Rechtssache C‑54/08

Europäische Kommission

gegen

Bundesrepublik Deutschland

„Vertragsverletzung eines Mitgliedstaats – Art. 43 EG – Niederlassungsfreiheit – Notare – Staatsangehörigkeitsvoraussetzung – Art. 45 EG – Teilhabe an der Ausübung öffentlicher Gewalt – Richtlinien 89/48/EWG und 2005/36/EG“

Leitsätze des Urteils

1.        Freizügigkeit – Niederlassungsfreiheit – Freier Dienstleistungsverkehr – Ausnahmen – Tätigkeiten, die mit der Ausübung öffentlicher Gewalt verbunden sind – Tätigkeiten des Notars – Ausschluss – Staatsangehörigkeitsvoraussetzung für den Zugang zum Beruf des Notars – Unzulässigkeit

(Art. 43 EG und 45 Abs. 1 EG)

2.        Vertragsverletzungsklage – Streitgegenstand – Bestimmung während des Vorverfahrens – Anpassung wegen einer Änderung des Unionsrechts – Zulässigkeit – Voraussetzungen

(Art. 226 EG)

3.        Vertragsverletzungsklage – Prüfung der Begründetheit durch den Gerichtshof – Maßgebende Lage – Lage bei Ablauf der in der mit Gründen versehenen Stellungnahme gesetzten Frist – Ungewisse Lage infolge der während des Rechtsetzungsprozesses eingetretenen besonderen Umstände – Keine Vertragsverletzung

(Art. 43 EG, 45 Abs. 1 EG und 226 EG; Richtlinie 2005/36 des Europäischen Parlaments und des Rates)

1.        Ein Mitgliedstaat, dessen Rechtsvorschriften eine Staatsangehörigkeitsvoraussetzung für den Zugang zum Beruf des Notars aufstellen, verstößt gegen seine Verpflichtungen aus Art. 43 EG, wenn die den Notaren in der Rechtsordnung dieses Mitgliedstaats übertragenen Tätigkeiten nicht im Sinne von Art. 45 Abs. 1 EG mit der Ausübung öffentlicher Gewalt verbunden sind. Insoweit stellt Art. 45 Abs. 1 EG eine Ausnahme von der Grundregel der Niederlassungsfreiheit dar, die so auszulegen ist, dass sich ihre Tragweite auf das beschränkt, was zur Wahrung der Interessen, deren Schutz diese Bestimmung den Mitgliedstaaten erlaubt, unbedingt erforderlich ist. Zudem muss diese Ausnahmeregelung auf Tätigkeiten beschränkt werden, die als solche unmittelbar und spezifisch mit der Ausübung öffentlicher Gewalt verbunden sind.

Zur Beurteilung der Frage, ob die den Notaren übertragenen Tätigkeiten unmittelbar und spezifisch mit der Ausübung öffentlicher Gewalt verbunden sind, ist die Art der von den Notaren ausgeübten Tätigkeiten zu berücksichtigen. Dabei sind die verschiedenen von den Notaren ausgeübten Tätigkeiten trotz der bedeutsamen Rechtswirkungen der von ihnen erstellten Urkunden nicht im Sinne von Art. 45 Abs. 1 EG unmittelbar und spezifisch mit der Ausübung öffentlicher Gewalt verbunden, da dem Parteiwillen oder der richterlichen Aufsicht oder Entscheidung besondere Bedeutung zukommt.

Zum einen werden nämlich, was die öffentlichen Urkunden angeht, nur Akte oder Verträge beurkundet, denen sich die Parteien freiwillig unterworfen haben, wobei der Notar den von ihm zu beurkundenden Vertrag nicht ohne vorherige Einholung der Zustimmung der Parteien einseitig ändern darf. Im Übrigen verfolgen die Notare bei der ihnen obliegenden Prüfung zwar ein im Allgemeininteresse liegendes Ziel, doch kann die bloße Verfolgung dieses Ziels es weder rechtfertigen, die dafür erforderlichen Vorrechte Notaren mit der Staatsangehörigkeit des betreffenden Mitgliedstaats vorzubehalten, noch reicht sie aus, um eine Tätigkeit als unmittelbar und spezifisch mit der Ausübung öffentlicher Gewalt verbunden einzustufen.

Zum anderen verleiht zwar die Anbringung der Vollstreckungsklausel durch den Notar einer öffentlichen Urkunde die Vollstreckbarkeit, doch beruht diese auf dem Willen der Parteien, eine Urkunde zu schaffen oder einen Vertrag zu schließen, nachdem der Notar ihre Vereinbarkeit mit der Rechtsordnung geprüft hat, und ihnen Vollstreckbarkeit zu verleihen. Desgleichen ist die Beweiskraft einer notariellen Urkunde Teil der Beweisregeln und hat daher keine unmittelbare Auswirkung auf die Frage, ob die mit der Erstellung dieser Urkunde verbundene Tätigkeit als solche unmittelbar und spezifisch mit der Ausübung öffentlicher Gewalt verbunden ist, zumal der Notariatsakt das Gericht, das seine Entscheidung nach freier Überzeugung trifft, bei seiner Würdigung nicht uneingeschränkt bindet.

Diese Erwägungen gelten entsprechend für Transaktionen, die ohne notarielle Beurkundung unwirksam sind, wie z. B. Verträge über den Erwerb und die Übertragung des Eigentums an einem Grundstück und über die Übertragung des gegenwärtigen Vermögens, Schenkungsversprechen, Eheverträge, Erbverträge und Erb- oder Pflichtteilsverzichtsverträge, sowie für die Tätigkeiten des Notars im Bereich des Gesellschaftsrechts.

Ein Mitgliedstaat kann sich insoweit auch nicht darauf berufen, dass den Notaren in einem bestimmten Bundesland die Befugnis übertragen wurde, Erklärungen zu beurkunden, mit denen eine eingetragene Partnerschaft zwischen Personen gleichen Geschlechts begründet wird, da eine solche Partnerschaft, um Wirkungen zu entfalten, zudem durch das zuständige Standesamt in das von ihm geführte Lebenspartnerschaftsregister eingetragen werden muss.

Schließlich geht zum speziellen Status der Notare erstens aus der Tatsache, dass die Qualität der erbrachten Leistungen von Notar zu Notar u. a. aufgrund der beruflichen Fähigkeiten der Betreffenden schwanken kann, hervor, dass die Notare ihren Beruf in den Grenzen ihrer jeweiligen örtlichen Zuständigkeiten unter Wettbewerbsbedingungen ausüben, was für die Ausübung öffentlicher Gewalt untypisch ist. Zweitens haftet allein der Notar für die Handlungen im Rahmen seiner beruflichen Tätigkeit.

(vgl. Randnrn. 83, 85-86, 88-89, 91-92, 95-97, 99-101, 103, 106-111, 116)

2.        Im Rahmen einer Vertragsverletzungsklage dürfen die in der Klageschrift gestellten Anträge zwar grundsätzlich nicht über die im verfügenden Teil der mit Gründen versehenen Stellungnahme und im Aufforderungsschreiben gerügten Verstöße hinausgehen, doch darf die Kommission die Feststellung eines Verstoßes gegen diejenigen Verpflichtungen beantragen, die sich aus der ursprünglichen Fassung eines später geänderten oder aufgehobenen Unionsrechtsakts ergeben und durch die Bestimmungen eines neuen Unionsrechtsakts aufrechterhalten wurden. Dagegen kann der Streitgegenstand nicht auf Verpflichtungen erstreckt werden, die sich aus neuen Bestimmungen ergeben, die keine Entsprechung in der ursprünglichen Fassung des betreffenden Rechtsakts haben, da dies einen Verstoß gegen Formvorschriften darstellen würde, die für den ordnungsgemäßen Ablauf des Verfahrens zur Feststellung der Vertragsverletzung wesentlich sind.

(vgl. Randnr. 128)

3.        Führen im Lauf des Gesetzgebungsverfahrens besondere Umstände, wie das Fehlen einer klaren Stellungnahme des Gesetzgebers oder mangelnde Genauigkeit bei der Festlegung des Anwendungsbereichs einer Bestimmung des Unionsrechts, zu Ungewissheit, kann nicht festgestellt werden, dass bei Ablauf der in der mit Gründen versehenen Stellungnahme gesetzten Frist eine hinreichend klare Verpflichtung für die Mitgliedstaaten bestand, eine Richtlinie umzusetzen.

(vgl. Randnrn. 140-142)







URTEIL DES GERICHTSHOFS (Große Kammer)

24. Mai 2011(*)

„Vertragsverletzung eines Mitgliedstaats – Art. 43 EG – Niederlassungsfreiheit – Notare – Staatsangehörigkeitsvoraussetzung – Art. 45 EG – Teilhabe an der Ausübung öffentlicher Gewalt – Richtlinien 89/48/EWG und 2005/36/EG“

In der Rechtssache C‑54/08

betreffend eine Vertragsverletzungsklage nach Art. 226 EG, eingereicht am 12. Februar 2008,

Europäische Kommission, vertreten durch H. Støvlbæk und G. Braun als Bevollmächtigte, Zustellungsanschrift in Luxemburg,

Klägerin,

unterstützt durch

Vereinigtes Königreich Großbritannien und Nordirland, vertreten durch S. Behzadi-Spencer als Bevollmächtigte,

Streithelfer,

gegen

Bundesrepublik Deutschland, vertreten durch M. Lumma, J. Kemper, U. Karpenstein und J. Möller als Bevollmächtigte, Zustellungsanschrift in Luxemburg,

Beklagte,

unterstützt durch

Republik Bulgarien, vertreten durch T. Ivanov und E. Petranova als Bevollmächtigte,

Tschechische Republik, vertreten durch M. Smolek als Bevollmächtigten,

Republik Estland, vertreten durch L. Uibo als Bevollmächtigten,

Französische Republik, vertreten durch G. de Bergues und B. Messmer als Bevollmächtigte,

Republik Lettland, vertreten durch L. Ostrovska, K. Drēviņa und J. Barbale als Bevollmächtigte,

Republik Litauen, vertreten durch D. Kriaučiūnas und E. Matulionytė als Bevollmächtigte,

Republik Ungarn, vertreten durch R. Somssich, K. Veres und M. Fehér als Bevollmächtigte,

Republik Österreich, vertreten durch E. Riedl, G. Holley und M. Aufner als Bevollmächtigte, Zustellungsanschrift in Luxemburg,

Republik Polen, vertreten durch M. Dowgielewicz, C. Herma und D. Lutostańska als Bevollmächtigte,

Republik Slowenien, vertreten durch V. Klemenc und Ž. Cilenšek Bončina als Bevollmächtigte,

Slowakische Republik, vertreten durch J. Čorba und B. Ricziová als Bevollmächtigte,

Streithelferinnen,

erlässt

DER GERICHTSHOF (Große Kammer)

unter Mitwirkung des Präsidenten V. Skouris, der Kammerpräsidenten A. Tizzano, J. N. Cunha Rodrigues, K. Lenaerts, J.‑C. Bonichot, A. Arabadjiev (Berichterstatter) und J.‑J. Kasel sowie der Richterin R. Silva de Lapuerta, der Richter E. Juhász, G. Arestis und M. Ilešič, der Richterin C. Toader und des Richters M. Safjan,

Generalanwalt: P. Cruz Villalón,

Kanzler: M.-A. Gaudissart, Referatsleiter,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 27. April 2010,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 14. September 2010

folgendes

Urteil

1        Mit ihrer Klage beantragt die Kommission der Europäischen Gemeinschaften, festzustellen, dass die Bundesrepublik Deutschland dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus den Art. 43 EG und 45 EG sowie aus der Richtlinie 89/48/EWG des Rates vom 21. Dezember 1988 über eine allgemeine Regelung zur Anerkennung der Hochschuldiplome, die eine mindestens dreijährige Berufsausbildung abschließen (ABl. 1989, L 19, S. 16), in der durch die Richtlinie 2001/19/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 14. Mai 2001 (ABl. L 206, S. 1) geänderten Fassung (im Folgenden: Richtlinie 89/48) und/oder aus der Richtlinie 2005/36/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 7. September 2005 über die Anerkennung von Berufsqualifikationen (ABl. L 255, S. 22) verstoßen hat, dass sie für den Zugang zum Beruf des Notars eine Staatsangehörigkeitsvoraussetzung aufgestellt und die genannten Richtlinien für diesen Beruf nicht umgesetzt hat.

 Rechtlicher Rahmen

 Unionsrecht

2        Im zwölften Erwägungsgrund der Richtlinie 89/48 hieß es: „Die allgemeine Regelung zur Anerkennung der Hochschuldiplome präjudiziert in keiner Weise die Anwendung von Artikel [45 EG].“

3        Art. 2 der Richtlinie 89/48 lautete:

„Diese Richtlinie gilt für alle Angehörigen eines Mitgliedstaats, die als Selbständige oder abhängig Beschäftigte einen reglementierten Beruf in einem anderen Mitgliedstaat ausüben wollen.

Diese Richtlinie gilt nicht für die Berufe, die Gegenstand einer Einzelrichtlinie sind, mit der in den Mitgliedstaaten eine gegenseitige Anerkennung der Diplome eingeführt wird.“

4        Der Notarberuf ist nicht Gegenstand einer Regelung der in Art. 2 Abs. 2 genannten Art.

5        Die Richtlinie 89/48 sah eine Umsetzungsfrist vor, die nach ihrem Art. 12 am 4. Januar 1991 ablief.

6        Durch Art. 62 der Richtlinie 2005/36 wurde die Richtlinie 89/48 mit Wirkung vom 20. Oktober 2007 aufgehoben.

7        Im neunten Erwägungsgrund der Richtlinie 2005/36 heißt es:

„Die Grundsätze und Garantien für die Niederlassungsfreiheit, die in den verschiedenen derzeit geltenden Anerkennungsregelungen enthalten sind, sollen aufrechterhalten werden, wobei aber die Vorschriften dieser Anerkennungsregeln im Lichte der Erfahrungen verbessert werden sollten. Außerdem sind die einschlägigen Richtlinien mehrfach geändert worden, und es sollte daher durch eine Vereinheitlichung der geltenden Grundsätze eine Neuordnung und Straffung ihrer Bestimmungen vorgenommen werden. Es ist daher erforderlich, folgende Richtlinien aufzuheben …: die [Richtlinie] 89/48/EWG …“

8        Im 14. Erwägungsgrund der Richtlinie heißt es:

„Der durch die [Richtlinie] 89/48/EWG … eingeführte Anerkennungsmechanismus ändert sich nicht. …“

9        Nach dem 41. Erwägungsgrund der Richtlinie 2005/36 „berührt [sie] nicht die Anwendung des Artikels 39 Absatz 4 [EG] und des Artikels 45 [EG], insbesondere auf Notare“.

 Nationales Recht

 Allgemeine Ausgestaltung des Notarberufs

10      Nach der deutschen Rechtsordnung üben die Notare ihre Tätigkeiten außer im Land Baden-Württemberg freiberuflich aus. Die Ausgestaltung des Notarberufs ist in der Bundesnotarordnung vom 24. Februar 1961 (BGBl. 1961 I S. 97) in der durch das Sechste Gesetz zur Änderung der Bundesnotarordnung vom 15. Juli 2006 (BGBl. 2006 I S. 1531) geänderten Fassung (im Folgenden: BNotO) geregelt.

11      Die Notare werden nach § 1 BNotO in den Ländern als unabhängige Träger eines öffentlichen Amtes für die Beurkundung von Rechtsvorgängen und andere Aufgaben auf dem Gebiet der vorsorgenden Rechtspflege bestellt.

12      Nach § 4 Satz 1 BNotO werden so viele Notare bestellt, wie es den Erfordernissen einer geordneten Rechtspflege entspricht.

13      Dem Notar wird gemäß § 10 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 Satz 1 BNotO als Amtssitz ein bestimmter Ort zugewiesen, an dem er seine Geschäftsstelle zu halten hat. Nach den §§ 10a und 11 BNotO ist die Ausübung seiner Tätigkeiten grundsätzlich auf einen bestimmten Amtsbezirk beschränkt.

14      Nach § 17 Abs. 1 Satz 1 BNotO erhält der Notar für seine Tätigkeit die gesetzlich vorgeschriebenen Gebühren.

15      Nach § 19 Abs. 1 BNotO haftet allein der Notar für die Handlungen im Rahmen seiner beruflichen Tätigkeit; eine Haftung des Staates ist insoweit ausgeschlossen.

16      Im badischen Rechtsgebiet des Landes Baden-Württemberg wird, wie in § 115 Abs. 1 BNotO vorgesehen, das Notariat von Notaren im Landesdienst ausgeübt, die Landesbeamte sind. Im übrigen Gebiet der Bundesrepublik Deutschland übt der Notar seine Tätigkeit gemäß § 3 BNotO je nach Bundesland hauptberuflich oder neben dem Beruf des Rechtsanwalts („Anwaltsnotare“) aus.

17      Nach § 5 BNotO darf nur ein deutscher Staatsangehöriger zum Notar bestellt werden.

 Die Notartätigkeiten

18      Nach § 20 Abs. 1 Satz 1 BNotO sind die Notare zuständig, Beurkundungen jeder Art vorzunehmen sowie Unterschriften, Handzeichen und Abschriften zu beglaubigen. Dabei kann das Tätigwerden des Notars je nach Art des von ihm zu beurkundenden Akts obligatorisch oder fakultativ sein. Durch sein Tätigwerden stellt der Notar das Vorliegen aller gesetzlich vorgeschriebenen Voraussetzungen für das Zustandekommen des fraglichen Akts sowie die Rechts- und Geschäftsfähigkeit der Beteiligten fest.

19      Nach § 17 Abs. 1 des Beurkundungsgesetzes vom 28. August 1969 (BGBl. 1969 I S. 1513) in der durch Gesetz vom 23. Juli 2002 (BGBl. 2002 I S. 2850) geänderten Fassung soll der Notar den Willen der Beteiligten erforschen, den Sachverhalt klären, die Beteiligten über die rechtliche Tragweite des Geschäfts belehren und ihre Erklärungen klar und unzweideutig in der Niederschrift wiedergeben, damit Irrtümer und Zweifel vermieden sowie unerfahrene und ungewandte Beteiligte nicht benachteiligt werden.

20      Nach § 4 dieses Gesetzes in geänderter Fassung soll der Notar die Beurkundung ablehnen, wenn sie mit seinen Amtspflichten nicht vereinbar wäre, insbesondere wenn seine Mitwirkung bei Handlungen verlangt wird, mit denen erkennbar unerlaubte oder unredliche Zwecke verfolgt werden.

21      In § 286 der Zivilprozessordnung (ZPO) in der Fassung der Bekanntmachung vom 5. Dezember 2005 (BGBl. 2005 I S. 3202, berichtigt im BGBl. 2006 I S. 431 und im BGBl. 2007 I S. 1781) ist der Grundsatz der freien Beweiswürdigung durch das Gericht verankert.

22      § 415 Abs. 1 ZPO, der sich in Titel 9 („Beweis durch Urkunden“) von Abschnitt 1 ihres Zweiten Buchs befindet, bestimmt, dass Urkunden, die von einer öffentlichen Behörde innerhalb der Grenzen ihrer Amtsbefugnisse oder von einer mit öffentlichem Glauben versehenen Person innerhalb des ihr zugewiesenen Geschäftskreises in der vorgeschriebenen Form aufgenommen sind (öffentliche Urkunden), wenn sie über eine vor der Behörde oder der Urkundsperson abgegebene Erklärung errichtet sind, vollen Beweis des durch die Behörde oder die Urkundsperson beurkundeten Vorgangs begründen. Nach § 415 Abs. 2 ZPO ist der Beweis, dass der Vorgang unrichtig beurkundet sei, grundsätzlich zulässig.

23      Desgleichen sieht § 418 Abs. 1 ZPO vor, dass öffentliche Urkunden, die einen anderen als den in § 415 bezeichneten Inhalt haben, vollen Beweis der darin bezeugten Tatsachen begründen, wenn das Zeugnis auf eigener Wahrnehmung der Behörde oder der Urkundsperson beruht. Nach § 418 Abs. 2 ZPO ist der Beweis der Unrichtigkeit der bezeugten Tatsachen grundsätzlich zulässig.

24      Für den Bereich des Zivilrechts bestimmt § 125 des Bürgerlichen Gesetzbuchs in der Fassung der Bekanntmachung vom 2. Januar 2002 (BGBl. 2002 I S. 42, berichtigt im BGBl. 2002 I S. 2909 und im BGBl. 2003 I S. 738), dass ein Rechtsgeschäft, welches der durch Gesetz vorgeschriebenen Form ermangelt, nichtig ist.

25      In diesem Kontext sind bestimmte Transaktionen ohne notarielle Beurkundung unwirksam. Es handelt sich insbesondere um Verträge über den Erwerb und die Übertragung des Eigentums an einem Grundstück und über die Übertragung des gegenwärtigen Vermögens, um Schenkungsversprechen, um Eheverträge, um Erbverträge und um Erb- oder Pflichtteilsverzichtsverträge.

26      Notare mit Amtssitz in Bayern können nach Art. 1 Abs. 1 Satz 1 des Gesetzes zur Ausführung des Lebenspartnerschaftsgesetzes vom 26. Oktober 2001 (Bayerisches GVBl. S. 677) in der durch Gesetz vom 10. Dezember 2005 (Bayerisches GVBl. S. 586) geänderten Fassung (im Folgenden: AGLPartG) Erklärungen beurkunden, mit denen eine eingetragene Partnerschaft zwischen Personen gleichen Geschlechts begründet wird. Nach Art. 2 AGLPartG teilt der Notar die Begründung einer solchen Partnerschaft dem zuständigen Standesamt mit, das sie in das von ihm geführte Lebenspartnerschaftsregister einträgt.

27      Im Gesellschaftsrecht müssen nach den §§ 23 Abs. 1 Satz 1, 30 Abs. 1 und 130 Abs. 1 Satz 1 des Aktiengesetzes vom 6. September 1965 (BGBl. 1965 I S. 1089) in der durch Gesetz vom 22. September 2005 (BGBl. 2005 I S. 2802) geänderten Fassung die Satzung einer Aktiengesellschaft, die Bestellung des ersten Aufsichtsrats einer neu gegründeten Aktiengesellschaft und die Beschlüsse der Hauptversammlung einer solchen Gesellschaft notariell beurkundet werden. Nach den §§ 2 Abs. 1 Satz 1 und 53 Abs. 2 Satz 1 des Gesetzes betreffend die Gesellschaften mit beschränkter Haftung (RGBl. 1898 S. 846) in der durch Gesetz vom 4. Juli 1980 (BGBl. 1980 I S. 836) geänderten Fassung bedürfen der Abschluss und die Änderung eines Vertrags zur Errichtung einer Gesellschaft mit beschränkter Haftung notarieller Form. Auch alle Umwandlungen juristischer Personen durch Verschmelzung, Ausgliederung aus dem Vermögen oder Wechsel der Rechtsform müssen nach den §§ 6, 163 Abs. 3 und 193 Abs. 3 Satz 1 des Umwandlungsgesetzes vom 28. Oktober 1994 (BGBl. 1994 I S. 3210, berichtigt im BGBl. 1995 I S. 428) notariell beurkundet werden.

28      Gemäß § 794 Abs. 1 Nr. 5 ZPO findet die Zwangsvollstreckung unter bestimmten Voraussetzungen aus Urkunden statt, die von einem deutschen Notar innerhalb der Grenzen seiner Amtsbefugnisse in der vorgeschriebenen Form aufgenommen sind, sofern der Schuldner sich in der Urkunde wegen des zu bezeichnenden Anspruchs der sofortigen Zwangsvollstreckung unterworfen hat.

29      Nach § 797 Abs. 2 ZPO werden vollstreckbare Ausfertigungen notarieller Urkunden von dem Notar erteilt, der die Urkunde verwahrt.

30      Im Rahmen der in § 797 Abs. 3 ZPO vorgesehenen Klage gegen die Erteilung der Vollstreckungsklausel können formelle und materielle Rügen gegen ihre Erteilung erhoben werden. In gleicher Weise kann nach § 797 Abs. 4 ZPO im Rahmen eines Verfahrens zur Abwehr der Zwangsvollstreckung der in der betreffenden Urkunde festgestellte Anspruch in Frage gestellt werden.

 Vorverfahren

31      Die Kommission wurde mit einer Beschwerde befasst, die die Staatsangehörigkeitsvoraussetzung für den Zugang zum Beruf des Notars in Deutschland betraf. Nach Prüfung dieser Beschwerde forderte die Kommission die Bundesrepublik Deutschland mit Schreiben vom 8. November 2000 auf, sich binnen zwei Monaten u. a. zum einen zur Vereinbarkeit der Staatsangehörigkeitsvoraussetzung mit Art. 45 Abs. 1 EG und zum anderen zur unterbliebenen Umsetzung der Richtlinie 89/48 in Bezug auf den Beruf des Notars zu äußern.

32      Mit Schreiben vom 20. März 2001 antwortete die Bundesrepublik Deutschland auf dieses Aufforderungsschreiben.

33      Am 10. Juli 2002 übersandte die Kommission diesem Mitgliedstaat ein ergänzendes Aufforderungsschreiben, in dem sie ihm vorwarf, gegen seine Verpflichtungen aus den Art. 43 EG und 45 Abs. 1 EG und aus der Richtlinie 89/48 verstoßen zu haben.

34      Die Bundesrepublik Deutschland antwortete auf dieses ergänzende Aufforderungsschreiben mit Schreiben vom 31. Oktober 2002.

35      Da die von der Bundesrepublik Deutschland vorgebrachten Argumente die Kommission nicht überzeugten, richtete sie an diesen Mitgliedstaat am 18. Oktober 2006 eine mit Gründen versehene Stellungnahme, in der sie zu dem Ergebnis kam, dass der Mitgliedstaat gegen seine Verpflichtungen aus den Art. 43 EG und 45 Abs. 1 EG und aus der Richtlinie 89/48 verstoßen habe. Sie forderte ihn auf, die erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen, um der mit Gründen versehenen Stellungnahme binnen einer Frist von zwei Monaten nach ihrem Erhalt nachzukommen.

36      Mit Schreiben vom 18. Dezember 2006 legte die Bundesrepublik Deutschland dar, aus welchen Gründen sie den von der Kommission vertretenen Standpunkt für unbegründet hielt.

37      Unter diesen Umständen hat die Kommission beschlossen, die vorliegende Klage zu erheben.

 Zur Klage

 Zur ersten Rüge

 Vorbringen der Verfahrensbeteiligten

38      Mit ihrer ersten Rüge ersucht die Kommission den Gerichtshof um die Feststellung, dass die Bundesrepublik Deutschland dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus den Art. 43 EG und 45 Abs. 1 EG verstoßen hat, dass sie den Zugang zum Beruf des Notars ihren eigenen Staatsangehörigen vorbehalten hat.

39      Vorab hebt sie hervor, dass der Zugang zum Beruf des Notars in einigen Mitgliedstaaten nicht an ein Staatsangehörigkeitserfordernis geknüpft sei und dass andere Mitgliedstaaten – wie das Königreich Spanien, die Italienische Republik und die Portugiesische Republik – dieses Erfordernis fallen gelassen hätten.

40      Sie weist erstens darauf hin, dass Art. 43 EG eine der grundlegenden Vorschriften des Unionsrechts darstelle und die Vergünstigung der Inländerbehandlung jedem Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats garantieren solle, der sich, sei es auch nur mit einer Sekundärniederlassung, in einem anderen Mitgliedstaat niederlasse, um dort eine selbständige Erwerbstätigkeit auszuüben, und dass er jede Diskriminierung aufgrund der Staatsangehörigkeit verbiete.

41      Die Kommission und das Vereinigte Königreich Großbritannien und Nordirland machen geltend, Art. 45 Abs. 1 EG müsse autonom und einheitlich ausgelegt werden (Urteil vom 15. März 1988, Kommission/Griechenland, 147/86, Slg. 1988, 1637, Randnr. 8). Da dieser Artikel für Tätigkeiten, die mit der Ausübung öffentlicher Gewalt verbunden seien, eine Ausnahme von der Niederlassungsfreiheit vorsehe, sei er zudem eng auszulegen (Urteil vom 21. Juni 1974, Reyners, 2/74, Slg. 1974, 631, Randnr. 43).

42      Die in Art. 45 Abs. 1 EG vorgesehene Ausnahme müsse daher auf Tätigkeiten beschränkt werden, die für sich genommen eine unmittelbare und spezifische Teilhabe an der Ausübung öffentlicher Gewalt umfassten (Urteil Reyners, Randnrn. 44 und 45). Der Begriff der öffentlichen Gewalt setze die Ausübung einer vom allgemeinen Recht abweichenden Entscheidungsbefugnis voraus, die in der Fähigkeit zum Ausdruck komme, unabhängig vom Willen anderer Rechtssubjekte oder sogar gegen deren Willen zu handeln. Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs manifestiere sich die öffentliche Gewalt insbesondere in der Ausübung von Zwangsbefugnissen (Urteil vom 29. Oktober 1998, Kommission/Spanien, C‑114/97, Slg. 1998, I‑6717, Randnr. 37).

43      Die mit der Ausübung öffentlicher Gewalt verbundenen Tätigkeiten seien von den im Allgemeininteresse ausgeübten Tätigkeiten zu unterscheiden. Verschiedenen Berufsgruppen seien nämlich im Allgemeininteresse besondere Kompetenzen eingeräumt worden, ohne dass ihre Tätigkeiten mit der Ausübung öffentlicher Gewalt verbunden seien.

44      Vom Anwendungsbereich des Art. 45 Abs. 1 EG seien auch Tätigkeiten ausgenommen, mit denen die Ausübung öffentlicher Gewalt unterstützt oder an ihr mitgewirkt werde (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 13. Juli 1993, Thijssen, C‑42/92, Slg. 1993, I‑4047, Randnr. 22).

45      Überdies beziehe sich Art. 45 Abs. 1 EG grundsätzlich auf bestimmte Tätigkeiten und nicht auf eine ganze Berufsgruppe, es sei denn, dass die betreffenden Tätigkeiten von den gesamten Tätigkeiten der Berufsgruppe nicht trennbar seien.

46      Zweitens nimmt die Kommission eine Prüfung der verschiedenen von den Notaren in der deutschen Rechtsordnung ausgeübten Tätigkeiten vor.

47      Soweit es darum geht, Akte und Verträge zu beurkunden, macht sie geltend, der Notar beschränke sich darauf, den Willen der Parteien zu bezeugen, nachdem er sie beraten habe, und diesem Willen Rechtswirkungen zu verleihen. Bei der Ausübung dieser Tätigkeit verfüge der Notar nicht über eine Entscheidungsbefugnis gegenüber den Parteien.

48      Dass diese Tätigkeit im deutschen Recht zum Gebiet der vorsorgenden Rechtspflege gezählt werde, stelle die genannte Beurteilung nicht in Frage, denn die Notare hätten an der Ausübung öffentlicher Gewalt nicht teil, da sie niemandem Entscheidungen aufzwingen könnten.

49      Die Beurkundung durch den Notar sei somit nur die Bestätigung einer vorausgegangenen Vereinbarung zwischen den Parteien. Dass bestimmte Akte beurkundet werden müssten, spiele keine Rolle, da zahlreiche Verfahren zwingenden Charakter hätten, ohne Ausdruck der Ausübung öffentlicher Gewalt zu sein.

50      Gleiches gelte für die Besonderheiten der Beweisregelung in Bezug auf notarielle Urkunden, da eine vergleichbare Beweiskraft auch anderen Urkunden zukomme, die nicht mit der Ausübung öffentlicher Gewalt verbunden seien, wie z. B. den von beeideten Feldhütern, Forstbeamten und Jagd- und Fischereiaufsichtsorganen angefertigten Protokollen. Dass der Notar für die von ihm erstellten Urkunden hafte, sei ebenfalls unerheblich. Dies sei nämlich bei den meisten freien Berufen der Fall, etwa bei Rechtsanwälten, Architekten oder Ärzten.

51      Was die Vollstreckbarkeit öffentlicher Urkunden angehe, erfolge die Anbringung der Vollstreckungsklausel vor der eigentlichen Vollstreckung und sei kein Teil von ihr. Die Vollstreckbarkeit verleihe den Notaren daher keine Zwangsbefugnis. Im Übrigen entscheide über etwaige Einwände nicht der Notar, sondern das Gericht.

52      Auch die im Allgemeinen mit der Beurkundung zusammenhängende rechtsberatende Tätigkeit des Notars nach deutschem Recht sei nicht mit der Ausübung öffentlicher Gewalt verbunden.

53      Im Unterschied zu den Standesbeamten seien die Notare in der Regel nicht mit der Begründung und Änderung des Personenstands befasst, sondern mit der Ordnung der Güterverteilung zwischen den Partnern. Die den Notaren in Bayern auf dem Gebiet der eingetragenen Partnerschaft zwischen Personen gleichen Geschlechts übertragenen Aufgaben ließen keine Rückschlüsse auf die unionsrechtliche Beurteilung der qualifizierten Teilhabe der Notare an der Ausübung öffentlicher Gewalt zu.

54      Drittens sind die Kommission und das Vereinigte Königreich der Ansicht, dass die Vorschriften des Unionsrechts, die Bezugnahmen auf die notarielle Tätigkeit enthielten, die Anwendung der Art. 43 EG und 45 Abs. 1 EG auf diese Tätigkeit nicht berührten.

55      Die Verordnung (EG) Nr. 44/2001 des Rates vom 22. Dezember 2000 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil‑ und Handelssachen (ABl. 2001, L 12, S. 1) und die Verordnung (EG) Nr. 805/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 21. April 2004 zur Einführung eines europäischen Vollstreckungstitels für unbestrittene Forderungen (ABl. L 143, S. 15) sähen nämlich lediglich vor, dass die Mitgliedstaaten Urkunden, die in einem anderen Mitgliedstaat aufgenommen worden und vollstreckbar seien, anerkennen und für vollstreckbar erklären müssten.

56      Auch die Verordnung (EG) Nr. 2157/2001 des Rates vom 8. Oktober 2001 über das Statut der Europäischen Gesellschaft (SE) (ABl. L 294, S. 1), die Verordnung (EG) Nr. 1435/2003 des Rates vom 22. Juli 2003 über das Statut der Europäischen Genossenschaft (SCE) (ABl. L 207, S. 1) und die Richtlinie 2005/56/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Oktober 2005 über die Verschmelzung von Kapitalgesellschaften aus verschiedenen Mitgliedstaaten (ABl. L 310, S. 1) seien für die Entscheidung des vorliegenden Rechtsstreits irrelevant, da sie sich darauf beschränkten, den Notaren und anderen vom Staat festgelegten zuständigen Stellen die Aufgabe zu übertragen, die Vornahme bestimmter Rechtshandlungen und Formalitäten vor der Sitzverlegung, der Errichtung und der Verschmelzung von Gesellschaften zu bescheinigen.

57      Die Entschließung des Europäischen Parlaments vom 23. März 2006 zu den Rechtsberufen und dem allgemeinen Interesse an der Funktionsweise der Rechtssysteme (ABl. C 292E, S. 105, im Folgenden: Entschließung von 2006) sei eine rein politische Handlung mit mehrdeutigem Inhalt, denn zum einen habe das Europäische Parlament in Nr. 17 dieser Entschließung ausgeführt, dass Art. 45 EG auf den Beruf des Notars anwendbar sei, und zum anderen habe es in Nr. 2 der Entschließung den in seiner Entschließung vom 18. Januar 1994 zur Lage und Organisation des Notarstands in den zwölf Mitgliedstaaten der Gemeinschaft (ABl. C 44, S. 36, im Folgenden: Entschließung von 1994) vertretenen Standpunkt bekräftigt, dass das im Recht mehrerer Mitgliedstaaten vorgesehene Staatsangehörigkeitserfordernis für den Zugang zum Notarberuf gestrichen werden sollte.

58      Die Kommission und das Vereinigte Königreich fügen hinzu, in der Rechtssache, in der das Urteil vom 30. September 2003, Colegio de Oficiales de la Marina Mercante Española (C‑405/01, Slg. 2003, I‑10391), ergangen sei, auf das mehrere Mitgliedstaaten in ihren schriftlichen Erklärungen Bezug genommen hätten, sei es um die Wahrnehmung einer breiten Palette von Aufgaben zur Aufrechterhaltung der Sicherheit, von polizeilichen Befugnissen sowie von notariellen und personenstandsrechtlichen Zuständigkeiten durch die Kapitäne und Ersten Offiziere von Handelsschiffen gegangen. Der Gerichtshof habe daher keine Gelegenheit gehabt, die verschiedenen von den Notaren ausgeübten Tätigkeiten im Detail an Art. 45 Abs. 1 EG zu messen. Aus diesem Urteil lasse sich folglich nicht schließen, dass die genannte Vorschrift auf Notare anwendbar sei.

59      Entgegen dem Vorbringen der Bundesrepublik Deutschland werde im Übrigen in der Rechtsprechung des Gerichtshofs zwischen Notaren und Behörden unterschieden, indem anerkannt werde, dass eine öffentliche Urkunde von einer Behörde oder einer anderen hierzu ermächtigten Stelle ausgestellt werden könne (Urteil vom 17. Juni 1999, Unibank, C‑260/97, Slg. 1999, I‑3715, Randnrn. 15 und 21).

60      Die Bundesrepublik Deutschland, unterstützt von der Republik Bulgarien, der Tschechischen Republik, der Republik Estland, der Französischen Republik, der Republik Lettland, der Republik Litauen, der Republik Ungarn, der Republik Österreich, der Republik Polen, der Republik Slowenien und der Slowakischen Republik, macht geltend, die Notare wirkten im Sinne von Art. 45 Abs. 1 EG an der Ausübung öffentlicher Gewalt mit.

61      Die Bundesrepublik Deutschland pflichtet der Kommission bei, dass der Begriff „öffentliche Gewalt“ im Sinne von Art. 45 Abs. 1 EG autonom und eng auszulegen sei. Sie und die Republik Estland, die Republik Polen und die Slowakische Republik sind jedoch der Ansicht, dass die Ausübung von Sonderrechten und Zwangsbefugnissen und die Existenz eines Über- und Unterordnungsverhältnisses gegenüber den Bürgern nicht die einzigen Formen der Ausübung öffentlicher Gewalt seien. Desgleichen weist die Republik Lettland darauf hin, dass sich die Teilhabe an der Ausübung öffentlicher Gewalt nicht auf Tätigkeiten beschränke, bei denen Entscheidungen unabhängig vom Willen der Betroffenen gefällt würden.

62      Die Bundesrepublik Deutschland führt aus, auch weitere Tätigkeiten könnten unter den Begriff der Ausübung öffentlicher Gewalt fallen, wenn sie durch besondere Befugnisse gegenüber den Bürgern gekennzeichnet seien, wenn sie nicht lediglich vorbereitender oder technischer Natur, sondern für die die Entscheidungen erlassende Behörde bindend seien und wenn die Tätigkeiten nicht nur ganz gelegentlich erfolgten.

63      Die den Notaren nach deutschem Recht übertragenen Tätigkeiten gehörten zur vorsorgenden Rechtspflege als komplementärer Aufgabe zur streitigen Gerichtsbarkeit. Zudem stünden die Notare den Parteien bei der Ausübung ihrer Tätigkeiten ebenso objektiv und unabhängig gegenüber wie ein ordentliches Gericht bei der Entscheidung eines Rechtsstreits.

64      Alle den Notaren nach deutschem Recht übertragenen Tätigkeiten hätten Wirkungen gegenüber den Bürgern. Die Tätigkeiten, die mit der Ausübung öffentlicher Gewalt verbunden seien, erfolgten auch nicht nur gelegentlich, sondern machten den wesentlichen Teil der notariellen Tätigkeiten aus.

65      Die Aufgabe der vorsorgenden Rechtspflege werde vom Staat auf die Notare übertragen, um die Gerichte zu entlasten; nur in Baden-Württemberg nehme der Staat sie weiterhin wahr. Der Notar entscheide bei der Beurkundung eines Akts oder eines Vertrags abschließend und verbindlich darüber, ob das formbedürftige Rechtsgeschäft in der von den Parteien gewünschten Art und Weise zustande gekommen sei. Vor der Beurkundung prüfe der Notar das Vorliegen der allgemeinen Voraussetzungen und kläre die Parteien unparteiisch über die Rechtsfolgen des Vorgangs auf. Er prüfe auch die Zulässigkeit der von den Parteien getroffenen Vereinbarungen.

66      Notarielle Urkunden seien zudem mit einer für die Gerichte bei ihrer Beweiswürdigung bindenden Beweiskraft ausgestattet.

67      Zur Erstellung vollstreckbarer Urkunden und zur Erteilung der Vollstreckungsklausel sei festzustellen, dass notarielle Verträge nach deutschem Recht Vollstreckungstitel seien, die aufgrund einer notariellen Vollstreckungsklausel ohne Einschaltung eines Gerichts vollstreckbar seien.

68      Durch die Beurkundung eines Akts oder eines Vertrags entstehe ein bindender Titel, der einem rechtskräftigen Urteil gleichstehe, wenn der Schuldner sich in der Urkunde der sofortigen Zwangsvollstreckung unterwerfe.

69      Überdies sei das Vollstreckungsorgan im Rahmen der Zwangsvollstreckung aus einer notariellen Urkunde mit notarieller Vollstreckungsklausel an die in der Urkunde enthaltenen Feststellungen zum Anspruch und an die Vollstreckungsklausel gebunden. Die Erstellung einer vollstreckbaren Urkunde und die Erteilung der Vollstreckungsklausel umfassten somit die Ausübung besonderer Befugnisse gegenüber den Bürgern unabhängig von ihrem Willen, wobei die Beteiligten jedoch Vollstreckungsabwehrklage erheben und geltend machen könnten, dass die Klauselerteilung unzulässig gewesen sei.

70      In Bayern seien die Notare ferner für den Abschluss eingetragener Partnerschaften zwischen Personen gleichen Geschlechts zuständig.

71      Im Übrigen würden notarielle Urkunden durch die in den Randnrn. 55 und 56 des vorliegenden Urteils genannten Rechtsakte der Union gerichtlichen Entscheidungen gleichgestellt.

72      Die Bundesrepublik Deutschland, die Republik Estland, die Republik Lettland, die Republik Litauen, die Republik Österreich, die Republik Polen und die Republik Slowenien machen außerdem geltend, der Gerichtshof habe im Urteil Colegio de Oficiales de la Marina Mercante Española für die Zwecke von Art. 39 Abs. 4 EG die notariellen Aufgaben der Kapitäne spanischer Schiffe als Teilhabe an der Ausübung öffentlicher Gewalt angesehen. Des Weiteren ergebe sich aus dem Urteil Unibank, dass die Erstellung öffentlicher Urkunden durch einen Amtsträger wie den Notar unmittelbar und spezifisch mit der Ausübung öffentlicher Gewalt verbunden sei.

 Würdigung durch den Gerichtshof

–       Vorbemerkungen

73      Mit ihrer ersten Rüge wirft die Kommission der Bundesrepublik Deutschland vor, Angehörige anderer Mitgliedstaaten dadurch daran zu hindern, sich in ihrem Hoheitsgebiet zur Ausübung des Notarberufs niederzulassen, dass sie den Zugang zu diesem Beruf unter Verstoß gegen Art. 43 EG ihren eigenen Staatsangehörigen vorbehalte.

74      Diese Rüge betrifft somit allein das nach der einschlägigen deutschen Regelung für den Zugang zu diesem Beruf aufgestellte Staatsangehörigkeitserfordernis unter dem Aspekt von Art. 43 EG.

75      Folglich ist klarzustellen, dass die Rüge weder den Status und die Organisation des Notariats in der deutschen Rechtsordnung betrifft noch die Voraussetzungen, die neben der Staatsangehörigkeit für den Zugang zum Beruf des Notars in diesem Mitgliedstaat bestehen.

76      Ferner ist hervorzuheben, dass die erste Rüge, wie die Kommission in der mündlichen Verhandlung ausgeführt hat, auch nicht die Anwendung der Bestimmungen des EG-Vertrags über den freien Dienstleistungsverkehr betrifft.

77      Da die Anwendung der Bestimmungen des Vertrags über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer nicht Gegenstand der vorliegenden Rüge ist, betrifft sie zudem nicht die Wahrnehmung des Notariats durch Notare im Landesdienst, die Landesbeamte sind, im Land Baden-Württemberg.

–       Zur Begründetheit

78      Einleitend ist darauf hinzuweisen, dass Art. 43 EG eine der grundlegenden Vorschriften des Unionsrechts darstellt (vgl. in diesem Sinne u. a. Urteil Reyners, Randnr. 43).

79      Der Begriff der Niederlassung im Sinne dieser Vorschrift ist ein sehr weiter Begriff, der die Möglichkeit für einen Unionsangehörigen impliziert, in stabiler und kontinuierlicher Weise am Wirtschaftsleben eines anderen Mitgliedstaats als seines Herkunftsmitgliedstaats teilzunehmen und daraus Nutzen zu ziehen, wodurch die wirtschaftliche und soziale Verflechtung innerhalb der Europäischen Union im Bereich der selbständigen Tätigkeiten gefördert wird (vgl. u. a. Urteil vom 22. Dezember 2008, Kommission/Österreich, C‑161/07, Slg. 2008, I‑10671, Randnr. 24).

80      Die Niederlassungsfreiheit, die den Angehörigen eines Mitgliedstaats im Gebiet eines anderen Mitgliedstaats zuerkannt wird, umfasst u. a. das Recht zur Aufnahme und Ausübung selbständiger Erwerbstätigkeiten nach den Rechtsvorschriften, die im Mitgliedstaat der Niederlassung für dessen eigene Angehörigen gelten (vgl. u. a. Urteil vom 28. Januar 1986, Kommission/Frankreich, 270/83, Slg. 1986, 273, Randnr. 13, und in diesem Sinne Urteil Kommission/Österreich, Randnr. 27). Mit anderen Worten verbietet Art. 43 EG jedem Mitgliedstaat, in seinen Rechtsvorschriften in Bezug auf Personen, die von der Freiheit, sich in diesem Staat niederzulassen, Gebrauch machen, für die Ausübung ihrer Tätigkeit andere als die für seine eigenen Staatsangehörigen festgelegten Bedingungen vorzusehen (Urteil Kommission/Österreich, Randnr. 28).

81      Art. 43 EG soll also die Vergünstigung der Inländerbehandlung jedem Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats garantieren, der sich in einem anderen Mitgliedstaat niederlässt, um dort eine selbständige Erwerbstätigkeit auszuüben, und untersagt jede Diskriminierung aufgrund der Staatsangehörigkeit, die sich aus den nationalen Rechtsvorschriften als Beschränkung der Niederlassungsfreiheit ergibt (Urteil Kommission/Frankreich, Randnr. 14).

82      Im vorliegenden Fall wird aber durch die streitigen nationalen Rechtsvorschriften der Zugang zum Beruf des Notars den deutschen Staatsangehörigen vorbehalten; sie schaffen damit eine Ungleichbehandlung aufgrund der Staatsangehörigkeit, die grundsätzlich nach Art. 43 EG verboten ist.

83      Die Bundesrepublik Deutschland macht jedoch geltend, die notariellen Tätigkeiten seien vom Anwendungsbereich des Art. 43 EG ausgenommen, da sie im Sinne von Art. 45 Abs. 1 EG mit der Ausübung öffentlicher Gewalt verbunden seien. Daher ist zunächst die Tragweite des Begriffs der Ausübung öffentlicher Gewalt im Sinne der letztgenannten Vorschrift zu prüfen und dann zu klären, ob die den Notaren nach der deutschen Rechtsordnung übertragenen Tätigkeiten unter diesen Begriff fallen.

84      Was den Begriff „Ausübung öffentlicher Gewalt“ im Sinne von Art. 45 Abs. 1 EG angeht, ist bei seiner Würdigung nach ständiger Rechtsprechung zu berücksichtigen, dass den anerkannten Ausnahmen vom Grundsatz der Niederlassungsfreiheit durch die genannte Bestimmung dem Unionsrecht eigene Grenzen gesetzt werden, um zu verhindern, dass der Vertrag durch einseitige Maßnahmen der Mitgliedstaaten seiner praktischen Wirksamkeit in diesem Bereich beraubt wird (vgl. in diesem Sinne Urteile Reyners, Randnr. 50, Kommission/Griechenland, Randnr. 8, und vom 22. Oktober 2009, Kommission/Portugal, C‑438/08, Slg. 2009, I‑10219, Randnr. 35).

85      Nach ebenfalls ständiger Rechtsprechung stellt Art. 45 Abs. 1 EG eine Ausnahme von der Grundregel der Niederlassungsfreiheit dar. Als solche ist er so auszulegen, dass sich seine Tragweite auf das beschränkt, was zur Wahrung der Interessen, deren Schutz diese Bestimmung den Mitgliedstaaten erlaubt, unbedingt erforderlich ist (Urteile Kommission/Griechenland, Randnr. 7, Kommission/Spanien, Randnr. 34, vom 30. März 2006, Servizi Ausiliari Dottori Commercialisti, C‑451/03, Slg. 2006, I‑2941, Randnr. 45, vom 29. November 2007, Kommission/Österreich, C‑393/05, Slg. 2007, I‑10195, Randnr. 35, und Kommission/Deutschland, C‑404/05, Slg. 2007, I‑10239, Randnrn. 37 und 46, sowie Kommission/Portugal, Randnr. 34).

86      Ferner hat der Gerichtshof wiederholt hervorgehoben, dass die in Art. 45 Abs. 1 EG vorgesehene Ausnahmeregelung auf Tätigkeiten beschränkt werden muss, die als solche unmittelbar und spezifisch mit der Ausübung öffentlicher Gewalt verbunden sind (Urteile Reyners, Randnr. 45, Thijssen, Randnr. 8, Kommission/Spanien, Randnr. 35, Servizi Ausiliari Dottori Commercialisti, Randnr. 46, Kommission/Deutschland, Randnr. 38, und Kommission/Portugal, Randnr. 36).

87      Dabei hat der Gerichtshof ausgeführt, dass von der in Art. 45 Abs. 1 EG vorgesehenen Ausnahmeregelung bestimmte Hilfs- oder Vorbereitungstätigkeiten für die Ausübung öffentlicher Gewalt ausgenommen sind (vgl. in diesem Sinne Urteile Thijssen, Randnr. 22, Kommission/Spanien, Randnr. 38, Servizi Ausiliari Dottori Commercialisti, Randnr. 47, Kommission/Deutschland, Randnr. 38, und Kommission/Portugal, Randnr. 36) sowie bestimmte Tätigkeiten, deren Ausübung – auch wenn sie Kontakte, die regelmäßig oder organisch in das Verfahren eingebettet sein können, mit Verwaltungsbehörden oder Gerichten oder sogar einen, möglicherweise obligatorischen, Beitrag zur Erfüllung ihrer Aufgaben umfasst – die Beurteilungs- oder Entscheidungsbefugnisse dieser Behörden oder Gerichte unberührt lässt (vgl. in diesem Sinne Urteil Reyners, Randnrn. 51 und 53), oder auch bestimmte Tätigkeiten, die nicht die Ausübung von Entscheidungsbefugnissen (vgl. in diesem Sinne Urteile Thijssen, Randnrn. 21 und 22, vom 29. November 2007, Kommission/Österreich, Randnrn. 36 und 42, Kommission/Deutschland, Randnrn. 38 und 44, sowie Kommission/Portugal, Randnrn. 36 und 41) oder Zwangsbefugnissen (vgl. in diesem Sinne u. a. Urteil Kommission/Spanien, Randnr. 37) oder den Einsatz von Zwangsmitteln (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 30. September 2003, Anker u. a., C‑47/02, Slg. 2003, I‑10447, Randnr. 61, sowie Urteil Kommission/Portugal, Randnr. 44) umfassen.

88      Im Licht der vorstehenden Erwägungen ist zu prüfen, ob die den Notaren in der deutschen Rechtsordnung übertragenen Tätigkeiten unmittelbar und spezifisch mit der Ausübung öffentlicher Gewalt verbunden sind.

89      Dabei ist die Art der von den Angehörigen dieses Berufs ausgeübten Tätigkeiten zu berücksichtigen (vgl. in diesem Sinne Urteil Thijssen, Randnr. 9).

90      Die Bundesrepublik Deutschland und die Kommission sind sich darüber einig, dass die als Erstes zu prüfende Haupttätigkeit der Notare nach der deutschen Rechtsordnung darin besteht, öffentliche Urkunden in der gesetzlichen Form zu erstellen. Dabei müsse der Notar u. a. prüfen, dass alle gesetzlichen Voraussetzungen für die Erstellung der Urkunde erfüllt seien. Die öffentliche Urkunde besitze zudem Beweiskraft und sei vollstreckbar.

91      Hierzu ist hervorzuheben, dass nach den deutschen Rechtsvorschriften Akte oder Verträge, denen sich die Parteien freiwillig unterworfen haben, beurkundet werden. Die Parteien entscheiden nämlich, innerhalb der gesetzlich vorgegebenen Grenzen, selbst über den Umfang ihrer Rechte und Pflichten und können die Bestimmungen, denen sie sich unterwerfen wollen, frei wählen, wenn sie dem Notar einen Akt oder einen Vertrag zur Beurkundung unterbreiten. Dessen Tätigwerden setzt daher voraus, dass zuvor eine Einigung oder Willensübereinstimmung der Parteien zustande gekommen ist.

92      Außerdem darf der Notar den von ihm zu beurkundenden Vertrag nicht ohne vorherige Einholung der Zustimmung der Parteien einseitig ändern.

93      Die Beurkundungstätigkeit der Notare ist somit als solche nicht im Sinne von Art. 45 Abs. 1 EG mit einer unmittelbaren und spezifischen Ausübung öffentlicher Gewalt verbunden.

94      Dass bei bestimmten Akten oder Verträgen eine Beurkundung zwingende Voraussetzung ihrer Wirksamkeit ist, kann dieses Ergebnis nicht in Frage stellen. Es ist nämlich nicht ungewöhnlich, dass die Gültigkeit verschiedener Akte nach den nationalen Rechtsordnungen und unter den vorgesehenen Modalitäten Formerfordernissen oder zwingenden Validierungsverfahren unterliegt. Dieser Umstand reicht daher nicht aus, um die von der Bundesrepublik Deutschland vertretene These zu untermauern.

95      Auch die Pflicht der Notare, vor der Beurkundung eines Akts oder eines Vertrags zu prüfen, ob alle gesetzlich vorgeschriebenen Voraussetzungen für das Zustandekommen dieses Akts oder Vertrags erfüllt sind, und, wenn dies nicht der Fall ist, die Beurkundung zu verweigern, ist nicht geeignet, das vorstehende Ergebnis in Frage zu stellen.

96      Zwar verfolgt der Notar, wie die Bundesrepublik Deutschland hervorhebt, bei dieser Prüfung das im Allgemeininteresse liegende Ziel, die Rechtmäßigkeit und die Rechtssicherheit von Akten zwischen Privatpersonen zu gewährleisten. Die bloße Verfolgung dieses Ziels kann es jedoch nicht rechtfertigen, die dafür erforderlichen Vorrechte Notaren mit der Staatsangehörigkeit des betreffenden Mitgliedstaats vorzubehalten.

97      Dass in Verfolgung eines im Allgemeininteresse liegenden Ziels gehandelt wird, genügt für sich genommen nicht, um eine bestimmte Tätigkeit als unmittelbar und spezifisch mit der Ausübung öffentlicher Gewalt verbunden einzustufen. Es steht nämlich fest, dass die im Rahmen verschiedener reglementierter Berufe ausgeübten Tätigkeiten nach den nationalen Rechtsordnungen häufig die Pflicht der sie ausübenden Personen einschließen, ein solches Ziel zu verfolgen, ohne dass diese Tätigkeiten deshalb mit der Ausübung öffentlicher Gewalt verbunden sind.

98      Dass mit den notariellen Tätigkeiten im Allgemeininteresse liegende Ziele verfolgt werden, die insbesondere dazu dienen, die Rechtmäßigkeit und die Rechtssicherheit von Akten zwischen Privatpersonen zu gewährleisten, stellt allerdings einen zwingenden Grund des Allgemeininteresses dar, der etwaige Beschränkungen von Art. 43 EG rechtfertigen kann, die sich aus den Besonderheiten der notariellen Tätigkeit ergeben, wie etwa den für die Notare aufgrund der Verfahren zu ihrer Bestellung geltenden Vorgaben, der Beschränkung ihrer Zahl und ihrer örtlichen Zuständigkeit oder auch der Regelung ihrer Bezüge, ihrer Unabhängigkeit, der Unvereinbarkeit von Ämtern und ihrer Unabsetzbarkeit, soweit diese Beschränkungen zur Erreichung der genannten Ziele geeignet und erforderlich sind.

99      Es trifft auch zu, dass der Notar die Beurkundung eines Akts oder eines Vertrags, der nicht die gesetzlich vorgeschriebenen Voraussetzungen erfüllt, unabhängig vom Willen der Parteien verweigern muss. Nach einer solchen Weigerung steht es den Parteien jedoch frei, die festgestellte Regelwidrigkeit abzustellen, die Bestimmungen des fraglichen Akts oder Vertrags zu ändern oder auf diesen Akt oder Vertrag zu verzichten.

100    Was die Beweiskraft und die Vollstreckbarkeit notarieller Urkunden anbelangt, so verleihen sie diesen Urkunden unbestreitbar bedeutsame Rechtswirkungen. Dass eine bestimmte Tätigkeit die Erstellung von Urkunden umfasst, die mit solchen Wirkungen ausgestattet sind, reicht jedoch nicht aus, um diese Tätigkeit als im Sinne von Art. 45 Abs. 1 EG unmittelbar und spezifisch mit der Ausübung öffentlicher Gewalt verbunden einzustufen.

101    Insbesondere in Bezug auf die Beweiskraft einer notariellen Urkunde ist nämlich festzustellen, dass sie Teil der in der fraglichen Rechtsordnung gesetzlich verankerten Beweisregeln ist. So gehören die §§ 415 und 418 ZPO, die die Beweiskraft öffentlicher Urkunden regeln, zu Titel 9 („Beweis durch Urkunden“) von Abschnitt 1 des Zweiten Buchs der ZPO. Die einer bestimmten Urkunde durch Gesetz verliehene Beweiskraft hat daher keine unmittelbare Auswirkung auf die Frage, ob die mit der Erstellung dieser Urkunde verbundene Tätigkeit als solche unmittelbar und spezifisch mit der Ausübung öffentlicher Gewalt verbunden ist, wie es die Rechtsprechung verlangt (vgl. in diesem Sinne Urteile Thijssen, Randnr. 8, und Kommission/Spanien, Randnr. 35).

102    Außerdem ist, wie sich insbesondere aus den §§ 415 Abs. 2 und 418 Abs. 2 ZPO ergibt, der Beweis der unrichtigen Beurkundung des Vorgangs oder der Unrichtigkeit der bezeugten Tatsachen grundsätzlich zulässig.

103    Daher kann nicht geltend gemacht werden, dass die notarielle Urkunde aufgrund ihrer Beweiskraft das Gericht bei seiner Würdigung uneingeschränkt binde, denn es ist unstreitig, dass das Gericht seine Entscheidung nach freier Überzeugung unter Berücksichtigung aller Tatsachen und Beweise trifft, die während des gerichtlichen Verfahrens zusammengetragen wurden. Der Grundsatz der freien Beweiswürdigung durch das Gericht ist im Übrigen in § 286 ZPO verankert.

104    Zur Vollstreckbarkeit der öffentlichen Urkunde hat die Bundesrepublik Deutschland zutreffend ausgeführt, dass sie die Vollstreckung der in ihr enthaltenen Verpflichtung ermöglicht, ohne dass zuvor ein Gericht tätig werden muss.

105    Die Vollstreckbarkeit der öffentlichen Urkunde verschafft dem Notar aber keine Befugnisse, die mit einer unmittelbaren und spezifischen Ausübung öffentlicher Gewalt verbunden sind. Denn wie aus § 794 Abs. 1 Nr. 5 ZPO hervorgeht, setzt die Vollstreckbarkeit einer notariellen Urkunde u. a. voraus, dass der Schuldner sich darin der sofortigen Zwangsvollstreckung unterworfen hat. Folglich ist die notarielle Urkunde ohne Einverständnis des Schuldners nicht vollstreckbar. Somit verleiht zwar die Anbringung der Vollstreckungsklausel durch den Notar der öffentlichen Urkunde die Vollstreckbarkeit, doch beruht diese auf dem Willen der Parteien, eine Urkunde zu schaffen oder einen Vertrag zu schließen, nachdem der Notar ihre Vereinbarkeit mit der Rechtsordnung geprüft hat, und ihnen Vollstreckbarkeit zu verleihen.

106    Die vorstehenden Erwägungen gelten entsprechend für Transaktionen, die ohne notarielle Beurkundung unwirksam sind, wie z. B. Verträge über den Erwerb und die Übertragung des Eigentums an einem Grundstück und über die Übertragung des gegenwärtigen Vermögens, Schenkungsversprechen, Eheverträge, Erbverträge und Erb- oder Pflichtteilsverzichtsverträge.

107    Die gleichen Erwägungen gelten auch für die in Randnr. 27 des vorliegenden Urteils beschriebenen Tätigkeiten des Notars im Bereich des Gesellschaftsrechts.

108    Die Bundesrepublik Deutschland kann ihre Auffassung auch nicht auf die allein in Bayern den Notaren übertragene Befugnis stützen, Erklärungen zu beurkunden, mit denen eine eingetragene Partnerschaft zwischen Personen gleichen Geschlechts begründet wird, da – abgesehen von dem Vorstehenden – aus Art. 2 AGLPartG hervorgeht, dass eine solche Partnerschaft, um Wirkungen zu entfalten, zudem durch das zuständige Standesamt in das von ihm geführte Lebenspartnerschaftsregister eingetragen werden muss.

109    Was als Zweites den speziellen Status der Notare nach deutschem Recht angeht, genügt der Hinweis, dass nach den Ausführungen in den Randnrn. 86 und 89 des vorliegenden Urteils anhand der Art der fraglichen Tätigkeiten für sich genommen und nicht anhand dieses Status als solchen zu prüfen ist, ob die Tätigkeiten unter die in Art. 45 Abs. 1 EG vorgesehene Ausnahme fallen.

110    Hierzu bedarf es jedoch zweier Erläuterungen. Erstens steht fest, dass grundsätzlich jede Partei den Notar frei wählen kann. Es trifft zwar zu, dass das Honorar der Notare gesetzlich festgelegt ist; gleichwohl kann die Qualität der erbrachten Leistungen von Notar zu Notar u. a. aufgrund der beruflichen Fähigkeiten der Betreffenden schwanken. Folglich üben die Notare, wie der Generalanwalt in Nr. 18 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, ihren Beruf in den Grenzen ihrer jeweiligen örtlichen Zuständigkeiten unter Wettbewerbsbedingungen aus, was für die Ausübung öffentlicher Gewalt untypisch ist.

111    Zweitens haftet nach § 19 Abs. 1 BNotO allein der Notar für die Handlungen im Rahmen seiner beruflichen Tätigkeit.

112    Als Drittes vermag auch das von der Bundesrepublik Deutschland auf bestimmte Rechtsakte der Union gestützte Argument nicht zu überzeugen. Die in Randnr. 55 des vorliegenden Urteils angeführten Verordnungen betreffen nämlich die Anerkennung und Vollstreckung öffentlicher Urkunden, die in einem Mitgliedstaat aufgenommen worden und vollstreckbar sind, und wirken sich folglich nicht auf die Auslegung von Art. 45 Abs. 1 EG aus. Diese Feststellung wird auch nicht durch die in Randnr. 56 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsakte der Union in Frage gestellt, denn sie beschränken sich, wie die Kommission zu Recht geltend macht, darauf, den Notaren und anderen von den Mitgliedstaaten festgelegten zuständigen Behörden die Aufgabe zu übertragen, die Vornahme bestimmter Rechtshandlungen und Formalitäten vor der Sitzverlegung, der Errichtung und der Verschmelzung von Gesellschaften zu bescheinigen.

113    Die in Randnr. 57 des vorliegenden Urteils erwähnten Entschließungen von 1994 und 2006 besitzen keine Rechtswirkungen, da solche Entschließungen ihrem Wesen nach keine verbindlichen Rechtsakte sind. Überdies heißt es darin zwar, dass der Notarberuf unter Art. 45 EG falle, doch hat das Parlament in der Entschließung von 1994 ausdrücklich seinen Wunsch zum Ausdruck gebracht, dass Maßnahmen getroffen werden, damit das Staatsangehörigkeitserfordernis für den Zugang zum Notarberuf gestrichen wird; dieser Standpunkt wurde in der Entschließung von 2006 nochmals implizit bekräftigt.

114    Viertens ist zu dem von der Bundesrepublik Deutschland aus dem Urteil Colegio de Oficiales de la Marina Mercante Española abgeleiteten Argument festzustellen, dass es in der Rechtssache, die Gegenstand dieses Urteils war, um die Auslegung von Art. 39 Abs. 4 EG und nicht von Art. 45 Abs. 1 EG ging. Außerdem geht aus Randnr. 42 des Urteils hervor, dass der Gerichtshof bei der Entscheidung, dass die den Kapitänen und Ersten Offizieren von Schiffen übertragenen Aufgaben eine Teilnahme an der Ausübung hoheitlicher Befugnisse darstellen, auf die Gesamtheit ihrer Aufgaben abgestellt hat. Der Gerichtshof hat also nicht allein die den Kapitänen und Ersten Offizieren übertragenen notariellen Befugnisse der Entgegennahme, Aufbewahrung und Weiterleitung von Testamenten gesondert von ihren übrigen Befugnissen, etwa der Zwangsanwendung oder der Verhängung von Sanktionen, geprüft.

115    Zum Urteil Unibank, auf das die Bundesrepublik Deutschland ebenfalls verweist, ist festzustellen, dass die Rechtssache, in der dieses Urteil ergangen ist, nicht die Auslegung von Art. 45 Abs. 1 EG betraf. Außerdem hat der Gerichtshof in Randnr. 15 dieses Urteils entschieden, dass eine Urkunde erst durch die Beteiligung einer Behörde oder einer anderen vom Ursprungsstaat ermächtigten Stelle zu einer öffentlichen Urkunde im Sinne von Art. 50 des Übereinkommens vom 27. September 1968 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen (ABl. 1972, L 299, S. 32) werden kann.

116    Unter diesen Umständen sind die notariellen Tätigkeiten nach ihrer gegenwärtigen Definition in der deutschen Rechtsordnung nicht im Sinne von Art. 45 Abs. 1 EG mit der Ausübung öffentlicher Gewalt verbunden.

117    Folglich ist festzustellen, dass das in der deutschen Regelung aufgestellte Staatsangehörigkeitserfordernis für den Zugang zum Notarberuf eine nach Art. 43 EG verbotene Diskriminierung aufgrund der Staatsangehörigkeit darstellt.

118    Nach alledem ist die erste Rüge begründet.

 Zur zweiten Rüge

 Vorbringen der Verfahrensbeteiligten

119    Die Kommission wirft der Bundesrepublik Deutschland vor, in Bezug auf den Notarberuf die Richtlinie 89/48 für die Zeit bis 20. Oktober 2007 und die Richtlinie 2005/36 für den nachfolgenden Zeitraum nicht umgesetzt zu haben. Die Tragweite der Richtlinie 2005/36 sei in Bezug auf Notare nicht größer als die der Richtlinie 89/48.

120    Die Kommission ist wie das Vereinigte Königreich der Ansicht, dass es sich bei dem Beruf des Notars um einen reglementierten Beruf im Sinne von Art. 1 Buchst. c der Richtlinie 89/48 handele, so dass er in den Anwendungsbereich der Richtlinie falle. Durch den 41. Erwägungsgrund der Richtlinie 2005/36 werde dieser Beruf nicht von ihrem Anwendungsbereich ausgenommen, sofern er nicht unter Art. 45 Abs. 1 EG falle, was die Kommission im vorliegenden Fall bestreite. Im Übrigen hätte der Unionsgesetzgeber, wenn er die Notare vom Anwendungsbereich der genannten Richtlinie hätte ausnehmen wollen, dies ausdrücklich getan.

121    Die Richtlinien 89/48 und 2005/36 gestatteten es den Mitgliedstaaten, eine Eignungsprüfung oder einen Anpassungslehrgang vorzusehen, die das erforderliche hohe Qualifikationsniveau der Notare gewährleisten könnten. Außerdem würde die Anwendung dieser Richtlinien nicht die Bestellung von Notaren mittels Auswahlverfahren verhindern, sondern nur den Staatsangehörigen der anderen Mitgliedstaaten Zugang zu diesen Auswahlverfahren verschaffen. Ihre Anwendung hätte auch keine Auswirkungen auf das Verfahren zur Bestellung der Notare.

122    Die Bundesrepublik Deutschland, die Republik Lettland und die Republik Slowenien halten die zweite Rüge der Kommission für unzulässig, soweit sie sich darauf beziehe, dass sowohl die Richtlinie 89/48 als auch die Richtlinie 2005/36 nicht umgesetzt worden sei.

123    Zum einen habe die Kommission nämlich in ihrer mit Gründen versehenen Stellungnahme gerügt, dass die Richtlinie 89/48 nicht umgesetzt worden sei, obwohl zum Zeitpunkt dieser Stellungnahme die Richtlinie 2005/36, mit der die Richtlinie 89/48 aufgehoben worden sei, bereits existiert habe.

124    Zum anderen sei durch die erstmals in der Klageschrift erfolgte Bezugnahme der Kommission auf die Richtlinie 2005/36 der im vorgerichtlichen Verfahren festgelegte Gegenstand des Rechtsstreits erweitert worden. Die Tragweite dieser Richtlinie sei nämlich weit größer als die der Richtlinie 89/48.

125    In der Sache machen die Bundesrepublik Deutschland, die Republik Bulgarien, die Republik Lettland, die Republik Ungarn, die Republik Österreich, die Republik Polen, die Republik Slowenien und die Slowakische Republik geltend, dass diese Richtlinien nicht auf Notare anwendbar seien, da deren Tätigkeiten mit der Ausübung öffentlicher Gewalt verbunden seien.

 Würdigung durch den Gerichtshof

–       Zur Zulässigkeit

126    Nach ständiger Rechtsprechung ist im Rahmen einer auf Art. 226 EG gestützten Klage das Vorliegen einer Vertragsverletzung anhand des Stands des Unionsrechts am Ende der Frist zu beurteilen, die die Kommission dem betreffenden Mitgliedstaat für ein Handeln gemäß ihrer mit Gründen versehenen Stellungnahme gesetzt hat (vgl. u. a. Urteile vom 9. November 1999, Kommission/Italien, C‑365/97, Slg. 1999, I‑7773, Randnr. 32, vom 5. Oktober 2006, Kommission/Belgien, C‑275/04, Slg. 2006, I‑9883, Randnr. 34, und vom 19. März 2009, Kommission/Deutschland, C‑270/07, Slg. 2009, I‑1983, Randnr. 49).

127    Im vorliegenden Fall lief die genannte Frist am 18. Dezember 2006 ab. Zu diesem Zeitpunkt war aber noch die Richtlinie 89/48 in Kraft, die erst mit Wirkung vom 20. Oktober 2007 durch die Richtlinie 2005/36 aufgehoben wurde. Soweit sich die vorliegende Rüge auf die unterbliebene Umsetzung der Richtlinie 89/48 stützt, ist sie daher nicht gegenstandslos (vgl. entsprechend Urteil vom 11. Juni 2009, Kommission/Frankreich, C‑327/08, Randnr. 23).

128    Zur Zulässigkeit der vorliegenden Rüge, soweit sie die unterbliebene Umsetzung der Richtlinie 2005/36 betrifft, ist festzustellen, dass – wie der Gerichtshof bereits entschieden hat – die Kommission, auch wenn die in der Klageschrift gestellten Anträge grundsätzlich nicht über die im verfügenden Teil der mit Gründen versehenen Stellungnahme und im Aufforderungsschreiben gerügten Verstöße hinausgehen dürfen, doch die Feststellung eines Verstoßes gegen diejenigen Verpflichtungen beantragen darf, die sich aus der ursprünglichen Fassung eines später geänderten oder aufgehobenen Unionsrechtsakts ergeben und durch die Bestimmungen eines neuen Unionsrechtsakts aufrechterhalten wurden. Dagegen kann der Streitgegenstand nicht auf Verpflichtungen erstreckt werden, die sich aus neuen Bestimmungen ergeben, die keine Entsprechung in der ursprünglichen Fassung des betreffenden Rechtsakts haben, da dies einen Verstoß gegen Formvorschriften darstellen würde, die für den ordnungsgemäßen Ablauf des Verfahrens zur Feststellung der Vertragsverletzung wesentlich sind (vgl. insoweit Urteile vom 9. November 1999, Kommission/Italien, Randnr. 36, vom 12. Juni 2003, Kommission/Italien, C‑363/00, Slg. 2003, I‑5767, Randnr. 22, und vom 10. September 2009, Kommission/Griechenland, C‑416/07, Slg. 2009, I‑7883, Randnr. 28).

129    Folglich sind die in der Klageschrift der Kommission enthaltenen Anträge auf Feststellung, dass die Bundesrepublik Deutschland gegen ihre Verpflichtungen aus der Richtlinie 2005/36 verstoßen hat, grundsätzlich zulässig, sofern die Verpflichtungen aus dieser Richtlinie denjenigen aus der Richtlinie 89/48 entsprechen (vgl. entsprechend Urteil vom 10. September 2009, Kommission/Griechenland, Randnr. 29).

130    Wie aus dem neunten Erwägungsgrund der Richtlinie 2005/36 hervorgeht, sollen mit dieser Richtlinie bei gleichzeitiger Verbesserung, Neuordnung und Straffung der existierenden Bestimmungen durch eine Vereinheitlichung der geltenden Grundsätze die Grundsätze und Garantien für die Niederlassungsfreiheit, die in den verschiedenen geltenden Anerkennungsregelungen – wie der durch die Richtlinie 89/48 geschaffenen – enthalten sind, aufrechterhalten werden.

131    Ferner heißt es im 14. Erwägungsgrund der Richtlinie 2005/36, dass sich der u. a. durch die Richtlinie 89/48 eingeführte Anerkennungsmechanismus nicht ändert.

132    Im vorliegenden Fall betrifft der von der Kommission gegen die Bundesrepublik Deutschland erhobene Vorwurf in Bezug auf den Beruf des Notars nicht die unterbliebene Umsetzung einer bestimmten Vorschrift der Richtlinie 2005/36, sondern der gesamten Richtlinie.

133    Unter diesen Umständen ist festzustellen, dass die geltend gemachte Pflicht zur Umsetzung der Richtlinie 2005/36 für den Beruf des Notars der aus der Richtlinie 89/48 resultierenden Pflicht entspricht, da zum einen die Grundsätze und Garantien, die in dem durch die Richtlinie 89/48 eingeführten Anerkennungsmechanismus enthalten sind, mit der Richtlinie 2005/36 aufrechterhalten werden und zum anderen dieser Anerkennungsmechanismus nach Erlass der Richtlinie 2005/36 unverändert geblieben ist.

134    Folglich ist die vorliegende Rüge zulässig.

–       Zur Begründetheit

135    Die Kommission wirft der Bundesrepublik Deutschland vor, die Richtlinien 89/48 und 2005/36 in Bezug auf den Beruf des Notars nicht umgesetzt zu haben. Folglich ist zu prüfen, ob die Richtlinien für diesen Beruf gelten.

136    Dabei ist ihr normativer Zusammenhang zu berücksichtigen.

137    Hierzu ist festzustellen, dass der Richtliniengeber im zwölften Erwägungsgrund der Richtlinie 89/48 ausdrücklich bestimmt hat, dass die durch sie geschaffene allgemeine Regelung zur Anerkennung der Hochschuldiplome „in keiner Weise die Anwendung von … Artikel [45 EG]“ präjudiziert. In diesem Vorbehalt kommt zum Ausdruck, dass der Richtliniengeber die unter Art. 45 Abs. 1 EG fallenden Tätigkeiten nicht in den Anwendungsbereich der Richtlinie einbeziehen wollte.

138    Zum Zeitpunkt des Erlasses der Richtlinie 89/48 hatte der Gerichtshof aber noch keine Gelegenheit gehabt, sich zu der Frage zu äußern, ob die Tätigkeiten des Notars unter Art. 45 Abs. 1 EG fallen.

139    In den Jahren nach dem Erlass der Richtlinie 89/48 hat das Parlament in seinen – in den Randnrn. 57 und 113 des vorliegenden Urteils erwähnten – Entschließungen von 1994 und 2006 zum einen ausgeführt, dass Art. 45 Abs. 1 EG vollständig auf den Beruf des Notars als solchen anwendbar sei, zum anderen aber die Streichung des Staatsangehörigkeitserfordernisses für den Zugang zu diesem Beruf als wünschenswert bezeichnet.

140    Ferner hat der Unionsgesetzgeber beim Erlass der an die Stelle der Richtlinie 89/48 getretenen Richtlinie 2005/36 in deren 41. Erwägungsgrund klargestellt, dass sie die Anwendung des Art. 45 EG, „insbesondere auf Notare“, nicht berührt. Mit diesem Vorbehalt hat der Unionsgesetzgeber aber nicht zur Anwendbarkeit von Art. 45 Abs. 1 EG und damit der Richtlinie 2005/36 auf die Tätigkeiten des Notars Stellung genommen.

141    Dies bestätigt insbesondere die Entstehungsgeschichte der letztgenannten Richtlinie. Das Parlament hatte nämlich in seiner Legislativen Entschließung zu dem Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über die Anerkennung von Berufsqualifikationen (ABl. 2004, C 97E, S. 230), die in erster Lesung am 11. Februar 2004 festgelegt wurde, vorgeschlagen, im Text der Richtlinie 2005/36 ausdrücklich anzugeben, dass sie nicht für Notare gilt. Zwar wurde dieser Vorschlag weder im geänderten Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über die Anerkennung von Berufsqualifikationen (KOM[2004] 317 endg.) noch in dem Gemeinsamen Standpunkt (EG) Nr. 10/2005 vom 21. Dezember 2004, vom Rat festgelegt gemäß dem Verfahren des Artikels 251 des Vertrags zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft im Hinblick auf den Erlass einer Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über die Anerkennung von Berufsqualifikationen (ABl. 2005, C 58E, S. 1), übernommen, doch bestand der Grund dafür nicht darin, dass die geplante Richtlinie auf den Beruf des Notars Anwendung finden sollte, sondern vor allem darin, dass Art. 45 Abs. 1 EG „für diejenigen Tätigkeiten Ausnahmen von den Grundsätzen der Niederlassungs- und Dienstleistungsfreiheit vorsieht, die eine unmittelbare und spezifische Beteiligung an der Ausübung öffentlicher Gewalt beinhalten“.

142    Insoweit erscheint es angesichts der besonderen Umstände, die den Rechtsetzungsprozess begleiteten, sowie der daraus nach dem oben wiedergegebenen normativen Zusammenhang resultierenden Ungewissheit nicht möglich, festzustellen, dass bei Ablauf der in der mit Gründen versehenen Stellungnahme gesetzten Frist eine hinreichend klare Verpflichtung für die Mitgliedstaaten bestand, die Richtlinien 89/48 und 2005/36 in Bezug auf den Beruf des Notars umzusetzen.

143    Folglich ist die zweite Rüge zurückzuweisen.

144    Nach alledem ist festzustellen, dass die Bundesrepublik Deutschland dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus Art. 43 EG verstoßen hat, dass sie für den Zugang zum Beruf des Notars eine Staatsangehörigkeitsvoraussetzung aufgestellt hat; im Übrigen ist die Klage abzuweisen.

 Kosten

145    Nach Art. 69 § 3 der Verfahrensordnung kann der Gerichtshof die Kosten teilen oder beschließen, dass jede Partei ihre eigenen Kosten trägt, wenn jede Partei teils obsiegt, teils unterliegt. Da der Klage der Kommission nur teilweise stattgegeben wird, hat jede Partei ihre eigenen Kosten zu tragen.

146    Gemäß Art. 69 § 4 Abs. 1 der Verfahrensordnung tragen die Mitgliedstaaten, die dem Rechtsstreit als Streithelfer beigetreten sind, ihre eigenen Kosten. Die Republik Bulgarien, die Tschechische Republik, die Republik Estland, die Französische Republik, die Republik Lettland, die Republik Litauen, die Republik Ungarn, die Republik Österreich, die Republik Polen, die Republik Slowenien, die Slowakische Republik und das Vereinigte Königreich tragen daher ihre eigenen Kosten.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Große Kammer) für Recht erkannt und entschieden:

1.      Die Bundesrepublik Deutschland hat dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus Art. 43 EG verstoßen, dass sie für den Zugang zum Beruf des Notars eine Staatsangehörigkeitsvoraussetzung aufgestellt hat.

2.      Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.

3.      Die Europäische Kommission, die Bundesrepublik Deutschland, die Republik Bulgarien, die Tschechische Republik, die Republik Estland, die Französische Republik, die Republik Lettland, die Republik Litauen, die Republik Ungarn, die Republik Österreich, die Republik Polen, die Republik Slowenien, die Slowakische Republik und das Vereinigte Königreich Großbritannien und Nordirland tragen ihre eigenen Kosten.

Unterschriften


* Verfahrenssprache: Deutsch.