanziellen Schaden erlitten hat, oder wenn der Antrag einen Rechtsanspruch betrifft, der in unmittelbarem Zusammenhang mit dem Geschäft oder der selbständigen Erwerbstätigkeit des Antragstellers entstanden ist.“

17.      Art. 94 §§ 2 und 3 der Verfahrensordnung des Gerichts, dessen Wortlaut mit Art. 95 Abs. 2 und 3 der Verfahrensordnung des Gerichts für den öffentlichen Dienst übereinstimmt, lautet:

„§ 2      Natürliche Personen, die aufgrund ihrer wirtschaftlichen Lage vollständig oder teilweise außer Stande sind, die Kosten nach § 1 zu tragen, haben Anspruch auf Prozesskostenhilfe.

Die wirtschaftliche Lage wird unter Berücksichtigung objektiver Faktoren wie des Einkommens, des Vermögens und der familiären Situation beurteilt.

§ 3      Die Bewilligung von Prozesskostenhilfe wird abgelehnt, wenn die Rechtsverfolgung, für die sie beantragt ist, offensichtlich unzulässig oder offensichtlich unbegründet erscheint.“

18.      Art. 76 § 1 Abs. 1 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs bestimmt:

„Ist eine Partei außerstande, die Kosten des Verfahrens ganz oder teilweise zu bestreiten, so kann ihr auf Antrag jederzeit Prozesskostenhilfe bewilligt werden“.

C –    Nationales Recht

19.      § 12 Abs. 1 des Gerichtskostengesetzes (im Folgenden: GKG) sieht vor:

„In bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten soll die Klage erst nach Zahlung der Gebühr für das Verfahren im Allgemeinen zugestellt werden. Wird der Klageantrag erweitert, soll vor Zahlung der Gebühr für das Verfahren im Allgemeinen keine gerichtliche Handlung vorgenommen werden; dies gilt auch in der Rechtsmittelinstanz.“

20.      Bei Schadensersatzklagen gegen den deutschen Staat nach § 839 des Bürgerlichen Gesetzbuchs handelt es sich um bürgerlich-rechtliche Streitigkeiten.

21.      Nach § 78 Abs. 1 der Zivilprozessordnung (im Folgenden: ZPO) müssen sich die Parteien „vor den Landgerichten und Oberlandesgerichten … durch einen Rechtsanwalt vertreten lassen“.

22.      In § 114 ZPO heißt es:

„Eine Partei, die nach ihren persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen die Kosten der Prozessführung nicht, nur zum Teil oder nur in Raten aufbringen kann, erhält auf Antrag Prozesskostenhilfe, wenn die beabsichtigte Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet und nicht mutwillig erscheint. …“

23.      § 116 Abs. 2 ZPO sieht vor, dass „eine juristische Person oder parteifähige Vereinigung, die im Inland … gegründet und dort ansässig ist, wenn die Kosten weder von ihr noch von den am Gegenstand des Rechtsstreits wirtschaftlich Beteiligten aufgebracht werden können und wenn die Unterlassung der Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung allgemeinen Interessen zuwiderlaufen würde“, auf Antrag Prozesskostenhilfe erhält.

24.      § 122 ZPO bestimmt:

„(1)      Die Bewilligung der Prozesskostenhilfe bewirkt, dass

1.      die Bundes- oder Landeskasse

a)      die rückständigen und die entstehenden Gerichtskosten und Gerichtsvollzieherkosten,

b)      die auf sie übergegangenen Ansprüche der beigeordneten Rechtsanwälte gegen die Partei

nur nach den Bestimmungen, die das Gericht trifft, gegen die Partei geltend machen kann,

2.      die Partei von der Verpflichtung zur Sicherheitsleistung für die Prozesskosten befreit ist,

3.      die beigeordneten Rechtsanwälte Ansprüche auf Vergütung gegen die Partei nicht geltend machen können.

…“

25.      In § 123 ZPO heißt es schließlich, dass „[d]ie Bewilligung der Prozesskostenhilfe … auf die Verpflichtung, die dem Gegner entstandenen Kosten zu erstatten, keinen Einfluss [hat]“.

III – Ausgangsverfahren und Vorlagefrage

26.      Die DEB Deutsche Energiehandels- und Beratungsgesellschaft mbH (im Folgenden: DEB) ist ein 1998 gegründetes deutsches Unternehmen, das vom Wirtschaftsministerium des Landes Brandenburg die Genehmigung erhielt, als unabhängiger Energiegroßhändler und Energieversorgungsunternehmen in Deutschland tätig zu sein. Da sie der Auffassung ist, dass sie aufgrund der verspäteten Umsetzung der Richtlinien 98/30/EG(3) und 2003/55/EG(4) in Deutschland, die einen diskriminierungsfreien Netzzugang ermöglicht hätten, einen Schaden erlitten habe, verfolgt sie eine Staatshaftungsklage wegen Verstoßes gegen das Unionsrecht vor einem nationalen Gericht. Bei Klageerhebung hatte DEB keine Arbeitnehmer und kein Vermögen.

27.      Dass die Bundesrepublik Deutschland die Umsetzungsfrist der Richtlinie 98/30 nicht eingehalten hat, wurde im Übrigen vom Gerichtshof mit einem Vertragsverletzungsurteil festgestellt(5).

28.      DEB macht geltend, sie habe einen Schaden erlitten, und verlangt eine Entschädigung in Höhe von etwas über 3,7 Milliarden Euro. In der mündlichen Verhandlung hat DEB ausgeführt, dass sie 1998 fast 200 Personen beschäftigt habe, die sie wegen ihrer eigenen Untätigkeit nach und nach habe entlassen müssen, und über eigenes Vermögen verfügt habe, das sie aus demselben Grund verloren habe. Sie sei daher, als der Zugang zu den Gasnetzen tatsächlich eröffnet worden sei, nicht mehr in der Lage gewesen, die Tätigkeit auszuüben, für die sie eine Lizenz erhalten habe.

29.      Sie habe durch den verweigerten Zugang zu den Gasnetzen mindestens sechs Verträge verloren. Der als Schadensersatz verlangte Betrag ergebe sich aus der Differenz zwischen dem durchschnittlichen statistischen Verkaufspreis für Großkunden in Deutschland und dem Einkaufspreis in Russland, abzüglich der Durchleitungsentgelte und Transportkosten. Von diesem Ergebnis sei entsprechend der einschlägigen deutschen Rechtsvorschriften ein Sicherheitsabschlag von 50 % abgezogen worden.

30.      Nach den Berechnungen von DEB würde sich die von ihr zu tragende Verfahrensgebühr, die anhand des Streitwerts berechnet wird, auf ungefähr 275 000 Euro belaufen. Da im Übrigen die Vertretung durch einen Anwalt vorgeschrieben ist, kommen die Anwaltskosten, die DEB auf etwas über 990 000 Euro schätzt, hinzu. DEB, die weder die Gebühr nach § 12 Abs. 1 GKG noch die Kosten des Anwalts, von dem man sich vertreten lassen muss, aufbringen kann, beantragte für die Durchführung ihrer Klage vor dem Landgericht Berlin Prozesskostenhilfe wegen fehlender ausreichender Finanzmittel.

31.      Mit Entscheidung vom 4. März 2008 lehnte das Landgericht Berlin die Bewilligung von Prozesskostenhilfe mit der Begründung ab, DEB erfülle nicht die Voraussetzungen des § 116 Abs. 2 ZPO. Die Mittellosigkeit von DEB sei zwar zweifellos gegeben, doch laufe die Unterlassung der Rechtsverfolgung nicht allgemeinen Interessen, wie sie von den deutschen Gerichten und dem Bundesverfassungsgericht ausgelegt würden, zuwider. Über die Erfolgsaussichten des Hauptsacheantrags entschied das Landgericht Berlin im Übrigen nicht.

32.      DEB legte hiergegen sofortige Beschwerde beim Kammergericht Berlin ein. Dieses vertritt die Auffassung, dass es, wenn es nur anhand des deutschen Rechts zu entscheiden hätte, nur feststellen könne, dass das Landgericht Berlin die Voraussetzungen des § 116 Abs. 2 ZPO richtig ausgelegt habe. Die deutschen Gerichte entschieden nämlich in ständiger Rechtsprechung, dass der Verzicht auf die Klage nur in wenigen Fällen tatsächlich allgemeinen Interessen zuwiderlaufe. Dies sei der Fall, wenn die Entscheidung größere Kreise der Bevölkerung anspreche oder soziale Wirkung nach sich ziehen könne. So liege ein Verstoß gegen die allgemeinen Interessen im Sinne des § 116 Abs. 2 ZPO vor, wenn die juristische Person ohne die Durchführung des Rechtsstreits der Allgemeinheit dienende Aufgaben nicht mehr erfüllen könnte oder von der Durchführung des Rechtsstreits die Existenz der juristischen Person abhänge und deshalb Arbeitsplätze verloren gehen könnten oder die juristische Person eine Vielzahl von Gläubigern habe.

33.      Das Kammergericht Berlin führt weiter aus, dass nach der deutschen Rechtsprechung und insbesondere der des Bundesgerichtshofs für die Erfüllung der Voraussetzungen des § 116 Abs. 2 ZPO das allgemeine Interesse an einer richtigen Entscheidung nicht ausreiche, ebenso wenig wie der Umstand, dass bei der Entscheidung des Rechtsstreits Rechtsfragen von allgemeinem Interesse zu beantworten seien.

34.      DEB habe weder Einkünfte noch Vermögen, Arbeitnehmer oder Gläubiger. Ein Verzicht auf die Klage gefährde für sich allein nicht ihre Existenz. Es werde auch nicht davon ausgegangen, dass sie eine der Allgemeinheit dienende Aufgabe erfülle. Wie stets gefordert worden sei, müsse außer den an der Führung des Prozesses wirtschaftlich Beteiligten ein erheblicher Kreis von Personen durch die Unterlassung der Rechtsverfolgung in Mitleidenschaft gezogen werden. Da dies auf DEB nicht zutreffe, sei die Entscheidung des Landgerichts Berlin, ihren Antrag auf Prozesskostenhilfe abzuweisen, zu bestätigen.

35.      Das Kammergericht Berlin weist ferner darauf hin, dass die unterschiedliche Behandlung natürlicher und juristischer Personen in der ZPO vom Bundesverfassungsgericht für mit dem deutschen Grundgesetz vereinbar erklärt worden sei. Es habe nämlich entschieden, dass die Bewilligung von Prozesskostenhilfe einer Maßnahme der Sozialhilfe gleichkomme, die sich aus dem Sozialstaatsprinzip herleite und zur Achtung der Menschenwürde notwendig sei. Das vorlegende Gericht schließt daraus, dass eine solche Solidarität nicht gegenüber mittellosen juristischen Personen verlangt werden könne. Über ein ausreichendes Vermögen zu verfügen, sei Voraussetzung für die Gründung und Existenz juristischer Personen. Sie hätten nur dann eine von der Rechtsordnung anerkannte Existenzberechtigung, wenn sie in der Lage seien, die Ziele, für die sie gegründet worden seien, und ihre Aufgaben aus eigener Kraft zu verfolgen.

36.      Das Kammergericht Berlin wirft jedoch die Frage auf, ob § 116 Abs. 2 ZPO in seiner bisherigen Auslegung durch die nationalen Gerichte nicht dem Unionsrecht widerspreche. Die Bewilligungsvoraussetzungen für Prozesskostenhilfe, die sich für juristische Personen als strenger erwiesen als für natürliche Personen und darüber hinaus von den deutschen Gerichten eng ausgelegt würden, hätten im Fall von DEB konkret zur Folge, dass diese keinerlei Möglichkeit hätte, die Haftung des deutschen Staates wegen Verstoßes gegen das Unionsrecht geltend zu machen. So mache es die Versagung der Prozesskostenhilfe unmöglich oder erschwere es zumindest übermäßig, gegebenenfalls vom Staat aufgrund seiner Haftung für einen Verstoß gegen das Unionsrecht entschädigt zu werden. Das vorlegende Gericht hegt also Zweifel an der Vereinbarkeit der nationalen Maßnahme mit den Staatshaftungsgrundsätzen und insbesondere mit dem Grundsatz der Effektivität, wie er von der Rechtsprechung des Gerichtshofs entwickelt wurde.

37.      Mit diesem Problem der Auslegung des Unionsrechts konfrontiert hat das Kammergericht Berlin, das in dieser Frage letztinstanzlich entscheidet, das Verfahren ausgesetzt und mit Vorlageentscheidung vom 30. Juni 2009 dem Gerichtshof gemäß Art. 234 EG folgende Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt:

Bestehen im Hinblick darauf, dass durch die nationale Ausgestaltung der schadensersatzrechtlichen Voraussetzungen und des Verfahrens zur Geltendmachung des gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftungsanspruchs durch die Mitgliedstaaten die Erlangung einer Entschädigung nach den Grundsätzen des gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftungsanspruchs nicht praktisch unmöglich gemacht oder übermäßig erschwert werden darf, Bedenken gegen eine nationale Regelung, nach der die gerichtliche Geltendmachung von der Zahlung [einer Gebühr] abhängig gemacht wird und einer juristischen Person, die [diese Gebühr] nicht aufbringen kann, Prozesskostenhilfe nicht zu bewilligen ist?

IV – Verfahren vor dem Gerichtshof

38.      Die Klägerin des Ausgangsverfahrens, die dänische, die deutsche, die französische, die italienische und die polnische Regierung, die Europäische Kommission sowie die EFTA-Überwachungsbehörde haben schriftliche Erklärungen eingereicht.

39.      In der mündlichen Verhandlung vom 3. Juni 2010 haben die Klägerin des Ausgangsverfahrens, die deutsche Regierung, die Kommission und die EFTA-Überwachungsbehörde mündlich Stellung genommen.

V –    Rechtliche Analyse

A –    Zusammenfassung der Erklärungen

40.      Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass die deutsche Regierung wie auch die dänische, die französische und die italienische Regierung sowie die Kommission zu dem Ergebnis kommen, dass gegen die fragliche nationale Regelung im Hinblick auf die Grundsätze der Gleichwertigkeit und der Effektivität keine Bedenken bestünden. Sie vertreten im Wesentlichen die Auffassung, dass zwar ein Einzelner in die Lage versetzt werden müsse, die Haftung des Staates für einen Verstoß gegen das Unionsrecht wirksam geltend machen zu können, doch könnten die Grundsätze der Effektivität des Unionsrechts und des effektiven gerichtlichen Rechtsschutzes nicht so weit gehen, dass den Mitgliedstaaten vorgeschrieben werde, juristischen Personen Prozesskostenhilfe zu bewilligen, die nur künstliche Schöpfungen der nationalen Rechtsordnungen seien, deren Anerkennung u. a. davon abhänge, dass sie über ausreichende Mittel zu ihrer Existenzsicherung verfügten. Mangels Harmonisierungsmaßnahme auf Unionsebene sei es in Anbetracht der Verfahrensordnungen der Unionsgerichte und der Natur der Prozesskostenhilfe, deren im Wesentlichen sozialen Charakter und ihren Zusammenhang mit der Menschenwürde einige Regierungen betont haben, vollkommen gerechtfertigt und legitim, die Voraussetzungen für die Bewilligung von Prozesskostenhilfe an juristische Personen, wenn es sie gebe, von sehr viel strengeren Voraussetzungen abhängig zu machen, als wenn die Prozesskostenhilfe von einer natürlichen Person beantragt werde.

41.      Dagegen äußern die Klägerin des Ausgangsverfahrens, die polnische Regierung und die EFTA-Überwachungsbehörde Bedenken gegen die streitige nationale Bestimmung. DEB trägt vor, dass die Verletzung des Grundsatzes der Effektivität evident sei, da sie auf die Schadensersatzklage verzichten müsse, wenn ihr keine Prozesskostenhilfe bewilligt werde, weil sie konkret daran gehindert werde, die ihr aus dem Unionsrecht erwachsenden Rechte gerichtlich geltend zu machen. Diese Beurteilung wird von der EFTA‑Überwachungsbehörde geteilt, auch wenn sie sie nuancierter vorbringt. Die polnische Regierung tritt der zu engen Auslegung des Begriffs der allgemeinen Interessen durch die deutschen Gerichte entgegen. Dieser Verstoß gegen den Grundsatz der Effektivität sei nicht verhältnismäßig. Nach Ansicht der Klägerin des Ausgangsverfahrens, der polnischen Regierung und der EFTA-Überwachungsbehörde wird der Grundsatz der Effektivität unter diesen Umständen verletzt.

B –    Effektiver gerichtlicher Schutz der dem Einzelnen durch das Unionsrecht verliehenen Rechte und Grundsatz der Staatshaftung für Verstöße gegen das Unionsrecht

42.      Der Grundsatz des effektiven gerichtlichen Schutzes der dem Einzelnen durch das Unionsrecht verliehenen Rechte ist nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs(6) ein allgemeiner Grundsatz des Unionsrechts, der sich aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten ergibt und in den Art. 6 und 13 EMRK sowie neuerdings in Art. 47 der Charta(7) verankert ist.

43.      Der in dieser Weise verankerte Grundsatz des effektiven gerichtlichen Rechtsschutzes besteht darin, dem Einzelnen zu gewährleisten, dass er die ihm aus dem Unionsrecht erwachsenden Rechte geltend machen kann. Selbst wenn seine Rechte vom Staat verletzt worden sind, muss er vor den nationalen Gerichten Schadensersatz beanspruchen können.

44.      Aus der Logik der Verträge und aus den Verpflichtungen, die die Mitgliedstaaten durch ihre Entscheidung, der Union beizutreten, selbst eingegangen sind, ergibt sich nämlich, dass der Einzelne in die Lage versetzt werden muss, die Haftung der Mitgliedstaaten geltend zu machen, wenn er glaubt, durch den Staat in seinen Rechten aus dem Unionsrecht verletzt zu sein.

45.      Demnach werden das Ziel, die sich aus dem Unionsrecht für die Mitgliedstaaten ergebenden Pflichten einzuhalten, und das Ziel, dem Einzelnen die volle Wirkung seiner Rechte aus dem Unionsrecht zu gewährleisten, beide zugleich verfolgt. Die Mitgliedstaaten sind nämlich nach ständiger Rechtsprechung im Namen des Grundsatzes der loyalen Zusammenarbeit gemäß Art. 10 EG verpflichtet, die volle Wirkung der Bestimmungen des Unionsrechts zu gewährleisten und die Rechte zu schützen, die das Unionsrecht dem Einzelnen verleiht(8).

46.      Der Entschädigungsanspruch für Personen, die durch einen Verstoß gegen das Unionsrecht einen Schaden erlitten haben, ist ein Grundpfeiler der von den Verträgen geschaffenen Rechtsunion und eine besondere Ausprägung des Grundsatzes des effektiven gerichtlichen Rechtsschutzes. Gleichzeitig ist die verfassungsrechtliche Grundlage der Union, die von den Verträgen gebildet wird, vom Geist der gerichtlichen Zusammenarbeit geprägt. So hat der Gerichtshof, als er folgerichtig den Grundsatz der Staatshaftung für Verstöße gegen das Unionsrecht aufgestellt hat, ebenfalls folgerichtig darauf hingewiesen, dass Klagen auf Geltendmachung dieses Grundsatzes vor den nationalen Gerichten als den allgemein für die Anwendung des Unionsrechts zuständigen Gerichten erhoben werden müssen und es daher Sache der nationalen Rechtsordnungen ist, die zuständigen Gerichte sowie die formellen und materiellen Voraussetzungen solcher Klagen festzulegen. Wegen der Verfahrens- und Gerichtsautonomie der Mitgliedstaaten ist ihnen in diesem Bereich ein Handlungsspielraum einzuräumen.

47.      Dieser Freiheit müssen jedoch zwangsläufig Grenzen gesetzt werden. Zwar muss der Einzelne die Haftung des Staates, der gegen das Unionsrecht verstoßen hat, im Rahmen des nationalen Haftungsrechts geltend machen können, doch dürfen „die im Schadensersatzrecht der einzelnen Mitgliedstaaten festgelegten materiellen und formellen Voraussetzungen nicht ungünstiger sein … als bei ähnlichen Klagen, die nur nationales Recht betreffen (Grundsatz der Gleichwertigkeit), und nicht so ausgestaltet sein …, dass sie es praktisch unmöglich machen oder übermäßig erschweren, die Entschädigung zu erlangen (Grundsatz der Effektivität)“(9).

48.      Im vorliegenden Fall hat der Einzelne die Möglichkeit, eine Staatshaftungsklage wegen Verstoßes gegen das Unionsrecht gegen den deutschen Staat zu erheben. Zu klären bleibt, ob die nationalen Rechtsvorschriften die Grundsätze der Gleichwertigkeit und der Effektivität einhalten.

C –    Zum Grundsatz der Gleichwertigkeit

49.      Der Grundsatz der Gleichwertigkeit, der verlangt, dass bei der Anwendung sämtlicher für Rechtsbehelfe geltenden Vorschriften nicht danach unterschieden wird, ob ein Verstoß gegen Unionsrecht oder gegen internes Recht gerügt wird(10), ist im vorliegenden Fall wirksam gewahrt. Die Verfahrensgebühr ist zu zahlen, wenn eine Staatshaftungsklage erhoben wird, unabhängig davon, ob ein Verstoß gegen nationales Recht oder ein Verstoß gegen Unionsrecht gerügt wird. Zudem sind die Voraussetzungen, die juristische Personen erfüllen müssen, damit ihnen Prozesskostenhilfe bewilligt wird, bei einer Staatshaftungsklage wegen Verstoßes gegen nationales Recht dieselben wie bei einer Staathaftungsklage wegen eines Verstoßes des deutschen Staates gegen das Unionsrecht.

D –    Zum Grundsatz der Effektivität

50.      Wie das vorlegende Gericht zutreffend festgestellt hat, stellt sich in der vorliegenden Rechtssache mehr die Frage nach der Vereinbarkeit nationaler Rechtsvorschriften, die in dem jetzt dem Gerichtshof unterbreiteten konkreten Fall zur Folge haben, dass sie nicht die Schwierigkeiten einer juristischen Person beim Zugang zu einem Gericht überwinden helfen, vor dem diese die ihr ihrer Ansicht nach aus dem Unionsrecht erwachsenden Rechte geltend machen möchte, mit dem Unionsrecht und insbesondere mit dem Grundsatz der Effektivität.

51.      Die dargestellte Situation ergibt sich aus dem Zusammenspiel zweier Vorschriften.

52.      Erstens verpflichtet § 12 GKG Parteien aller Art zur Zahlung einer Gebühr, deren Höhe vom geschätzten Streitwert abhängt. Eine Obergrenze sehen die deutschen Rechtsvorschriften nicht vor. Zweitens eröffnet § 116 Abs. 2 ZPO juristischen Personen die Möglichkeit, Prozesskostenhilfe u. a. unter der Voraussetzung in Anspruch zu nehmen, dass die Unterlassung der Rechtsverfolgung allgemeinen Interessen zuwiderlaufen würde. Diese Voraussetzung wird von den deutschen Gerichten eng ausgelegt.

53.      In Übereinstimmung mit der Rechtsprechung unseres Gerichtshofs erscheint es mir wichtig, § 116 Abs. 2 ZPO in den größeren Kontext der deutschen Verfahrensregelungen einzuordnen. Anders gesagt, auch wenn sich die schriftlichen Erklärungen der Verfahrensbeteiligten auf die Problematik der Versagung der Prozesskostenhilfe für juristische Personen konzentrieren, sind die Bewilligungsvoraussetzungen der Prozesskostenhilfe im größeren Kontext der allgemeinen Verfahrensorganisation, wie sie vom fraglichen Mitgliedstaat ausgestaltet ist, zu analysieren.

1.      Zu der Möglichkeit, das Verfahren von der Entrichtung einer Gebühr abhängig zu machen, sofern diese Gebühr nicht unverhältnismäßig ist

54.      In diesem Stadium der Überlegungen ist dem Gerichtshof in Erinnerung zu rufen, dass es den Mitgliedstaaten bei der Umsetzung ihrer Verfahrensautonomie freisteht, die Klageerhebung von Verfahrenskosten abhängig zu machen. Dabei geht es im Allgemeinen um zwei sehr unterschiedliche Arten: Entweder handelt es sich um eine Gebühr, die der Staat als Beitrag der Verfahrensbeteiligten zur Finanzierung des öffentlichen Justizwesens erhält, oder es handelt sich um einen Vorschuss auf die Prozesskosten, also eine vom Kläger bewirkte Sicherheitsleistung, durch die dem Beklagten gegenüber gewährleistet wird, dass sich der Kläger im Fall seines Unterliegens an den Kosten der Verteidigung des Beklagten beteiligen wird.

55.      Der Gerichtshof hatte bisher nur über Regelungen zur sogenannten cautio iudicatum solvi (Prozesskostensicherheit) zu befinden, die unter die zweite Art der oben angeführten Kosten fällt. Die Besonderheit der Regelungen, deren Vereinbarkeit mit dem Unionsrecht der Gerichtshof zu beurteilen hatte, lag darin, dass diese Sicherheitsleistung, im Allgemeinen „Ausländersicherheit“ genannt, vom Kläger zu entrichten ist, wenn er nicht im Hoheitsgebiet des Mitgliedstaats seinen Wohnsitz hat, vor dessen Gerichten die Klage erhoben wird, und auch nicht dessen Staatsangehörigkeit besitzt, während eine solche Sicherheitsleistung von Staatsangehörigen des fraglichen Mitgliedstaats auch dann nicht verlangt wird, wenn sie keinen Wohnsitz oder Vermögen in ihrem Herkunftsstaat haben. Folglich hat der Gerichtshof seine Prüfung auf Art. 12 EG und das allgemeine Diskriminierungsverbot gestützt(11) und nicht auf den Grundsatz der Effektivität des Unionsrechts.

56.      In der mündlichen Verhandlung wurde die deutsche Regierung gebeten, zu erläutern, wie die Verfahrensgebühren berechnet werden. Sie hat dazu ausgeführt, dass sich in den einschlägigen deutschen Rechtsvorschriften eine Tabelle befinde, so dass sich der Rechtssuchende anhand des geschätzten Streitwerts der Rechtssache vorher auf völlig transparente Weise darüber informieren könne, wie hoch die von ihm zu entrichtende Gebühr sein werde. Die Gebühr werde anhand eines bestimmten Prozentsatzes des Streitwerts bemessen. Zweck der Gebühren sei es im Wesentlichen, diejenigen, die das Gerichtswesen in Anspruch nähmen, an seiner Finanzierung zu beteiligen. Da die Gebühren bei Rechtsstreitigkeiten mit geringem Streitwert nicht zur Deckung der tatsächlichen Kosten des Verfahrens ausreichten, fielen sie bei Rechtsstreitigkeiten mit höheren Streitwerten höher aus. Vor dem Hintergrund dieser Erwägungen sei die von DEB zu entrichtende Verfahrensgebühr auf ungefähr 275 000 Euro festgesetzt worden.

57.      Je höher die Verfahrenskosten, desto größer ist die Gefahr, dass der Kläger sie nicht aufbringen kann und um Prozesskostenhilfe ersuchen muss. Die Festsetzung von hohen Verfahrenskosten in Verbindung mit sehr engen Voraussetzungen für die Bewilligung von Prozesskostenhilfe kann leicht als dazu geeignet angesehen werden, das Recht auf Zugang zu einem Gericht zu beeinträchtigen. Dies gilt umso mehr, wenn die Gebühr, wie im vorliegenden Fall, vor Verfahrensbeginn zu entrichten ist. Es stellt sich hier die Frage, ob die Aufteilung der Kosten für das Gerichtswesen zwischen dem Staat und denjenigen, die es in Anspruch nehmen, wie sie in den deutschen Rechtsvorschriften vorgenommen wird, angemessen ist oder über das hinausgeht, was vernünftig oder gerecht ist, wenn sie in einer konkreten Situation wie derjenigen des vorliegenden Falles zu einer unannehmbaren Beschränkung des Zugangs zum Recht führt. Diese Frage kann nur der Richter des Ausgangsverfahrens unter Berücksichtigung der Erfolgsaussichten der von der Klägerin des Ausgangsverfahrens angestrebten Klage, zu denen sich weder das Landgericht Berlin, wie in Nr. 31 der vorliegenden Schlussanträge angesprochen, noch das Kammergericht Berlin geäußert haben, gebührend beurteilen.

58.      Die deutsche Regierung hat in der mündlichen Verhandlung ferner ausgeführt, dass das Ausbleiben der Zahlung der Gebühr, ohne als echte Zulässigkeitsvoraussetzung der Klage ausgestaltet zu sein, zur Folge habe, dass das Verfahren nicht eröffnet werde. Ich muss zugeben, dass mir die Unterscheidung subtil erscheint, aber jedenfalls ist der Zugang zu einem Gericht umso schwieriger, als die Bundesrepublik Deutschland, anders als in einigen Regelungen anderer Mitgliedstaaten vorgesehen, keine Obergrenze festgelegt hat und nicht die Möglichkeit eröffnet, die Gebühr nachträglich zu entrichten(12). Deshalb bin ich der Auffassung, dass es für eine Analyse der Lage von DEB nötig ist, nicht nur die deutschen Rechtsvorschriften über die Bewilligungsvoraussetzungen der Prozesskostenhilfe zu berücksichtigen, sondern auch die deutsche Verfahrensregelung, nach der eine Verfahrensgebühr zu entrichten ist. Zum anderen entspricht dies der vom vorlegenden Gericht unterbreiteten Frage, das, wie sich aus Nr. 37 der vorliegenden Schlussanträge ergibt, wissen möchte, ob Bedenken gegen eine nationale Regelung bestehen, nach der erstens die gerichtliche Geltendmachung von der Zahlung einer Gebühr abhängig gemacht wird und zweitens einer juristischen Person, die diese Gebühr nicht aufbringen kann und die engen Voraussetzungen der Bestimmung nicht erfüllt, Prozesskostenhilfe nicht zu bewilligen ist.

59.      Die Einführung einer Prozesskostenhilferegelung ist in den Staaten von besonderer Bedeutung, die sich dafür entschieden haben, Gerichtsverfahren kostenpflichtig zu stellen, da sie dort im Allgemeinen als ein Ausgleich ausgestaltet ist. Daher ist die Beurteilung der Angemessenheit der Gerichtskosten ein zusätzlicher Anhaltspunkt bei der Bewertung der Schwere des Verstoßes gegen den Grundsatz des Rechts auf Zugang zu einem Gericht, der sich aus der Versagung der Prozesskostenhilfe ergibt(13). Ohne die Antwort des vorlegenden Gerichts auf diese Frage vorwegnehmen zu wollen, bin ich nämlich der Meinung, dass Folgendes zu berücksichtigen ist: Wäre die Verfahrensgebühr in der Situation, in der sich DEB befunden hat, niedriger gewesen, hätte diese objektiv mehr Chancen gehabt, ihre Klage durchzuführen, denn die Möglichkeiten, auf eine externe Finanzierung (z. B. ein Bankdarlehen) zurückzugreifen, wären zahlreicher gewesen.

2.      Zur Frage der Reichweite des Rechts juristischer Personen auf Prozesskostenhilfe

a)      Das Indizienbündel

60.      Ich habe bereits darauf hingewiesen, dass diese schwierige Frage dem Gerichtshof zum ersten Mal vorgelegt wird. Die Antwort ist umso schwieriger, als auf unsere Rechtssache nur wenige positive Normen tatsächlich Anwendung finden. Deshalb muss ich auf etwas zurückgreifen, das ich „Indizienbündel“ nennen werde. Es besteht aus der internationalen Praxis, der Rechtsprechung des EGMR, dem Stand des Unionsrechts auf diesem Gebiet und der Praxis der einzelnen Mitgliedstaaten.

i)      Internationale Praxis

61.      Die internationale Praxis scheint von den Staaten nicht zu verlangen, juristischen Personen Prozesskostenhilfe zu bewilligen. Weder Art. 20 des Haager Übereinkommens über den Zivilprozess noch Art. 1 des Europäischen Übereinkommens über die Übermittlung von Anträgen auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe oder Art. 1 Abs. 1 und 2 des Haager Übereinkommens über den internationalen Zugang zur Rechtspflege lassen darauf schließen, dass juristischen Personen ein vergleichbarer Anspruch auf Prozesskostenhilfe wie natürlichen Personen zugestanden wird. Diese unterschiedlichen Verträge und Übereinkommen benennen als Empfänger von Prozesskostenhilfe nur „die Angehörigen eines jeden Vertragsstaates“, „jede Person, die ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Hoheitsgebiet einer Vertragspartei hat“ oder „Angehörige eines Vertragsstaats und Personen, die ihren gewöhnlichen Aufenthalt in einem Vertragsstaat haben“(14). Die Begriffe „Angehörige“ und „Personen, die ihren gewöhnlichen Aufenthalt … haben“ scheinen mir doch eher zur Bezeichnung natürlicher Personen zu dienen.

62.      Ferner ist festzustellen, dass das Haager Übereinkommen über den internationalen Zugang zur Rechtspflege in seinem Kapitel I betreffend die unentgeltliche Rechtspflege juristische Personen an keiner Stelle erwähnt. Ausdrücklich genannt werden sie aber in den Bestimmungen des Kapitels II betreffend die Sicherheitsleistung für die Prozesskosten und die Vollstreckbarerklärung von Kostenentscheidungen. Anders ausgedrückt bedeutet dies, dass der fehlende Hinweis auf juristische Personen in Kapitel I nicht auf ein Versäumnis oder eine Nachlässigkeit der Verfasser des Übereinkommens zurückzuführen ist. Noch bedeutsamer ist, dass die internationale Praxis somit die Möglichkeit eröffnet, juristische Personen zur Zahlung von Gerichtskosten heranzuziehen (unter der Voraussetzung, dass sie nicht allein wegen der ausländischen Staatsangehörigkeit der Kläger von ihnen verlangt werden), ohne für sie eine Prozesskostenhilferegelung als Ausgleich vorzusehen.

ii)    EMRK und Rechtsprechung des EGMR

63.      Was die EMRK angeht, die bereits seit Langem eine Rechtsquelle von größter Bedeutung für die Unionsrechtsordnung ist und die für die Union nach ihrem Beitritt auf der Grundlage eines sie bindenden internationalen Übereinkommens offiziell rechtsverbindlich sein wird, ist festzustellen, dass in Art. 6 Abs. 3 Buchst. c EMRK die Bewilligung von Prozesskostenhilfe nur in Bezug auf Strafverfahren Erwähnung findet. Daraus hat der EGMR einen grundlegenden Unterschied abgeleitet, da die Konvention nicht dazu verpflichte, Prozesskostenhilfe in allen zivilrechtlichen Streitigkeiten zu bewilligen. Es bestehe nämlich ein deutlicher Unterschied zwischen dem Wortlaut des Art. 6 Abs. 3 Buchst. c EMRK, der unter bestimmten Voraussetzungen einen Anspruch auf Prozesskostenhilfe in Strafverfahren gewähre, und dem Wortlaut des Art. 6 Abs. 1 EMRK, der die Prozesskostenhilfe überhaupt nicht erwähne(15). Mit anderen Worten kann Art. 6 Abs. 3 Buchst. c EMRK nicht so weit ausgelegt werden, dass er die Vertragsstaaten der Konvention dazu verpflichten würde, systematisch Prozesskostenhilfe zu bewilligen.

64.      Die Versagung von Prozesskostenhilfe in Zivilverfahren wird vom EGMR also nur über Art. 6 Abs. 1 EMRK in Betracht gezogen, aus dem er das Recht auf Zugang zu einem Gericht abgeleitet hat(16). In der Sache Airey/Irland, auf die die Erläuterungen zu Art. 47 Abs. 3 der Charta Bezug nehmen, begehrte eine irische Staatsangehörige die gerichtliche Trennung von ihrem Ehemann. Obwohl eine anwaltliche Vertretung nicht vorgeschrieben war, stellte sich heraus, dass sich in vergleichbaren Verfahren, die zwingend vor dem High Court stattzufinden hatten, alle Parteien von einem Rechtsanwalt hatten vertreten lassen. Zudem gab es damals in Irland für zivilrechtliche Streitigkeiten keine Prozesskostenhilferegelung. Nach Ansicht des EGMR war „zu prüfen, ob … [das] Auftreten [der Beschwerdeführerin] vor dem High Court ohne den Beistand eines Anwalts effektiv in dem Sinne wäre, dass sie in der Lage wäre, ihren Fall sachgemäß und zufriedenstellend zu vertreten“(17). Der EGMR erkennt an, dass die EMRK nicht zum Ziel hat, eine allgemeine Prozesskostenhilferegelung einzuführen, sie „verlangt nur, dass der Einzelne sein Recht auf Zugang zu den Gerichten unter Bedingungen wirksam ausüben kann, die nicht mit Art. 6 Abs. 1 unvereinbar sind“(18). Zwar enthält laut EGMR „die [EMRK] keine Bestimmung über Prozesskostenhilfe“(19) für zivilrechtliche Streitigkeiten, „Art. 6 Abs. 1 [kann] jedoch manchmal die Staaten verpflichten, für den Beistand eines Rechtsanwalts Vorsorge zu treffen, wenn sich ein solcher Beistand als für den wirksamen Zugang zum Gericht unabdingbar erweist, sei es, weil die Vertretung durch einen Rechtsanwalt zwingend vorgeschrieben ist, wie dies im innerstaatlichen Recht einiger Vertragsstaaten für verschiedene Arten von Rechtsstreitigkeiten der Fall ist, sei es wegen der Komplexität des Verfahrens oder des konkreten Falles“(20).

65.      Die Beurteilung durch den EGMR hängt offenkundig sehr von den Umständen des Einzelfalls ab. In der Sache Del Sol/Frankreich war die Beschwerdeführerin (auch hier wieder eine natürliche Person) der Auffassung, dass die Weigerung, ihr Prozesskostenhilfe zu bewilligen, sie vom Zugang zur französischen Cour de cassation ausschließe, so dass Art. 6 Abs. 1 EMRK verletzt sei. Der EGMR ist diesem Ansatz jedoch nicht gefolgt. Er hat die französische Prozesskostenhilferegelung in concreto untersucht und befunden, dass die vom französischen Gesetzgeber geschaffene Regelung dem Einzelnen wesentliche Garantien biete, um ihn vor Willkürlichkeit zu schützen, zum einen durch die Art der Besetzung des Amts für Prozesskostenhilfe bei der Cour de cassation, zum anderen durch die Tatsache, dass die abschlägigen Entscheidungen dieses Amts einem Rechtsmittel beim Ersten Präsidenten der Cour de cassation unterlägen(21). Der EGMR hat darüber hinaus festgestellt, dass die Beschwerdeführerin die Gelegenheit gehabt habe, mit ihrer Sache im ersten Rechtszug und dann in der Berufung gehört zu werden(22). Zuvor hatte der EGMR klargestellt, dass, wie die Europäische Kommission für Menschenrechte entschieden habe, ein Prozesskostenhilfesystem offensichtlich nur funktionieren könne, wenn es eine Regelung gebe, die eine Selektion der Fälle erlaube, in denen Prozesskostenhilfe in Frage komme(23). Letztlich hat er daraus geschlossen, dass die Versagung der Prozesskostenhilfe durch das Amt für Prozesskostenhilfe nicht den Wesensgehalt des Rechts der Beschwerdeführerin auf Zugang zu den Gerichten angetastet habe.

66.      In jüngerer Zeit hat der EGMR die Kriterien präzisiert, die bei der Bewertung der Vereinbarkeit einer Prozesskostenhilferegelung mit der EMRK zu berücksichtigen sind. So müsse die Frage aufgrund der besonderen Umstände eines jeden Falles entschieden werden und werde u. a. von der Bedeutung der Sache für den Beschwerdeführer, der Schwierigkeit des anzuwendenden Rechts und Verfahrens sowie der Fähigkeit des Beschwerdeführers abhängen, sich selbst wirksam zu vertreten(24). Er räumt gleichzeitig ein, dass das Recht auf Zugang zu einem Gericht nicht absolut sei, sondern eingeschränkt werden könne, wenn damit ein berechtigtes Ziel verfolgt werde und wenn die Einschränkungen verhältnismäßig seien(25). Deswegen könne es angemessen sein, die Gewährung von Prozesskostenhilfe von der finanziellen Lage der Prozesspartei oder den Erfolgsaussichten abhängig zu machen(26). Die Staaten seien auch nicht verpflichtet, durch Einsatz öffentlicher Mittel vollständige Waffengleichheit zwischen der unterstützten Partei und ihrem Gegner herzustellen, solange jede Partei angemessene Möglichkeit habe, ihren Fall zu vertreten(27).

67.      Zweifelsohne ist die Verwendung des Begriffs des Einzelnen durch den EGMR für unsere Rechtssache von besonderer Bedeutung, wenn er davon spricht, dass die EMRK „nur verlangt, dass der Einzelne sein Recht auf Zugang zu den Gerichten wirksam ausüben kann“(28). Indessen musste sich der EGMR in der Sache VP Diffusion Sarl/Frankreich(29) auch mit der Versagung von Prozesskostenhilfe gegenüber einer juristischen Person befassen. Die Versagung erfolgte erneut durch das Amt für Prozesskostenhilfe der französischen Cour de cassation. Die französische Regierung hatte dahin argumentiert, dass die EMRK nicht verlange, Prozesskostenhilfe in allen zivilrechtlichen Streitigkeiten zu bewilligen, und die Versagung der Hilfe nicht den Wesensgehalt von Art. 6 Abs. 1 EMRK antaste, da damit ein legitimes Ziel verfolgt werde und die Verhältnismäßigkeit zwischen den eingesetzten Mitteln und dem verfolgten Ziel gewahrt werde. Der EGMR entschied noch einmal, dass der Wesensgehalt von Art. 6 Abs. 1 EMRK u. a. deshalb nicht angetastet gewesen sei, weil dem Recht auf ein Gericht im ersten Rechtszug und im Berufungsverfahren Genüge getan worden sei. Darüber hinaus wies er darauf hin, dass die EMRK einem Prozessführer in einem Verfahren, das seine zivilrechtlichen Ansprüche betreffe, nicht automatisch einen Anspruch auf Prozesskostenhilfe oder anwaltlichen Beistand verleihe(30). Das Rechtsschutzsystem könne für Zivilklagen ein Auswahlverfahren vorsehen, das allerdings weder willkürlich noch unverhältnismäßig sein dürfe und das Recht auf Zugang zu einem Gericht nicht in seinem Wesensgehalt antasten dürfe. Auf europäischer Ebene gebe es im Bereich der Prozesskostenhilfe keinen Konsens oder wenigstens eine gefestigte Tendenz. Das Recht zahlreicher Staaten sehe für juristische Personen unabhängig von ihrem Zweck – gewerblich oder gemeinnützig – keine Prozesskostenhilfe vor. Er sei in dem ihm vorliegenden Fall der Auffassung, dass die rechtliche Unterscheidung der französischen Prozesskostenhilferegelung zwischen natürlichen Personen und juristischen Personen mit oder ohne Gewinnerzielungsabsicht, die auf der steuerlichen Behandlung der Prozesskostenhilfe basiere, nicht willkürlich sei. Im französischen Recht gebe es eine objektive Grundlage – die Regelungen zur Unternehmensbesteuerung –, die gewerblichen Unternehmen selbst bei finanziellen Schwierigkeiten ermögliche, mit einem Gerichtsverfahren verbundene Kosten zu bestreiten. Er werde sogar eine unterschiedliche Behandlung gewerblicher Unternehmen auf der einen Seite und natürlicher Personen und gemeinnütziger juristischer Personen auf der anderen Seite in Bezug auf die Prozesskostenhilfe als nicht diskriminierend betrachten, weil sie auf einer objektiven und vernünftigen Rechtfertigung beruhe, nämlich der steuerlichen Behandlung der Prozesskostenhilfe.

68.      Mir scheint sich aus dem Vorstehenden zu ergeben, dass die EMRK in ihrer Auslegung durch den EGMR keine Bestimmung enthält, die den Mitgliedstaaten ausdrücklich vorschreibt, eine Prozesskostenhilferegelung zu schaffen, die ohne weitere Voraussetzungen sowohl natürlichen Personen als auch juristischen Personen zugutekommt. Zwar steht dem nichts entgegen, dass die Unionsrechtsordnung einen höheren Schutz als Art. 6 Abs. 1 EMRK bietet(31). Doch fehlt es dafür ebenfalls an einer reellen ausdrücklichen Rechtsgrundlage, aufgrund deren von der Bundesrepublik Deutschland verlangt werden könnte, ihre Prozesskostenhilferegelung in Bezug auf juristische Personen per se zu überdenken.

iii) Auf Unionsebene

69.      Art. 47 Abs. 3 der Charta, auf den die Richtlinie 2003/8 Bezug nimmt, der aber im für das Ausgangsverfahren maßgebenden Zeitraum nicht verbindlich war, sieht vor, dass „Personen, die nicht über ausreichende Mittel verfügen“, Prozesskostenhilfe bewilligt wird. In den beiden anderen Absätzen dieses Artikels heißt es „jede Person“. Die Erläuterungen zur Charta(32) verweisen sowohl auf das Urteil Airey/Irland(33) als auch auf die Prozesskostenhilferegelung für die Unionsgerichte, so dass aus der Verankerung eines – im Übrigen weitgehend der EMRK entliehenen – Rechts auf Prozesskostenhilfe in der Charta keine abschließenden Schlüsse gezogen werden können.

70.      Zudem konnte keine auf unsere Rechtssache anwendbare Harmonisierungsvorschrift für die Bewilligungsvoraussetzungen der Prozesskostenhilfe gefunden werden. Allerdings liefert uns die Richtlinie 2003/8, obwohl sie im vorliegenden Fall nicht anwendbar ist, Anhaltspunkte dafür, wie sich der Unionsgesetzgeber die Prozesskostenhilfe derzeit vorstellt.

71.      Die Richtlinie 2003/8 zielt darauf ab, die Bewilligungsvoraussetzungen der Prozesskostenhilfe für Streitsachen mit grenzüberschreitendem Bezug zu koordinieren. Prozesskostenhilfe wird aber in diesen Fällen nur natürlichen Personen zugestanden, denn der 13. Erwägungsgrund der Richtlinie spricht von „allen Unionsbürgern unabhängig von ihrem Wohnsitz oder ihrem gewöhnlichen Aufenthalt“, und Art. 3 stellt den Grundsatz auf, dass „natürliche Personen“ unter den von der Richtlinie aufgestellten Voraussetzungen und in den von ihr gesetzten Grenzen Prozesskostenhilfe in Anspruch nehmen können.

72.      Auch die Verfahrensordnungen der Unionsgerichte sind für juristische Personen nicht vorteilhafter. Ob vor dem Gericht für den öffentlichen Dienst (bei dem die Anrufung durch eine juristische Person allerdings weniger wahrscheinlich ist) oder dem Gericht, Prozesskostenhilfe ist strikt auf natürliche Personen beschränkt(34), dies sogar dann, wenn der Antrag auf Prozesskostenhilfe von dem Insolvenzverwalter einer Handelsgesellschaft gestellt wurde(35).

73.      Vor unserem Gerichtshof stellt sich die Lage möglicherweise nicht so eindeutig dar. In Art. 76 § 1 Abs. 1 seiner Verfahrensordnung ist nicht von einer „Person“, sondern von einer „Partei“ die Rede. Es hätte deshalb sein können, dass er weiter ausgelegt worden wäre, da sowohl natürliche als auch juristische Personen Parteien sein können.

74.      Die Praxis ging aber dahin, die Anträge von juristischen Personen auf Prozesskostenhilfe vor dem Gerichtshof systematisch zurückzuweisen. Obwohl der Gerichtshof lange Zeit nicht verpflichtet war, seine Beschlüsse über die Versagung von Prozesskostenhilfe zu begründen(36), kann aufgrund der Beständigkeit der Praxis angenommen werden, dass diese Versagungen darauf zurückzuführen waren, dass es sich bei den Antragstellern um juristische Personen handelte(37).

75.      Die Versagung von Prozesskostenhilfe vor dem Gericht, auch im Fall von Klagen, beweist, dass selbst bei den Unionsgerichten der Grundsatz der Effektivität des Unionsrechts und das Recht des Einzelnen auf gerichtlichen Rechtsschutz nicht absolut sind und ihnen Grenzen gesetzt werden können. Zwar handelt es sich bei den vor den Unionsgerichten anfallenden Kosten nur um die Kosten des Beistands und der rechtlichen Vertretung, da die verschiedenen Verfahrensordnungen keine mit der Gebühr im Ausgangsverfahren vergleichbare Gebühr oder Sicherheitsleistung verlangen. Doch kann nicht ausgeschlossen werden, dass eine juristische Person, die keinerlei Möglichkeit hat, vor dem Gericht Prozesskostenhilfe zu erhalten, in Anbetracht des im Allgemeinen, u. a. im Bereich des Wettbewerbsrechts, von den Anwälten verlangten Betrags von ihrer Klage absehen muss.

iv)    Praxis der einzelnen Mitgliedstaaten

76.      Ohne Anspruch auf Vollständigkeit werde ich mich darauf beschränken, nur auf einige Mitgliedstaaten der Union einzugehen, um aufzuzeigen, dass aus einem Vergleich der nationalen Vorgehensweisen bei der Bewilligung von Prozesskostenhilfe kein endgültiger Schluss gezogen werden kann.

77.      Das Beispiel Frankreichs habe ich bereits angeführt, das die Möglichkeit, – ausnahmsweise – Prozesskostenhilfe zu bewilligen, auf juristische Personen ohne Gewinnerzielungsabsicht beschränkt, die ihren Sitz in Frankreich haben und nicht über ausreichende Mittel verfügen(38). Andere juristische Personen können keine Prozesskostenhilfe in Anspruch nehmen, die Kosten eines Gerichtsverfahrens aber von der Steuer absetzen. Die Italienische Republik hat eine ähnliche Regelung geschaffen, wie sie im Ausgangsverfahren in Rede steht, da sie für die Registrierung der Rechtssache die Zahlung einer Gebühr verlangt, die sich nach dem Streitwert richtet. Nur die nach dem Wortlaut der italienischen Rechtsvorschriften „nicht wohlhabenden Bürger“ können eventuell von der Gebühr befreit werden(39). Im Großherzogtum Luxemburg ist die Prozesskostenhilfe natürlichen Personen vorbehalten, doch können einige von ihnen sie dennoch nicht in Anspruch nehmen. Das gilt für Kaufleute, Industrielle, Handwerker und Angehörige freier Berufe in Rechtsstreitigkeiten, die ihre gewerbliche oder berufliche Tätigkeit betreffen. Auch für Rechtsstreitigkeiten, die aus einer spekulativen Tätigkeit entstehen, kann keine Prozesskostenhilfe gewährt werden(40). Das Königreich Dänemark behält die Prozesskostenhilfe natürlichen Personen vor, außer in ganz außergewöhnlichen Fällen in Rechtssachen, die von grundsätzlicher Bedeutung oder von allgemeinem Interesse sind; ein Anspruch auf Prozesskostenhilfe ist in Rechtssachen aus dem gewerblichen Bereich grundsätzlich ausgeschlossen(41).

78.      Dieser kurze Überblick über die nationalen Vorgehensweisen erlaubt mir zweierlei Schlussfolgerungen.

79.      Zunächst geht aus ihm hervor, dass es bei der Bewilligung von Prozesskostenhilfe keinen wirklich gemeinsamen Grundsatz gibt, der von den Mitgliedstaaten geteilt würde und gegebenenfalls auf Unionsebene aufgenommen und verankert werden könnte.

80.      Ferner ist die Unterscheidung zwischen juristischen Personen mit und ohne Gewinnerzielungsabsicht im Sinne eines leichteren Zugangs Letzterer zur Prozesskostenhilfe in der Praxis der Mitgliedstaaten relativ weit verbreitet.

b)      Anwendung auf eine Situation wie die des Ausgangsverfahrens

81.      Auf einer Linie mit den Erwägungen des EGMR, wenn er sich dazu zu äußern hat, ob ein Verstoß gegen Art. 6 Abs. 1 EMRK vorliegt, hat unser Gerichtshof in ständiger Rechtsprechung entschieden, dass er, wenn er über die Vereinbarkeit einer Bestimmung mit dem Grundsatz der Effektivität zu befinden hat, diese nicht abstrakt, sondern unter Berücksichtigung der besonderen Umstände des Einzelfalls und „unter Berücksichtigung der Stellung dieser Vorschrift im gesamten Verfahren, des Verfahrensablaufs und der Besonderheiten des Verfahrens vor den verschiedenen nationalen Stellen“ prüfen muss, um sich zu vergewissern, dass der Rechtsweg nicht übermäßig erschwert wird. „Dabei sind gegebenenfalls die Grundsätze zu berücksichtigen, die dem nationalen Rechtsschutzsystem zugrunde liegen, wie z. B. der Schutz der Verteidigungsrechte, der Grundsatz der Rechtssicherheit und der ordnungsgemäße Ablauf des Verfahrens“(42). Damit eine solche Beschränkung des Grundsatzes der Effektivität zugelassen werden kann, verlangt unser Gerichtshof eine vernünftige Rechtfertigung(43). Deshalb ist nunmehr zu prüfen, ob die Auslegung des § 116 Abs. 2 ZPO durch die deutschen Gerichte mit dem Schutz eines der genannten Grundsätze gerechtfertigt werden kann.

82.      Obwohl es dem Gerichtshof nach seiner ständigen Rechtsprechung nicht zukommt, sich zur Auslegung innerstaatlichen Rechts zu äußern, da diese Aufgabe ausschließlich Sache des vorlegenden Gerichts ist, das in diesem Fall prüfen muss, ob die einschlägige nationale Regelung den Erfordernissen in Bezug auf die Gleichwertigkeit und die Effektivität genügt, kann der Gerichtshof doch Klarstellungen vornehmen, um dem nationalen Gericht eine Leitlinie für seine Auslegung zu geben(44), was ich im Folgenden tun möchte.

83.      Die Schwierigkeiten, die für DEB mit dem Zugang zu einem Gericht verbunden sind, ergeben sich daraus, dass juristischen Personen Prozesskostenhilfe nur unter strengeren Voraussetzungen gewährt wird. Mit der uns vorgelegten Frage soll geklärt werden, ob das Recht auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz und der Grundsatz der Effektivität des Unionsrechts in Bezug auf juristische Personen mit der gleichen Intensität zu schützen sind wie in Bezug auf natürliche Personen.

84.      In der deutschen Rechtsordnung kommt eine Gewährleistung des Zugangs einer juristischen Person zu einem Gericht über die Bewilligung von Prozesskostenhilfe, die von der Allgemeinheit finanziert wird, nur dann in Betracht, wenn die fragliche Rechtssache eine über die wirtschaftlichen Interessen der juristischen Person hinausgehende Bedeutung hat. Das ist jedenfalls die Auslegung, die die nationalen Gerichte § 116 Abs. 2 ZPO bzw. genauer dem Begriff der allgemeinen Interessen gegeben haben.

85.      Mir scheint, dass man bei der Beurteilung der fraglichen allgemeinen Interessen besonders umsichtig sein sollte. Es könnte Stimmen geben, dass eine solch enge Auslegung § 116 ZPO aushöhle und Grundlage für eine verschleierte systematische Ablehnung von Prozesskostenanträgen juristischer Personen sei.

86.      Diese letzte Bemerkung gibt zu zwei Betrachtungen Anlass.

87.      Erstens ist, sollten sich die einschlägigen deutschen Rechtsvorschriften tatsächlich als restriktiv erweisen und die Klageerhebung juristischer Personen im Vergleich zu derjenigen natürlicher Personen wahrscheinlich erschweren, gleichwohl anzuerkennen, dass in der Bundesrepublik Deutschland juristischen Personen Prozesskostenhilfe gewährt werden kann, was nicht in allen Rechtssystemen der anderen Mitgliedstaaten der Union der Fall ist(45).

88.      Prozesskostenhilfe ist jedenfalls niemals als unbedingtes Recht ausgestaltet(46). Selbst bei natürlichen Personen hängt sie naturgemäß von der Bedürftigkeit ab und bisweilen von den Erfolgsaussichten des Antrags.

89.      Zweitens sollte man meines Erachtens in dem Augenblick, in dem man an den gerichtlichen Schutz der dem Einzelnen aus dem Unionsrecht erwachsenden Rechte denkt, eine doppelte Unterscheidung vornehmen, die von den deutschen Rechtsvorschriften nicht ausdrücklich gemacht wird, aber leicht aus ihnen abgeleitet werden kann. Es ist nämlich zunächst danach zu unterscheiden, ob man es mit natürlichen oder juristischen Personen zu tun hat, und dann, ob die juristische Person mit Gewinnerzielungsabsicht tätig ist oder nicht. Mit der nationalen Rechtsprechung zu § 116 Abs. 2 ZPO soll nämlich missbräuchlichen Klagen vorgebeugt werden, die von juristischen Personen mit Gewinnerzielungsabsicht erhoben werden könnten, die eigens gegründet wurden, um einen gewissen Profit aus dem Klageverfahren zu ziehen. Unter diesen Umständen liefe die Pflicht, solchen juristischen Personen wirksam Zugang zu einem Gericht zu gewährleisten, darauf hinaus, der Allgemeinheit die Kosten dafür aufzuerlegen; selbst im Namen der Effektivität des Unionsrechts scheint mir dies nicht von unseren Mitgliedstaaten verlangt werden zu können.

90.      § 116 Abs. 2 ZPO in der Auslegung der deutschen Gerichte soll also anscheinend ermöglichen, die Prozesskostenhilfe jenen juristischen Personen mit Gewinnerzielungsabsicht vorzuenthalten, die allein zum Schutz ihrer wirtschaftlichen und kommerziellen Interessen vor Gericht gehen. In gewisser Weise muss die juristische Person das wirtschaftliche Risiko ihrer Tätigkeit, das nur sie selber trägt, bis hin zu Gerichtsverfahren übernehmen.

91.      Hierzu ist darauf hinzuweisen, dass nach der – allerdings nur auf natürliche Personen anwendbaren – Richtlinie 2003/8 die Bewilligung von Prozesskostenhilfe abgelehnt werden kann, wenn eine natürliche Person einen Rechtsanspruch geltend macht, „der in unmittelbarem Zusammenhang mit dem Geschäft oder der selbständigen Erwerbstätigkeit des Antragstellers entstanden ist“(47). Selbst natürlichen Personen darf in solchen Fällen sowohl auf internationaler als auch auf Unionsebene Prozesskostenhilfe verweigert werden. In diesen konkreten Fällen wird das Risiko eingegangen, dass eine Partei ihr Recht auf Zugang zu einem Gericht aufgrund einer Abwägung gegenläufiger Interessen verliert, nämlich des Interesses der Parteien, ihre Sache verhandeln zu lassen, und des Interesses der Staaten, eine ordnungsgemäße Rechtspflege zu gewährleisten und ihre öffentlichen Ausgaben zu kontrollieren.

92.      In Deutschland wird diese strenge Haltung gegenüber juristischen Personen jedoch zum einen dadurch ausgeglichen, dass die deutschen Rechtsvorschriften für den Fall, dass sich eine Gesellschaft mit beschränkter Haftung in erheblichen Schwierigkeiten befindet und ein Insolvenzverfahren eröffnet werden muss, vorsehen, dass die Prozesskostenhilfe ohne Weiteres dem Insolvenzverwalter gewährt wird(48), und zum anderen dadurch, dass die deutschen Gerichte, wenn die von der juristischen Person erhobene Klage erhebliche soziale oder wirtschaftliche Auswirkungen haben kann, die über den Rahmen der klagenden juristischen Person hinausgehen, davon ausgehen werden, dass die Unterlassung der Rechtsverfolgung allgemeinen Interessen zuwiderläuft, so dass diese Voraussetzung des § 116 Abs. 2 ZPO erfüllt ist.

93.      Betrachtet man nun die andere Kategorie von juristischen Personen, also diejenigen, die keine Gewinnerzielungsabsicht haben, so sind sie im Wesentlichen dem Schutz von Gemeinwohlinteressen zu dienen bestimmt (z. B. Verbraucher- oder Umweltschutzorganisationen) und können verschiedene Formen annehmen, wie die einer Vereinigung, einer Stiftung oder eines Vereins. In diesem Fall scheint mir die Voraussetzung der Verfolgung allgemeiner Interessen unproblematisch erfüllt, so sehr weist der Rechtsstreit über die Mitglieder oder Anhänger dieser juristischen Personen ohne Gewinnerzielungsabsicht hinaus, und demnach könnten sie Prozesskostenhilfe in Anspruch nehmen und ohne Schwierigkeiten eine Staatshaftungsklage wegen eines Verstoßes gegen das Unionsrecht erheben.

94.      Damit beschränken die deutschen Rechtsvorschriften nicht das Recht juristischer Personen auf Zugang zu einem Gericht und folglich auch nicht den Grundsatz der Effektivität des Unionsrechts in Bezug auf sie, sondern nur dasjenige juristischer Personen mit Gewinnerzielungsabsicht.

95.      Diese Feststellung ist in zweierlei Hinsicht zu präzisieren.

96.      Erstens scheint diese Unterscheidung bei der Bewilligung von Prozesskostenhilfe vom EGMR bereits implizit anerkannt worden zu sein(49). Allerdings erschweren die strengeren Voraussetzungen für die Bewilligung von Prozesskostenhilfe gegenüber juristischen Personen mit wirtschaftlicher Zielsetzung den Zugang zur Prozesskostenhilfe, vermehren die Ablehnungsfälle und damit die Situationen, in denen juristische Personen tatsächlich kein Gericht anrufen können. Dennoch kann die in den deutschen Rechtsvorschriften vorgesehene Beschränkung unter diesen Umständen und angesichts des Vorstehenden als in vertretbarer Weise gerechtfertigt angesehen werden(50).

97.      Unser Gerichtshof hat nämlich bereits anerkannt, dass das Bemühen um einen ordnungsgemäßen Verfahrensablauf, dem das deutsche Erfordernis der Entrichtung der Gebühr in Verbindung mit den Rechtsvorschriften über die Prozesskostenhilfe auch in gegen den Staat angestrengten Verfahren zu dienen scheint, den Grundsatz der Effektivität in legitimer Weise beschränken kann(51). Der Staat muss sich ebenso wie jeder andere Beklagte vor missbräuchlichen Klagen schützen können, auch unter Berücksichtigung der Kosten, die der Allgemeinheit durch die Belegung seiner Gerichtssäle und seine Verteidigung entstehen. Den Staat zu verpflichten, die Mittellosigkeit aller natürlichen und juristischen Personen, die die Gerichtskosten nicht aufbringen können, aufzufangen, würde sich in dieser Hinsicht als kontraproduktiv erweisen.

98.      Weder die EMRK noch die Rechtsprechung des EGMR erlauben mir die Feststellung, dass es einen unbedingten Anspruch auf Prozesskostenhilfe gibt, der juristischen Personen zustünde. Selbstverständlich könnte uns Art. 52 Abs. 3 der Charta(52), sollte der Gerichtshof entscheiden, dass sie im vorliegenden Fall mit verbindlicher Wirkung anwendbar ist, erlauben, über die bisher durch die EMRK und die Rechtsprechung des EGMR eingeräumte Gewährleistung hinauszugehen. Art. 47 Abs. 3 der Charta könnte dann weit ausgelegt werden, so dass er dahin verstanden werden müsste, dass er die Mitgliedstaaten verpflichtet, juristischen Personen Prozesskostenhilfe zu bewilligen. Eine solche Auslegung erscheint mir aber beim gegenwärtigen Stand des Unionsrechts unmäßig.

99.      In der Präambel der Charta heißt es nämlich, dass „[d]iese Charta … unter Achtung der Zuständigkeiten und Aufgaben der Union und des Subsidiaritätsprinzips die Rechte [bekräftigt], die sich vor allem aus den gemeinsamen Verfassungstraditionen und den gemeinsamen internationalen Verpflichtungen der Mitgliedstaaten … ergeben“. Wie ich zu zeigen versucht habe, lässt sich der Praxis der Mitgliedstaaten keinerlei gemeinsame Verfassungstradition entnehmen. Was die internationale Praxis angeht, tendiert das Ergebnis ihrer Analyse eher dazu, dass es keine völkerrechtliche Verpflichtung des Staates gibt, juristischen Personen Prozesskostenhilfe zu bewilligen.

100. Bei der Behandlung einer Rechtssache, deren Sachverhalt vor dem Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon und damit der Charta stattgefunden hat, eine derart weite Auslegung des Art. 47 Abs. 3 der Charta vorzunehmen, scheint mir dem Geist der loyalen Zusammenarbeit zuwiderzulaufen, den die Union ihrem Handeln in gleichem Maße zugrunde legen soll wie die Mitgliedstaaten.

101. Der Grundsatz der Effektivität des Unionsrechts kann nicht dahin ausgelegt werden, dass er die Mitgliedstaaten in einer Konstellation wie der des Ausgangsverfahrens, also bei allen Haftungsklagen gegen die Mitgliedstaaten wegen Verstößen gegen das Unionsrecht, dazu verpflichtet, juristischen Personen systematisch Prozesskostenhilfe zu bewilligen, ohne den dennoch notwendigerweise bedingten Charakter der Prozesskostenhilfe zu verkennen. Sollte ein solcher Ansatz vertreten werden, wäre zudem das Risiko groß, dass das Unionsrecht von juristischen Personen instrumentalisiert würde, deren Klagen lediglich wirtschaftliche Ziele verfolgen.

102. Zweitens wird die unterschiedliche Behandlung juristischer Personen (mit Gewinnerzielungsabsicht) und natürlicher Personen hinsichtlich der Bewilligung von Prozesskostenhilfe in der deutschen Rechtsordnung dadurch erheblich abgemildert, dass – wie die deutsche Regierung in der mündlichen Verhandlung eingeräumt hat – der Schutz der Effektivität des Unionsrechts und damit der Schutz der dem Einzelnen aus dem Unionsrecht erwachsenden Rechte durchaus „allgemeine Interessen“ darstellen können, die es zu schützen gilt, indem der juristischen Person, die sie geltend macht, Prozesskostenhilfe bewilligt wird. Unter diesen Umständen fällt die uns vorgelegte Frage meines Erachtens letztlich mehr in die Auslegungszuständigkeit der deutschen Gerichte, die nun alle Anhaltspunkte haben, um § 116 Abs. 2 ZPO unionsrechtskonform auszulegen.

VI – Ergebnis

103. Nach alledem schlage ich vor, die vom Kammergericht Berlin vorgelegte Frage wie folgt zu beantworten:

In Anbetracht der Tatsache, dass es beim gegenwärtigen Stand des Unionsrechts keinen allgemeinen Grundsatz gibt, der von den Mitgliedstaaten verlangen würde, juristischen Personen unter denselben Voraussetzungen wie natürlichen Personen Prozesskostenhilfe zu gewähren, ist die Vereinbarkeit einer nationalen Regelung mit dem Unionsrecht, die die Erhebung einer Staatshaftungsklage wegen Verstoßes gegen das Unionsrecht von der Zahlung einer Gebühr abhängig macht und vorsieht, dass die Prozesskostenhilfe, die u. a. in der Befreiung des Klägers von der Entrichtung dieser Gebühr besteht, einer juristischen Person nicht bewilligt werden kann, die diese Gebühr nicht aufbringen kann und bei der sich herausstellt, dass sie die strengen Voraussetzungen dieser Regelung nicht erfüllt, unter Berücksichtigung der Stellung zu prüfen, die diese Regelung im gesamten Verfahren einnimmt.

Daher ist es Sache des nationalen Gerichts, zu prüfen, ob die Höhe der verlangten Gebühr unter den Umständen der vorliegenden Rechtssache angemessen ist, insbesondere im Hinblick auf die Erfolgsaussichten der angestrebten Klage und einer angemessenen Aufteilung der Kosten des Gerichtswesens zwischen dem Staat und dem Rechtssuchenden, bei der die Situation des Rechtssuchenden und dabei auch die Entstehungsursache der Schäden, die er geltend macht, gebührend berücksichtigt wird.

Das nationale Gericht wird im Rahmen der Anwendung des Grundsatzes der unionsrechtskonformen Auslegung ferner berücksichtigen können, dass die deutsche Regierung einräumt, dass der Schutz der Effektivität des Unionsrechts – und damit der Schutz der dem Einzelnen aus dem Unionsrecht erwachsenden Rechte – eines der „allgemeinen Interessen“ darstellen kann, die bei der Entscheidung über den Antrag auf Prozesskostenhilfe einer juristischen Person zu berücksichtigen sind.


1 – Originalsprache: Französisch.


2 – ABl. L 26, S. 41.


3 – Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Juni 1998 betreffend gemeinsame Vorschriften für den Erdgasbinnenmarkt (ABl. L 204, S. 1).


4 – Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2003 über gemeinsame Vorschriften für den Erdgasbinnenmarkt und zur Aufhebung der Richtlinie 98/30 (ABl. L 176, S. 57).


5 – Urteil vom 1. April 2004, Kommission/Deutschland (C‑64/03, Slg. 2004, I‑3551).


6 – Urteil vom 13. März 2007, Unibet (C‑432/05, Slg. 2007, I‑2271, Randnr. 37 und die dort angeführte Rechtsprechung).


7 – Zur Charta möchte ich anmerken, dass sie, obwohl sie zum Zeitpunkt des Sachverhalts des Ausgangsverfahrens nicht verbindlich war, unzweifelhaft in der vorliegenden Rechtssache Berücksichtigung finden muss, u. a. weil der Unionsgesetzgeber ihre Bedeutung im fünften Erwägungsgrund der Richtlinie 2003/8 anerkannt hat (für eine vergleichbare Situation vgl. Urteil vom 27. Juni 2006, Parlament/Rat, C‑540/03, Slg. 2006, I‑5769, Randnr. 38).


8 – Urteile vom 9. März 1978, Simmenthal (106/77, Slg. 1978, 629, Randnr. 16), vom 19. Juni 1990, Factortame u. a. (C‑213/89, Slg. 1990, I‑2433, Randnr. 19), und vom 19. November 1991, Francovich u. a. (C‑6/90 und C‑9/90, Slg. 1991, I‑5357, Randnr. 32).


9 – Urteil vom 10. Juli 1997, Palmisani (C‑261/95, Slg. 1997, I‑4025, Randnr. 27).


10 – Urteil vom 26. Januar 2010, Transportes Urbanos y Servicios Generales (C‑118/08, noch nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlicht, Randnr. 33 und die dort angeführte Rechtsprechung).


11 – Urteile vom 1. Juli 1993, Hubbard (C‑20/92, Slg. 1993, I‑3777), vom 26. September 1996, Data Delecta und Forsberg (C‑43/95, Slg. 1996, I‑4661), vom 20. März 1997, Hayes (C‑323/95, Slg. 1997, I‑1711), und vom 2. Oktober 1997, Saldanha und MTS (C‑122/96, Slg. 1997, I‑5325).


12 – Im Gegensatz z. B. zu den italienischen Rechtsvorschriften, die die nachträgliche zwangsweise Beitreibung der Gebühren erlauben, die nicht vor dem Verfahren im Voraus entrichtet wurden.


13 – Wie der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (im Folgenden: EGMR) bereits zu prüfen Gelegenheit hatte, da er ebenfalls der Auffassung ist, dass das Erfordernis, Gebühren an die Zivilgerichte zu leisten, im Zusammenhang mit Ansprüchen, über die sie zur Entscheidung aufgerufen seien, nicht als Einschränkung des Rechts auf Zugang zu einem Gericht angesehen werden könne, die per se mit Art. 6 Abs. 1 [EMRK] unvereinbar sei, jedoch unter der Voraussetzung, dass ein angemessenes Gleichgewicht gewährleistet wird zwischen den Interessen des Staates an der Erhebung von Verfahrensgebühren für die Behandlung von Klagebegehren einerseits und dem Interesse des Beschwerdeführers an der Durchsetzung seiner Ansprüche durch ein Gericht andererseits (EGMR, Urteil Kreuz/Polen vom 19. Juni 2001, Beschwerde Nr. 28249/95, §§ 60 und 66). In diesem Fall war der Kläger allerdings eine natürliche Person.


14 – Vgl. Art. 20 des Haager Übereinkommens über den Zivilprozess, Art. 1 des Europäischen Übereinkommens über die Übermittlung von Anträgen auf Bewilligung der Prozesskostenhilfe und Art. 1 des Haager Übereinkommens über den internationalen Zugang zur Rechtspflege.


15 – EGMR, Urteil Del Sol/Frankreich vom 26. Februar 2002 (Beschwerde Nr. 46800/99, § 20).


16 – Vgl. EGMR, Urteil Golder/Vereinigtes Königreich vom 21. Februar 1975 (Beschwerde Nr. 4451/70).


17 – EGMR, Urteil Airey/Irland vom 9. Oktober 1979 (Beschwerde Nr. 6289/73, § 24).


18 – Ebd. (§ 26).


19 – Ebd.


20 – Ebd.


21 – EGMR, Urteil Del Sol/Frankreich, oben in Fn. 15 angeführt (§ 26).


22 – Ebd.


23 – Ebd. (§ 23).


24 – EGMR, Urteil Steel und Morris/Vereinigtes Königreich vom 15. Februar 2005 (Beschwerde Nr. 68416/01, § 61).


25 – Ebd. (§ 62).


26 – Ebd. (§ 62 und die dort angeführte Rechtsprechung).


27 – Ebd.


28 – Vgl. Urteil Airey/Irland, oben in Fn. 17 angeführt (§ 26).


29 – EGMR, Urteil VP Diffusion Sarl/Frankreich vom 26. August 2008 (Beschwerde Nr. 14565/04).


30 – Ebd.


31 – Ich werde auf diese Frage bei der Charta zurückkommen müssen, vgl. die Nrn. 98 ff. der vorliegenden Schlussanträge.


32 – ABl. 2007, C 303, S. 30.


33 – Oben in Fn. 17 angeführt.


34 – Vgl. zur Veranschaulichung durch eine Entscheidung des Gerichts aus jüngerer Zeit den Beschluss des Präsidenten der Vierten Kammer des Gerichts vom 11. Januar 2010, Kommission/Edificios Inteco (T‑235/09 AJ), wonach „der Antrag, wenn er als im Namen von Edificios Inteco gestellt anzusehen ist, zurückzuweisen ist, weil eine juristische Person … Prozesskostenhilfe nicht in Anspruch nehmen kann, denn aus Art. 94 § 2 der Verfahrensordnung ergibt sich, dass nur natürliche Personen, die aufgrund ihrer wirtschaftlichen Lage vollständig oder teilweise außer Stande sind, die Kosten des Beistands und der rechtlichen Vertretung vor dem Gericht zu tragen, Anspruch auf Prozesskostenhilfe haben“ (Randnr. 3).


35 – Urteil des Gerichts vom 22. Januar 2009, Commercy/HABM – easyGroup IP Licensing (easyHotel) (T‑316/07, Slg. 2009, II‑43, Randnrn. 16 bis 30).


36 – Vgl. die Änderung der Verfahrensordnung des Gerichtshofs vom 12. Juli 2005, mit der u. a. Art. 76 § 3 Abs. 2 geändert wurde, der seitdem vorsieht, dass die Ablehnung, wenn der Antrag auf Prozesskostenhilfe ganz oder teilweise abgelehnt wird, in dem Beschluss zu begründen ist (ABl. L 203, S. 19).


37 – Vgl. Beschlüsse vom 6. Juni 1980, Jenkins (96/80 AJ), vom 7. Mai 1992, Emerald Meats/Kommission (C‑106/90 AJ, C‑317/90 AJ und C‑129/91 AJ), vom 4. März 1994, Iraco/Kommission (C‑3/94 AJ), vom 29. Februar 1996, Merck und Beecham (C‑267/95 AJ und C‑268/95 AJ), vom 3. Februar 1997, Kommission/Iraco (C‑337/96 AJ), und vom 23. September 1999, Simap (C‑303/98 AJ). Meines Wissens hat der Gerichtshof nur einen einzigen mit Gründen versehenen Beschluss über die Zurückweisung des Antrags auf Prozesskostenhilfe einer Vereinigung erlassen; überraschenderweise hat der Gerichtshof darin geprüft, ob die Antragstellerin im konkreten Fall die Voraussetzungen des Art. 76 der Verfahrensordnung erfüllte. Er hat deshalb untersucht, ob die antragstellende juristische Person ihre Bedürftigkeit belegen konnte und ob ihre Klage nicht offensichtlich unbegründet war. Da diese beiden Voraussetzungen in dem Fall nicht gegeben waren, hat er die Prozesskostenhilfe versagt (vgl. Beschluss vom 26. Oktober 1995, Amicale des résidents du square d’Auvergne, C‑133/95 AJ).


38 – Vgl. Art. 2 des Gesetzes Nr. 91-647 vom 10. Juli 1991 über die Prozesskostenhilfe, geändert durch das Gesetz Nr. 2007-210 vom 19. Februar 2007 zur Reform der Rechtsschutzversicherung (JORF vom 21. Februar 2007, S. 3051).


39 – Testo unico in materia di spese di giustizia 115/2002 (Art. 74 Abs. 2).


40 – Vgl. für alle Einschränkungen bei der Bewilligung von Prozesskostenhilfe gegenüber natürlichen Personen in Luxemburg Art. 2 Abs. 2 Unterabs. 2 des Prozesskostenhilfegesetzes vom 18. August 1995 (Mémorial A Nr. 81, S. 1914).


41 – §§ 325 bis 336 des Rechtspflegegesetzes (Retsplejelov).


42 – Urteile vom 14. Dezember 1995, Peterbroeck (C‑312/93, Slg. 1995, I‑4599, Randnr. 14) und van Schijndel und van Veen (C‑430/93 und C‑431/93, Slg. 1995, I‑4705, Randnr. 19), sowie vom 3. September 2009, Fallimento Olimpiclub (C‑2/08, Slg. 2009, I‑7501, Randnr. 27).


43 – Urteil Fallimento Olimpiclub, oben in Fn. 42 angeführt (Randnr. 31). Diese Formulierung erinnert an die Art und Weise, wie der EGMR die Vereinbarkeit mit der EMRK überprüft, denn er ist der Auffassung, dass eine Einschränkung, der der Zugang zu einem Gericht oder Tribunal unterworfen werde, mit Art. 6 Abs. 1 EMRK dann nicht vereinbar sein werde, wenn sie nicht ein legitimes Ziel verfolge und wenn es keine vernünftige Verhältnismäßigkeitsbeziehung zwischen den eingesetzten Mitteln und dem angestrebten legitimen Ziel gebe (vgl. Urteil Kreuz/Polen, oben in Fn. 13 angeführt, § 55 und die dort angeführte Rechtsprechung).


44 – Urteil vom 29. Oktober 2009, Pontin (C‑63/08, noch nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlicht, Randnr. 49 und die dort angeführte Rechtsprechung).


45 – Vgl. Nrn. 76 ff. der vorliegenden Schlussanträge.


46 – Vgl. u. a. EGMR, Urteil Kreuz/Polen, oben in Fn. 13 angeführt (§ 59).


47 – Vgl. den 17. Erwägungsgrund und Art. 6 Abs. 3 der Richtlinie 2003/8. Diese Einschränkung scheint auch der EGMR in ihrem Grundsatz zugelassen zu haben: vgl. Urteil Kreuz/Polen, oben in Fn. 13 angeführt (§ 63).


48 – § 116 Abs. 1 ZPO; dieser Fall hat übrigens mit der Frage der Effektivität des Unionsrechts nichts zu tun.


49 – Vgl. Urteil VP Diffusion Sarl/Frankreich, oben in Fn. 29 angeführt.


50 – Nach der Formulierung des Gerichtshofs im Urteil Peterbroeck, oben in Fn. 42 angeführt (Randnr. 20).


51 – Urteil Peterbroeck, oben in Fn. 42 angeführt.


52 – Dieser bestimmt: „Soweit diese Charta Rechte enthält, die den durch die [EMRK] garantierten Rechten entsprechen, haben sie die gleiche Bedeutung und Tragweite, wie sie ihnen in der genannten Konvention verliehen wird. Diese Bestimmung steht dem nicht entgegen, dass das Recht der Union einen weiter gehenden Schutz gewährt“.