SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS

DÁMASO RUIZ‑JARABO COLOMER

vom 20. Oktober 20091(1)

Rechtssache C‑265/08

Federutility

Assogas

Libarna Gas spa

Collino Commercio spa

Sadori gas spa

Egea Commerciale

E.On Vendita srl

Sorgenia spa

gegen

Autorità per l'energia elettrica e il gas

(Vorabentscheidungsersuchen des Tribunale Amministrativo Regionale della Lombardia [Italien])

„Festlegung der Preise für die Lieferung von Erdgas an Haushalts‑Kunden – Gemeinwirtschaftliche Verpflichtungen – Allgemeines wirtschaftliches Interesse“





I –    Einleitung

1.        In der Frühzeit des Sozialstaats entzogen sich bestimmte wirtschaftliche Bereiche der Logik des Marktes, um den Abstand zwischen dem „beherrschten Lebensraum“ und dem „effektiven Lebensraum“ zu verringern(2). In vielen nicht streng wirtschaftlichen Bedeutungen – die im klassischen kontinentalrechtlichen Begriff des öffentlichen Dienstes verankert sind – intensivierte sich das staatliche Eingreifen in einigen Bereichen, entstanden Monopole und wurde stärker reguliert.

2.        Seit der Einheitlichen Europäischen Akte, mit der „auf dem Altar der politischen Ideen“ ein neues Idol, nämlich der Wettbewerb, inthronisiert wurde, ist der öffentliche Dienst zu einem Hindernis geworden, das es um der Liberalisierung willen, auf der alle Hoffnungen ruhen, zu überwinden gilt(3).

3.        Die Einführung eines offenen Marktes stellt den ersten Schritt dieser Politik dar, doch nach der Beseitigung der Schranken bleiben bestimmte Notwendigkeiten bestehen, denen der Markt allein nicht nachkommen kann. So kommt es zu einem staatlichen Tätigwerden − in der Form von „Dienstleistungen von allgemeinem Interesse“ und von „gemeinwirtschaftlichen Verpflichtungen“, die die Behörden den Unternehmen liberalisierter Sektoren auferlegen, um die öffentlichen Interessen zu wahren, deren Befriedigung zwingend geboten ist und mithin nicht dem freien Spiel der Kräfte des Marktes überlassen werden kann.

4.        Die große Herausforderung des gegenwärtigen Wirtschaftsrechts besteht darin, dieses staatliche Tätigwerden abzugrenzen. Bisher hat sich das Problem nur im Hinblick auf das Fortbestehen ausschließlicher Rechte oder die Finanzierung der betreffenden Dienstleistungen gestellt, selten jedoch im Hinblick auf gemeinwirtschaftliche Verpflichtungen. Um diese Besonderheit kreist gerade die in dieser Sache zur Vorabentscheidung vorgelegte Frage.

5.        Seit dem 19. Jahrhundert hat Gas eine ganz besondere Bedeutung für die Entwicklung der modernen Gesellschaften. In der Literatur spiegelte sich der Argwohn wider, den das Gas zunächst hervorrief(4), und die große Wirkung, die es danach auslöste(5), bis es Teil des Alltags wurde, wie dies Pérez Galdos(6) herausstellt. Die Richtlinie 2003/55/EG(7) sieht die vollständige Öffnung des Marktes für Erdgas ab dem 1. Juli 2007 vor, und das Tribunale Amministrativo Regionale della Lombardia fragt, ob es ab diesem Zeitpunkt zulässig ist, dass die italienischen Behörden in einer Situation, die durch das Fehlen einen wirksamen Wettbewerbs gekennzeichnet ist, ausnahmsweise an der Festlegung der Gasversorgungspreise mitwirken.

6.        Wenn der öffentliche Dienst sich, wie der französische Conseil d’État(8) es ausgedrückt hat, „wenn der Markt scheitert, als eine Verlängerung des Marktes durch andere Mittel und nicht als sein Gegenteil begreift“, müsste der Staat in einer Situation, die durch den Verfall des Wettbewerbs gekennzeichnet ist, eingreifen, um den Folgen einer solchen Situation entgegenzuwirken. Das staatliche Handeln auf dem Markt muss sich gleichwohl zurückhalten, um die tatsächliche Liberalisierung nicht sine die hinauszuschieben, und sich dabei an den Rechten der Verbraucher orientieren.

II – Rechtlicher Rahmen

A –    Gemeinschaftsrecht: Die Richtlinie 2003/55

7.        Die Richtlinie 2003/55 bezweckt die Verwirklichung des Erdgasbinnenmarkts.

8.        Nach ihrem zweiten Erwägungsgrund zeugen die bei der Durchführung der Richtlinie 98/30/EG(9), die die Richtlinie aus dem Jahr 2003 aufhebt, gewonnenen Erfahrungen von dem Nutzen der sich aus der Errichtung dieses Marktes ergeben kann, wenn nach wie vor schwerwiegende Mängel und Möglichkeiten seiner Verbesserung bestehen, insbesondere durch „konkrete Maßnahmen, um gleiche Ausgangsbedingungen [zu gewährleisten] und die Gefahr einer Marktbeherrschung und von Verdrängungspraktiken zu verringern, … sowie durch Sicherstellung des Schutzes der Rechte kleiner und benachteiligter Kunden“.

9.        Der 18. Erwägungsgrund der Richtlinie 2003/55 betrifft einen wesentlichen Bestandteil des Liberalisierungsprozesses: die freie Wahl des Versorgers durch die Erdgaskunden. Um dieses Ziel zu erreichen, billigt die Richtlinie einen schrittweisen Ansatz in Verbindung mit einer Frist, so dass die Unternehmen Gelegenheit zur Anpassung haben und sicherstellen können, dass die Interessen der Verbraucher und deren Recht, ein Versorgungsunternehmen tatsächlich frei zu wählen, gewahrt werden.

10.      Der 26. Erwägungsgrund betrifft die Maßnahmen der Mitgliedstaaten, mit denen ein hoher Standard gemeinwirtschaftlicher Leistungen in der Gemeinschaft erreicht wird, und präzisiert, dass sie die Kommission regelmäßig unterrichten sollten und die Maßnahmen unterschiedlich ausfallen können, je nachdem, ob es sich um „nichtgewerbliche Kunden oder kleine und mittlere Unternehmen“ handelt. Der 27. Erwägungsgrund betrifft gemeinwirtschaftliche Verpflichtungen, eine „grundlegende Anforderung“ der Richtlinie, in der gemeinsame Mindestnormen festgelegt werden sollen, „die den Zielen des Verbraucherschutzes, der Versorgungssicherheit, des Umweltschutzes und einer gleichwertigen Wettbewerbsintensität in allen Mitgliedstaaten Rechnung tragen“. Außerdem müssen diese Verpflichtungen unter Berücksichtigung der einzelstaatlichen Gegebenheiten ausgelegt werden, wobei das Gemeinschaftsrecht einzuhalten ist.

11.      Nach Art. 2 Nr. 25 der Richtlinie sind „Haushalts‑Kunden“ Kunden, die Erdgas für den Eigenverbrauch im Haushalt kaufen, und nach Art. 2 Nr. 28 sind „zugelassene Kunden“ Kunden, denen es gemäß Art. 23 dieser Richtlinie frei steht, Gas von einem Lieferanten ihrer Wahl zu kaufen. Besagter Art. 23 Abs. 1 Buchst. c verlangt von den Mitgliedstaaten, dass ab dem 1. Juli 2007 alle Kunden zugelassen sind.

12.      Art. 3 der Richtlinie betrifft gemeinwirtschaftliche Verpflichtungen und den Schutz der Kunden. In seinem Abs. 1 verpflichtet er die Mitgliedstaaten, „dafür Sorge zu tragen, dass Erdgasunternehmen … nach den in dieser Richtlinie festgelegten Grundsätzen im Hinblick auf die Errichtung eines wettbewerbsorientierten, sicheren und unter ökologischen Aspekten nachhaltigen Erdgasmarkts betrieben werden und dass diese Unternehmen hinsichtlich der Rechte und Pflichten nicht diskriminiert werden“.

13.      Dies gilt jedoch „unbeschadet des Absatzes 2“, wonach „[d]ie Mitgliedstaaten … unter uneingeschränkter Beachtung der einschlägigen Bestimmungen des Vertrags, insbesondere des Artikels 86, den im Gassektor tätigen Unternehmen im allgemeinen wirtschaftlichen Interesse Verpflichtungen [im Hinblick auf den Preis der Versorgung] auferlegen [können] …“ Solche Verpflichtungen müssen klar festgelegt, transparent, nicht diskriminierend und überprüfbar sein und den gleichberechtigten Zugang von Erdgasunternehmen in der Europäischen Union zu den nationalen Verbrauchern sicherstellen.

14.      Art. 3 Abs. 3 enthält eine Verpflichtung zum Schutz der Kunden unter besonderer Berücksichtigung der schutzbedürftigsten Kunden: Die Mitgliedstaaten schützen die Endkunden und gewährleisten insbesondere in Bezug auf die Transparenz der allgemeinen Vertragsbedingungen, allgemeine Informationen und Streitbeilegungsverfahren ein angemessenes Verbraucherschutzniveau − vor allem hinsichtlich schutzbedürftiger Kunden, denen geholfen wird, den Ausschluss von der Versorgung zu vermeiden. Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass zugelassene Kunden zu einem neuen Lieferanten wechseln können. Zumindest im Fall der Haushalts‑Kunden schließen solche Maßnahmen die in Anhang A aufgeführten Maßnahmen ein(10).

15.      Nach Art. 3 Abs. 6 unterrichten die Mitgliedstaaten die Kommission „bei der Umsetzung dieser Richtlinie über alle Maßnahmen, die sie zur Erfüllung gemeinwirtschaftlicher Verpflichtungen einschließlich des Verbraucher‑ und des Umweltschutzes getroffen haben, und über deren mögliche Auswirkungen auf den nationalen und internationalen Wettbewerb“, und zwar unabhängig davon, ob für diese Maßnahmen eine Ausnahme von dieser Richtlinie erforderlich ist oder nicht.

B –    Italienisches Recht

16.      Nur einige Tage vor dem 1. Juli 2007, nach Art. 23 der Richtlinie 2003/55 dem Ablauf der Frist für die vollständige Liberalisierung des Erdgasmarkts, wurde in Italien das Decreto Legge Nr. 73 vom 18. Juni 2007 erlassen, mit dem der Autorità per l’energia elettrica e il gas trotz vollständiger Öffnung des Marktes die Befugnis verliehen wird, „Referenzpreise“ für den Verkauf von Gas an bestimmte Kunden festzulegen.

17.      Dieses Decreto Legge wurde durch das Gesetz Nr. 125 vom 3. August 2007 bestätigt, dessen Art. 1 Abs. 3 vorsieht:

„Um die Anwendung der Gemeinschaftsbestimmungen über Universaldienste zu gewährleisten, formuliert die Autorità per l'energia elettrica e il gas Standardbedingungen für die Erbringung der Dienstleistung und bestimmt für eine Übergangszeit auf der Grundlage der tatsächlichen Kosten der Dienstleistung Referenzpreise … für … die Belieferung von Privatkunden mit Erdgas, die die Verteilungs‑ oder Vertriebsunternehmen im Rahmen der gemeinwirtschaftlichen Verpflichtungen in ihre geschäftlichen Angebote aufnehmen, wobei sie auch die Möglichkeit vorsehen, zwischen differenzierten Tarifplänen und Zeitfenstern zu wählen. … die Aufsichts‑ und Eingriffsbefugnisse der Autorità [bleiben] zum Schutz der Rechte der Verbraucher auch in Fällen erwiesener und ungerechtfertigter Preiserhöhungen und Änderungen der Dienstleistungsbedingungen für die Kunden, die von ihrem Wahlrecht noch keinen Gebrauch gemacht haben, vorbehalten.“(11)

18.      Das vorlegende italienische Gericht ist der Auffassung, dass diese Vorschrift „eine gesetzliche Grundlage für die Ausübung der Regulierungsbefugnis in Bezug auf die Gaspreise durch die Autorità auch nach dem 1. Juli 2007“ vorsieht.

III – Ausgangsverfahren und Vorabentscheidungsfrage

19.      Am 29. März 2007 erließ die Autorità per l’energia elettrica e il gas den Beschluss Nr. 79/07 über die Neufestlegung der wirtschaftlichen Bedingungen für die Lieferung von Erdgas für den Zeitraum vom 1. Januar 2005 bis 31. März 2007 und Kriterien für die Aktualisierung dieser wirtschaftlichen Bedingungen. Gemäß Punkt 1.3.1 dieses Beschlusses sollten die Berechnungsformeln, die für die Zwecke der Aktualisierung des für den Großhandel vorgesehenen variablen Entgelts genehmigt wurden, bis zum 30. Juni 2008 angewandt werden; nach Punkt 1.2.3 erhielt die Autorità die Möglichkeit, das Vorliegen der Voraussetzungen für die Verlängerung dieser Geltungsdauer bis zum 30. Juni 2009 zu prüfen.

20.      Federutility, Assogas, Libarna Gas spa, Collino Commercio spa, Sadori gas spa, Egea Commerciale, E.On Vendita srl und Sorgenia spa (Unternehmen und Unternehmenszusammenschlüsse, die auf dem italienischen Erdgasmarkt tätig sind) erhoben fünf Klagen gegen den Beschluss Nr. 79/07 und gegen weitere spätere Beschlüsse der Autorità (Beschlüsse Nr. 80/07, Nr. 158/07, Nr. 242/07 und Nr. 346/07)(12).

21.      Als Hauptargument führen sie einen Verstoß gegen die Richtlinie 2003/55 an, wonach der Erdgassektor ab dem 1. Juli 2007 vollständig liberalisiert sein müsse. Die Klägerinnen machen geltend, dass sich der Gaspreis ohne behördliche Einmischung ausschließlich aus dem Zusammenspiel von Angebot und Nachfrage bestimmen müsse, um den Kunden ab diesem Zeitpunkt die freie Wahl des Versorgungsunternehmens zu gewährleisten. Daher verstießen über das zweite Quartal des Jahres 2007 hinaus bestehende „Referenzpreise“ (die der Beschluss Nr. 79/07 einführt) gegen das Gemeinschaftsrecht.

22.      Das Tribunale Amministrativo Regionale della Lombardia (Sala IV), das mit diesen Klagen befasst ist, ist der Auffassung, dass die Entscheidung des Rechtsstreits von der Auslegung der Richtlinie 2003/55 abhänge, und hat gemäß Art. 234 EG folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:

Ist Art. 23 der Richtlinie 2003/55/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2003, die die Öffnung des Gasmarkts regelt, im Einklang mit den sich aus dem Vertrag über die Europäische Union ergebenden Grundsätzen dahin auszulegen, dass diese Bestimmung und die Gemeinschaftsgrundsätze einer nationalen Vorschrift (und den nachfolgenden Anwendungsmaßnahmen) entgegenstehen, durch die nach dem 1. Juli 2007 die nationale Regulierungsbehörde weiterhin ermächtigt wird, Referenzpreise für die Belieferung von Privatkunden (einer unbestimmten und unter den Kundenkategorien nicht definierten Kategorie, die als solche keine Wertung in Bezug auf besondere Situationen sozioökonomischer Benachteiligung enthält, die die Bestimmung der genannten Referenzpreise rechtfertigen könnten) mit Erdgas zu bestimmen, die die Verteilungs‑ oder Vertriebsunternehmen im Rahmen der gemeinwirtschaftlichen Verpflichtungen in ihre geschäftlichen Angebote aufnehmen müssen,

oder

ist diese Bestimmung (der genannte Art. 23) in Verbindung mit Art. 3 der Richtlinie 2003/55 (der vorsieht, dass die Mitgliedstaaten den im Gassektor tätigen Unternehmen im allgemeinen wirtschaftlichen Interesse Verpflichtungen auferlegen können, die sich – soweit hier relevant – auf den Preis der Versorgung beziehen können) dahin auszulegen, dass die genannten Gemeinschaftsbestimmungen einer nationalen Vorschrift nicht entgegenstehen, die − unter Berücksichtigung der besonderen Marktsituation – die dadurch gekennzeichnet ist, dass, zumindest auf der Großhandelsebene, noch keine Bedingungen „effektiven Wettbewerbs“ gegeben sind – die Bestimmung des Referenzpreises für Erdgas – der zwingend in den geschäftlichen Angeboten, die die einzelnen Verkäufer ihren Privatkunden im Bereich des Universaldienstes unterbreiten, anzugeben ist – auf dem Verwaltungsweg zulässt, während alle Kunden als „frei“ anzusehen sind?

IV – Verfahren vor dem Gerichtshof

23.      Das Vorabentscheidungsersuchen ist am 20. Juni 2008 in das Register der Kanzlei des Gerichtshofs eingetragen worden.

24.      Federutility, Libarna Gas, Sorgenia und Assogas, die Kommission sowie die polnische, die estnische und die italienische Regierung haben schriftliche Erklärungen abgegeben.

25.      In einer Anlage zur Ladung zur mündlichen Verhandlung wurde den Parteien des Ausgangsverfahrens und der Italienischen Republik die Frage gestellt, ob die Verpflichtung, in die geschäftlichen Angebote an Einzelne „Referenzpreise“ für die Erdgasversorgung aufzunehmen, bedeutet, dass die Unternehmen ihren Kunden diese Preise vorschlagen und sie auf sie anwenden müssen, es ihnen also untersagt ist, zu anderen Tarifbedingungen Verträge abzuschließen, oder ob diese Preise eine rein indikative Bedeutung haben. Gleichzeitig wurden sie nach dem Anwendungsbereich dieser Verpflichtung gefragt und um Angaben darüber gebeten, ob die betreffenden Kunden nur natürliche Personen sind und juristische Personen ausgeschlossen sind. Federutility, Libarna Gas, Sorgenia und Assogas sowie die italienische Regierung haben jeweils mit Schriftsätzen vom Juli 2009 geantwortet.

26.      In der mündlichen Verhandlung vom 8. September 2009 haben die Vertreter von Federutility, Assogas, Libarna Gas und Sorgenia, der Bevollmächtigte der Kommission sowie die Bevollmächtigten der estnischen und der italienischen Regierung mündliche Erklärungen abgegeben.

V –    Vorbemerkung: Die Preisintervention im Rahmen eines formalen Wettbewerbs

A –    Kein wirksamer Wettbewerb auf dem Erdgasmarkt

27.      Der mit den Richtlinien 96/92/EG(13) und 98/30 eingeleitete Liberalisierungsprozess im Energiesektor erfuhr mit dem Erlass der Richtlinien 2003/54/EG(14) und 2003/55, mit denen die Öffnung der Elektrizitäts‑ und Erdgasmärkte für alle Nicht‑Haushalts‑Kunden ab dem 1. Juli 2004 und für alle Kunden unterschiedslos ab dem 1. Juli 2007(15) beschlossen wurde, eine erhebliche Beschleunigung.

28.      Die Umsetzung dieser ehrgeizigen Agenda oblag den Mitgliedstaaten. Die Fortschritte waren jedoch sehr ungleich. Dies stellte die Kommission in der Mitteilung an den Rat und das Europäische Parlament vom 10. Januar 2007(16) fest, in der sie einräumt, dass zwar „die grundlegenden Konzepte des Energiebinnenmarkts im Rechtsrahmen, in institutionellen Vereinbarungen und in der konkreten Infrastruktur … verankert [wurden], es [aber] keinen nennenswerten Wettbewerb [gibt]. In zahlreichen Fällen haben die Kunden nicht wirklich die Möglichkeit, sich für einen anderen Versorger zu entscheiden“; insgesamt bestehe noch kein großes Vertrauen in den Binnenmarkt(17).

29.      Die Kommission, die sich der Unvollständigkeit des Liberalisierungsprozesses bewusst war, leitete ein drittes Energiepaket in die Wege, mit dem die Unzulänglichkeiten der geltenden Regelung beseitigt werden sollen. Es enthält einen Vorschlag für eine Änderung der Richtlinie 2003/55, der u. a. die tatsächliche Trennung zwischen Erzeugung, Versorgung und dem Betrieb des Netzes vorsieht(18).

30.      Die Kommission ist der Auffassung, dass Eingriffe bei Erdgaspreisen (auch bei Strompreisen) eine der Ursachen und zugleich eine der Folgen des gegenwärtigen Fehlens eines Wettbewerbs im Energiesektor seien. Zum einen führt die Kommission unter den hauptsächlichen Mängeln bei der Umsetzung der neuen Richtlinien Folgendes an: „Regulierte Preise verhindern das Auftreten neuer Marktakteure.“(19) Zum anderen hätten „die etablierten Strom‑ und Gasunternehmen“ infolge dieser Unzulänglichkeiten „ihre marktbeherrschende Stellung auf ihren nationalen Märkten weitgehend gewahrt“, was „viele Mitgliedstaaten dazu bewogen [hat], eine strikte Kontrolle über die den Endverbrauchern in Rechnung gestellten Strom‑ und Gaspreise beizubehalten, wodurch der Wettbewerb leider vielfach ernsthaft eingeschränkt wird“(20).

31.      Das gleichzeitige Bestehen offener Energiemärkte und regulierter Preise ist in den Mitgliedstaaten der Union sehr verbreitet; wie die Kommission in ihrem Bericht vom 15. April 2008 einräumt, ist dies „in einem Drittel der Erdgasmärkte … und in mehr als der Hälfte der Elektrizitätsmärkte der Fall. In den meisten Mitgliedstaaten mit einer Preisregulierung beschränkt sich diese nicht auf Kleinkunden; für alle Kundensegmente können regulierte Preise gelten“(21).

32.      Die dargestellte Situation ist auch die des Gassektors in Italien. Wie die italienische Regierung in ihren Erklärungen ausgeführt hat, zeichnet sich der nationale Erdgasmarkt durch die vorherrschende Rolle von Eni aus, einem Unternehmen, das Monopolist für die Einfuhr von Gas, Eigentümer des größten Teils des Fernleitungsnetzes, Inhaber einer absolut beherrschenden Stellung im Bereich der Verarbeitung und gleichzeitig wichtigster Großhändler ist. Dieses Fehlen eines Wettbewerbs im Großhandel hat das Fortbestehen lokaler Einzelhandelsmonopole ermöglicht, die in der Regel mit den Betreibern des Vertriebsnetzes vertikal verflochten sind. Dieser Kontext scheint das Auftreten weiterer Versorgungsunternehmen überaus kompliziert zu machen: erstens, weil sie Gas von Eni kaufen müssten, die ihnen ihre Bedingungen auferlegen würde, wodurch ihre möglichen Gewinnspannen auf ein Mindestmaß reduziert würden, zweitens aufgrund der Schwierigkeit, auf lokaler Ebene mit den vertikal verflochtenen Wirtschaftsteilnehmern in Wettbewerb zu treten.

B –    Die Regulierung der Preise für die Belieferung vor dem Hintergrund fehlenden Wettbewerbs

33.      Diese Umstände in Verbindung mit einer Tendenz zur Erhöhung des Preises der Erdölerzeugnisse auf den internationalen Märkten liegen dem hier in Rede stehenden Handeln der italienischen Behörden zugrunde. Um zu verhindern, dass der Anstieg der Rohstoffkosten negativ auf die Kunden zurückfällt, wurde beschlossen, die Befugnis der Autorità per l’energia elettrica e il gas, „Referenzpreise“ für die Belieferung von Erdgas an Privatkunden festzulegen, auch nach dem 1. Juli 2007, dem Zeitpunkt, zu dem der italienische Gasmarkt nach den Umsetzungsbestimmungen zur Richtlinie 2003/55 liberalisiert war, fortbestehen zu lassen.

34.      Nach Art. 1 Abs. 3 des italienischen Gesetzes vom 3. August 2007 ist die streitige Befugnis durch folgende Merkmale gekennzeichnet:

1.      Für die Belieferung mit Erdgas werden „Referenzpreise“ festgelegt, die die Unternehmen „in ihre geschäftlichen Angebote aufnehmen müssen, mit der Möglichkeit der Wahl zwischen differenzierten Tarifplänen und Zeitfenstern“.

Auf Befragung der Parteien des Ausgangsverfahrens und der italienischen Regierung über den Umfang dieser Verpflichtung verneinen Erstere in ihrer Antwort, dass diese „Referenzpreise“ einen rein indikativen Charakter hätten. In der Praxis dürften die Erdgasunternehmen ihren Kunden keine alternativen und interessanteren Tarife als die von der Autorità vorgegebenen vorschlagen, wobei deren „Referenzpreise“ bereits unterhalb des europäischen Durchschnitts lägen. Angesichts der großen Zahl der Kunden, denen die Versorgungsunternehmen diese Schutzpreise anböten und auf die sie sie anwenden müssten, sei daraus der Schluss zu ziehen, dass die Möglichkeit anderer Tarife eine rein theoretische sei(22).

2.      Die erwähnten „Referenzpreise“ werden nach Maßgabe der tatsächlichen Kosten der Dienstleistung kalkuliert. Nach den Informationen in den Akten ergeben sich die von der Autorità festgelegten wirtschaftlichen Bedingungen aus der Summe von vier Faktoren: dem Vertriebspreis, dem Preis für Fernleitung und Lagerung, einem variablen Betrag für den Verkauf im Einzelhandel und einem weiteren hinsichtlich der Aufwendungen für den Erwerb des Rohstoffs, einschließlich der mit dem Großhandelskauf des Gases verbundenen Aufwendungen. Die Debatte in dem Rechtsstreit dreht sich um die Berechnung dieses letzten Teils, da der Tarif für den Einzelhandel im Gegensatz zum Großhandelsmarkt, auf dem der Gaspreis dem Kurs der Erdölerzeugnisse folgt, durch eine Schutzklausel geschützt ist, wodurch die Autorità es vermeidet, den gesamten für den Rohstoff aufgewandten Betrag weiterzugeben, wenn dieser sehr hoch ist. Auf diese Weise müssen die Gaslieferanten ihren Kunden einen Preis in Rechnung stellen, aus dem nicht der gesamte für den Rohstoff gezahlte Betrag ersichtlich ist. Um zu verhindern, dass die wirtschaftliche Last dieses Geschäfts ausschließlich auf diese Unternehmen zurückfällt, hat die Autorità die Großhändler verpflichtet, die Verträge über den Verkauf von Gas neu auszuhandeln.(23)

3.      Was den Anwendungsbereich dieser „Referenzpreise“ betrifft, verlangt Art. 1 Abs. 3 des Decreto Legge lediglich, dass sie den „Privatkunden“ vorgeschlagen werden. In der Vorlageentscheidung wird diese Kategorie von Kunden als „unbestimmt“ qualifiziert; dagegen meint die Kommission, dass die „Referenzpreise“ für Familien und Haushalte in Gebäuden mit Zentralheizung mit einem jährlichen Verbrauch von weniger als 200 000 m3 gälten.

Genauer erhellt aus den Ende Juli 2009 abgegebenen Antworten der Parteien des Ausgangsverfahrens und der italienischen Regierung, dass die Verpflichtung, „Referenzpreise“ beizubehalten, zwei Kategorien von Kunden betrifft:

a)      Endkunden, die, da sie bereits vor dem 1. Januar 2003 (wegen eines jährlichen Gasverbrauchs von über 200 000 m3 oder aus anderen Gründen) zugelassen waren, noch keinen neuen Gasbelieferungsvertrag abgeschlossen haben;

b)      Endkunden mit einem Jahresverbrauch unter 200 000 m3.

Die Klägerinnen des Ausgangsverfahrens haben in der mündlichen Verhandlung und in ihren Schriftsätzen vom Juli 2009 hinzugefügt, dass beide Kategorien von Endkunden sowohl Privatpersonen als auch Unternehmen umfassten und juristische Personen nicht ausgeschlossen seien(24). Als Beweis führen sie den Beschluss Nr. 64/09 der Autorità an, dessen Art. 4 die Schutzpreise auf Eigentümergemeinschaften erstrecke, auch wenn der Inhaber des Verteilungspunkts eine juristische Person sei, die die Aufgaben des Verwalters des Miteigentums wahrnehme. Nach Art. 5 des Beschlusses Nr. 64/09 könnten Endkunden, die keine neuen Verträge abgeschlossen hätten und keine Privatpersonen seien, die Schutzregelung bis zum 30. September 2009 oder bis zum 30. September 2010, sofern ihr jährlicher Verbrauch 200 000 m3 nicht überschreite, weiterhin in Anspruch nehmen.

Die italienische Regierung macht dagegen geltend, dass das System der „Referenzpreise“ ausschließlich für Privatpersonen gelte.

4.      Das Decreto Legge in seiner vom italienischen Parlament genehmigten Fassung verleiht der Befugnis der Autorità zur Preisfestsetzung einen Übergangscharakter; diese Fassung ändert somit die ursprüngliche Fassung des Decreto Legge, das zu diesem Aspekt nichts enthielt.

Die klagenden Unternehmen haben in der mündlichen Verhandlung geltend gemacht, dass der Übergangscharakter der Preisfestsetzungsbefugnis nicht ausreichend sei, da zu keinem Zeitpunkt eine äußerste Frist für ihre Ausübung festgesetzt worden sei. Insoweit haben sie auf das kürzlich erlassene Gesetz Nr. 99 vom 23. Juli 2009 verwiesen, das ihrer Auffassung nach der Autorità eine allgemeine und zeitlich unbefristete Regulierungsermächtigung erteilt.

5.      Schließlich erfolgt die Festlegung der „Referenzpreise“ nach den Angaben des italienischen Gesetzgebers „im Bereich gemeinwirtschaftlicher Verpflichtungen“ und mit der Zielsetzung, „die Anwendung der Gemeinschaftsbestimmungen über Universaldienste zu gewährleisten“.

35.      Das Tribunale Amministrativo Regionale per la Lombardia fragt den Gerichtshof, ob eine staatliche Intervention solcher Art in einem liberalisierten Markt wie dem Gasmarkt bei fehlendem wirksamem Wettbewerb gegen Art. 23 der Richtlinie 2003/55 verstößt oder ob eine Berufung auf Art. 3 möglich ist. Daher sind beide Bestimmungen zu prüfen.

VI – Analyse der Vorabentscheidungsfrage

A –    Art. 23 und die Liberalisierung der Preise

36.      Die Schaffung eines Erdgasbinnenmarkts − primäres Ziel der Richtlinie 2003/55 − setzt die Durchführung einer vollständigen Liberalisierung voraus.

37.      Der Gemeinschaftsgesetzgeber hatte schnell erfasst, dass die Öffnung schrittweise erfolgen musste. Ausgangspunkt waren stark regulierte, streng nationale und häufig monopolistische Märkte(25). Die Herausforderung bestand darin, aus ihnen einen einzigen vollständig freien europäischen Markt zu machen, auf dem alle Kunden Gas vom Anbieter ihrer Wahl kaufen können. Die Richtlinie 98/30 stellte einen ersten zaghaften und einleitenden Schritt dar, auf den Art. 23 der Richtlinie 2003/55 folgte, der einen abgestuften Zeitplan bis hin zu der Garantie des Status zugelassener Kunden(26) für alle Kunden einschließlich der Haushalts‑Kunden ankündigte.

38.      Die Frist für die Erreichung dieses Ziels endete am 1. Juli 2007. Seine Verfolgung verlangte die Beseitigung der den Wettbewerb auf dem Erdgasmarkt erschwerenden Schranken, zu denen auch die Tarifinterventionen zählen, soweit sie die Umwandlung unattraktiv machen. Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie verpflichtet die Mitgliedstaaten, „dafür Sorge [zu tragen], dass Erdgasunternehmen nach den in dieser Richtlinie festgelegten Grundsätzen im Hinblick auf die Errichtung eines wettbewerbsorientierten, sicheren und unter ökologischen Aspekten nachhaltigen Erdgasmarkts betrieben werden“.

39.      Nach dem Wortlaut der Richtlinie und dem eindeutigen Bestreben, das sie leitet, erscheint es schwierig, zu behaupten, wie dies die polnische Regierung in ihren schriftlichen Erklärungen tut, dass die Festsetzung der Preise durch das bloße Zusammenspiel von Angebot und Nachfrage keine unverzichtbare Voraussetzung dafür sei, das Recht auf die Wahl des Lieferanten, der dem Kunden am meisten zusagt, zu gewährleisten. Tatsächlich erlegt weder Art. 23 noch eine andere Bestimmung der Richtlinie den Mitgliedstaaten ausdrücklich die Verpflichtung auf, die Bildung der Lieferpreise diesem freien Spiel des Marktes zu überlassen, und einer theoretischen Diskussion darüber, ob es sich um eine für den Verbraucher stets günstige Maßnahme, steht nichts entgegen.

40.      Wichtig ist, dass der Gemeinschaftsgesetzgeber eine Genehmigung der Tarife für die Fernleitung und die Verteilung des Gases durch die Regulierungsbehörden (Art. 25 Abs. 2 der Richtlinie), vorsieht und dass er die Festlegung von Lieferpreisen als reine Ausnahmebefugnis im Rahmen gemeinwirtschaftlicher Verpflichtungen betrachtet (Art. 3 Abs. 2).

B –    Art. 3 und die gemeinwirtschaftlichen Verpflichtungen

41.      Die Liberalisierung des Marktes schließt daher nicht jede Art von Eingriff in den Verkaufspreis von Gas aus. Art. 3 der Richtlinie eröffnet verschiedene Wege, um das Handeln der Mitgliedstaaten in diesem Bereich zu rechtfertigen.

42.      Erstens können sie nach Art. 3 Abs. 2, „den im Gassektor tätigen Unternehmen im allgemeinen wirtschaftlichen Interesse [gemeinwirtschaftliche] Verpflichtungen“ im Hinblick auf den Lieferpreis „auferlegen“. Zweitens setzt Art. 3 Abs. 3 voraus, dass die Mitgliedstaaten geeignete Maßnahmen zum Schutz der Endkunden und insbesondere schutzbedürftiger Kunden ergreifen, indem sie einen hohen Verbraucherschutz gewährleisten.

43.      Die beiden Absätze spiegeln das mehrfache Ziel der Richtlinie 2003/55 wider: Errichtung eines Erdgasbinnenmarkts als Mittel, um die Interessen der Unternehmen − und gleichzeitig − der Verbraucher zu wahren. Liberalisierung für Privatpersonen, aber nicht um jeden Preis, da ein gewisser Grad an Regulierung erforderlich ist, wenn der Markt nicht angemessen funktioniert. Die gemeinwirtschaftlichen Verpflichtungen werden zu einem Instrument für die Strukturierung dieses außerordentlichen staatlichen Eingriffs, und zwar auch nach Ablauf der Frist zum 1. Juli 2007.

44.      Als das zweite Energiepaket verabschiedet wurde, hatte sich die Formel bereits umfassend bewährt. Nach Abschaffung staatlicher Monopole(27) in dem Marktbedingungen unterworfenen Sektor mussten noch bestimmte Anforderungen von allgemeinem Interesse gewährleistet werden. Mit dieser Zielsetzung zog der Gemeinschaftsgesetzgeber gemeinwirtschaftliche Verpflichtungen und eine Garantie des Universaldienstes bereits in den ersten liberalisierten Sektoren, wie dem Post‑, dem Transport‑ und dem Telekommunikationssektor, in Betracht. Der Gerichtshof hat diese abweichenden Gebilde mit besonderer Aufmerksamkeit behandelt, insbesondere im Zusammenhang mit ihrer Finanzierung, und festgestellt, dass Zuschüsse, die als „Ausgleich“ für gemeinwirtschaftliche Verpflichtungen gezahlt werden, keine staatlichen Beihilfen(28) sind und nicht den Vertrag verletzen, wenn sie bestimmte Voraussetzungen erfüllen(29).

45.      Art. 3 Abs. 2 der Richtlinie 2003/55 fügt das Instrument gemeinwirtschaftlicher Verpflichtungen in den Katalog der Instrumente zur Organisation des Gassektors ein, indem den Mitgliedstaaten gestattet wird, den Gasunternehmen bestimmte Lasten aufzuerlegen, sofern dies unabdingbar ist, um ein „allgemeines wirtschaftliches Interesse“ zu wahren, dessen Umfang nicht konkret definiert wird(30).

46.      Die Unbestimmtheit der Richtlinie enthüllt den weiten Ermessensspielraum, den der Gemeinschaftsgesetzgeber den Mitgliedstaaten gewährt hat. Dies bestätigt der 27. Erwägungsgrund, der sich auf die Festlegung „gemeinsamer Mindestnormen“ über die Erfüllung gemeinwirtschaftlicher Verpflichtungen bezieht, einen harten Kern, der die „Ziele des Verbraucherschutzes, der Versorgungssicherheit, des Umweltschutzes und einer gleichwertigen Wettbewerbsintensität in allen Mitgliedstaaten“ umfasst, die im Licht der Besonderheiten jedes Staates „unter Berücksichtigung der einzelstaatlichen Gegebenheiten“ ausgelegt werden, „wobei das Gemeinschaftsrecht einzuhalten ist“.

47.      Die Freiheit der Mitgliedstaaten in diesem Bereich ist jedoch nicht unumschränkt, denn Art. 3 Abs. 6 der Richtlinie sieht eine Kontrolle vor in Bezug auf „alle Maßnahmen, die sie zur Erfüllung gemeinwirtschaftlicher Verpflichtungen einschließlich des Verbraucher‑ und des Umweltschutzes getroffen haben, und … deren mögliche Auswirkungen auf den nationalen und internationalen Wettbewerb“; über diese Maßnahmen ist die Kommission bei der Umsetzung der Richtlinie zu unterrichten. Danach müssen die Mitgliedstaaten alle zwei Jahre sämtliche Änderungen mitteilen(31).

48.      Außerdem umreißt die Richtlinie einige sehr strenge Regeln für die Auferlegung gemeinwirtschaftlicher Verpflichtungen; diese müssen

–        dem „allgemeinen wirtschaftlichen Interesse“ entsprechen;

–        „unter uneingeschränkter Beachtung des Vertrags, insbesondere des Artikels 86“ durchgeführt werden;

–        klar festgelegt, transparent und überprüfbar sein;

–        nichtdiskriminierend sein;

–        den Erdgasunternehmen der Europäischen Union den gleichberechtigten Zugang zu den nationalen Verbrauchern gewährleisten.

49.      Die im vorliegenden Fall in Rede stehende Rechtmäßigkeit der Tarifintervention der Autorità per l’energia elettrica e il gas hängt von der Einhaltung dieser Regeln ab, die vom nationalen Gericht entsprechend der Auslegung der Richtlinie durch den Gerichtshof zu überprüfen ist(32).

50.      Daher sind sowohl das Erfordernis einen „allgemeinen wirtschaftlichen Interesses“ (C) unter Berücksichtigung des Vertrags und insbesondere seines Art. 86 (D) als auch die Nichtdiskriminierung (E) zu prüfen.

C –    Die Erforderlichkeit angemessener Preise als Grund eines „allgemeinen wirtschaftlichen Interesses“

51.      Das Vorliegen eines „allgemeinen wirtschaftlichen Interesses“ zur Rechtfertigung gemeinwirtschaftlicher Verpflichtungen stellt den ersten streitigen Punkt in dieser Rechtssache dar.

52.      Wie die Kommission in ihren schriftlichen Erklärungen geltend macht(33), bedeutet die doppelte Bezugnahme in Art. 3 Abs. 2 der Richtlinie auf Art. 86 EG und das „allgemeine wirtschaftliche Interesse“, dass die dort in Rede stehenden Verpflichtungen den Verpflichtungen im Sinne von Art. 86 EG von Unternehmen, die mit „Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse“ betraut sind, entspricht(34).

53.      Der Gerichtshof hat für eine große und verschiedenartige Gruppe von Dienstleistungen wie, um nur einige Beispiele zu nennen, die Wasser‑(35), Gas‑(36) und Stromversorgung(37), die Sammlung und Verteilung der Post im gesamten Hoheitsgebiet(38), das Betreiben nicht rentabler Fluglinien(39), Krankentransporte(40) oder die Tätigkeit von Pharmagroßhandelsunternehmen(41) das allgemeine wirtschaftliche Interesse bejaht. Es ist schwierig, diesen Entscheidungen(42) ein eindeutiges und genaues Konzept zu entnehmen. Die Richtlinie, der Vertrag und die Rechtsprechung werden von derselben Idee eines Gleichgewichts zwischen dem Markt und der Regulierung, zwischen dem Wettbewerb und den Erfordernissen des allgemeinen Interesses geleitet, und sie stimmen meiner Meinung auch darin überein, dass es − unbeschadet der Möglichkeit für die Gemeinschaftsorgane (insbesondere den Gerichtshof), solche Entscheidungen zu überprüfen und ein Übermaß zu verhindern − Sache der Mitgliedstaaten ist, Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse, die sie erhalten wollen, zu bestimmen(43).

54.      Versuchte man, einen gemeinsamen Nenner zu finden, müsste man auf die berühmten „lois Rolland“ (Rolland‑Gesetze) zurückgreifen, die in den Urteilen Corbeau(44) und Almelo u. a.(45) mittelbar angesprochen werden, wenn die Umstände ausgeführt werden, unter denen die Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse erbracht werden: ununterbrochen (Kontinuität), zugunsten aller Kunden und in der Gesamtheit des betreffenden Staatsgebiets (Universalität), zu einheitlichen Tarifen und in vergleichbarer Qualität ohne Rücksicht auf Sonderfälle oder den Grad der wirtschaftlichen Rentabilität jedes einzelnen Geschäfts (Gleichheit).

55.      Kontinuität, Universalität und Gleichheit. Zu diesen drei klassischen Regeln pflegt man heute die Transparenz und die wirtschaftliche Zugänglichkeit der Dienstleistung hinzuzuzählen. Daher strebt die Richtlinie 2003/55 die Kontinuität und die Nichtdiskriminierung bei der Tätigkeit der Gasversorgung(46) an, verfolgt aber auch die Wahrung des Rechts der Kunden „auf Versorgung mit Erdgas einer bestimmten Qualität zu angemessenen Preisen“ (26. Erwägungsgrund). Hieraus erklärt sich die in Art. 3 Abs. 2 der Richtlinie vorgesehene Möglichkeit, beim Preis der Gasversorgung zu intervenieren.

56.      Ergebnis ist daher, dass die Zielsetzung, unerwünschte und unangemessene Preiserhöhungen, die den Verbrauchern schaden, zu vermeiden, ein Grund von „allgemeinem wirtschaftlichen Interesse“ ist, der, sofern die übrigen Voraussetzungen der Richtlinie vorliegen, ein staatliches Eingreifen in die Tarife für die Erdgasversorgung rechtfertigte.

D –    Prüfung der Verhältnismäßigkeit und Beachtung der Gemeinschaftsinteressen

57.      Die zweite Regel betrifft die umfassende Einhaltung des Vertrags und insbesondere seines Art. 86.

58.      Eine große Relevanz kommt Art. 86 Abs. 2 EG zu, der nach der Rechtsprechung „das Interesse der Mitgliedstaaten am Einsatz bestimmter Unternehmen, insbesondere solcher des öffentlichen Sektors, als Instrument der Wirtschafts‑ oder Fiskalpolitik mit dem Interesse der Gemeinschaft an der Einhaltung der Wettbewerbsregeln und der Wahrung der Einheit des Gemeinsamen Marktes in Einklang bringen [soll]“ (47).

59.      Nach dieser Bestimmung gelten für „Unternehmen, die mit Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse betraut sind“, der Vertrag und seine Wettbewerbsvorschriften, soweit ihre Anwendung nicht die Erfüllung der ihnen übertragenen Aufgabe rechtlich oder tatsächlich verhindert; jedenfalls darf die Entwicklung des Handelsverkehrs nicht in einer der Gemeinschaft zuwiderlaufenden Weise beeinträchtigt werden.

60.      In dem hier zu entscheidenden Fall ist zu prüfen: erstens, ob das Eingreifen in die Gasversorgungstarife eine unerlässliche Maßnahme ist, um „angemessene Preise“ zu gewährleisten (sogenannte Verhältnismäßigkeitsprüfung), und zweitens, ob diese Möglichkeit das „Interesse der Gemeinschaft“ verletzt.

1.      Die Prüfung der Verhältnismäßigkeit

61.      Mit dem vorstehend erwähnten Absatz der Bestimmung, wonach eine Ausnahme von den Marktbedingungen weder tatsächlich noch rechtlich die Erfüllung der Aufgabe des allgemeinen wirtschaftlichen Interesses verhindern darf, wird die sogenannte „Verhältnismäßigkeitsprüfung“ in die Diskussion eingeführt; sie ist der Schlüssel zu Art. 86 Abs. 2 EG, da sie seine Anwendung bestimmt.

a)      Die Rechtsprechung

62.      Das Urteil Sacchi hat ein wachsendes Interesse an diesen Artikel geweckt, weil den Mitgliedstaaten der Nachweis überlassen wurde, dass der freie Wettbewerb ein unüberwindliches Hindernis für die Funktion darstellt, die der betreffenden Einheit zugewiesen ist(48). Sodann wurde im Urteil Höfner ausgeführt, dass der Vertrag der Aufgabe, die einer öffentlichen‑rechtlichen Anstalt für Arbeitsvermittlung zugewiesen ist, nicht entgegensteht, „wenn die Anstalt … nicht in der Lage ist, die Nachfrage auf dem Markt nach solchen Leistungen zu befriedigen“, und eine Beeinträchtigung ihres Monopols durch die genannten Unternehmen duldet(49).

63.      Doch bis zum Urteil Corbeau taucht der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit nicht in den Erwägungen des Gerichtshofs auf. Im Urteil Corbeau und später im Urteil Almelo u. a. wurden Ausnahmen von den Marktbedingungen, die notwendig sind, um das „wirtschaftliche Gleichgewicht“ der Dienstleistung sicherzustellen, nach Maßgabe des jeweiligen Gewichts der rentablen und der nicht rentablen Tätigkeiten zugelassen.

64.      Später lieferten drei Urteile zu ausschließlichen Energieein‑ und ‑ausfuhrrechten in den Niederlanden, in Italien und in Frankreich(50) weitere Einzelheiten. Zum einen wurde auf die Verhältnismäßigkeit im Rahmen des Art. 86 EG hingewiesen und die Berufung auf seinen Abs. 2 gestattet, „um einem Unternehmen, das mit Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse betraut ist, … ausschließliche Rechte zu übertragen, soweit die Erfüllung der diesem übertragenen besonderen Aufgabe nur durch die Einräumung solcher Rechte gesichert werden kann und soweit die Entwicklung des Handelsverkehrs nicht in einem Ausmaß beeinträchtigt wird, das dem Interesse der Gemeinschaft zuwiderläuft“(51). Zum anderen fügten diese Urteile hinzu, dass es für die Nichtanwendung der Vorschriften des Vertrags ausreichend sei, dass ihre Anwendung „die Erfüllung der besonderen Verpflichtungen, die diesem Unternehmen obliegen, tatsächlich oder rechtlich [verhindern] würden. Es ist nicht erforderlich, dass das Überleben des Unternehmens bedroht ist“(52); auch wenn die Beweislast bei dem betreffenden Mitgliedstaat liege, könne von ihm nicht verlangt werden, nachzuweisen, „dass keine andere vorstellbare, der Natur der Sache nach hypothetische Maßnahme es erlaubte, die Erfüllung dieser Aufgaben unter solchen Bedingungen sicherzustellen“(53).

65.      Aus der Rechtsprechung ist abzuleiten, dass von den Wettbewerbsvorschriften des Art. 86 EG nur abgewichen werden kann, wenn dies für die Wahrnehmung der fraglichen Aufgabe von allgemeinem Interesse erforderlich ist, wobei es Sache der Mitgliedstaaten ist, diese Umstände nach Maßgabe ihrer nationalen Politik und unter Beachtung des Vertrags zu beurteilen.

b)      Ihre Übertragung auf den Streitfall

66.      Die italienische Regierung entschied sich mit dem Decreto Legge dafür, der nationalen Regulierungsbehörde eine Befugnis zur Intervention bei den Erdgasversorgungstarifen zu verleihen, wobei als Grund das Fehlen eines effektiven Wettbewerbs auf den nationalen Gasmarkt und eine Tendenz zur Anhebung des Preises für Erdölerzeugnisse auf den internationalen Märkten angeführt wird.

67.      Meiner Auffassung nach kann eine solche Situation eventuell die Verfolgung des „allgemeinen wirtschaftlichen Interesses“ beeinträchtigen, das in der Gasversorgung zu angemessenen Preisen besteht, und damit die Einmischung des Staates in das freie Spiel der Regeln der Marktes rechtfertigen.

68.      In ihrer bereits genannten Mitteilung vom 10. Januar 2007 räumt die Kommission ein, dass „[d]ie bisherige Erfahrung … gezeigt [hat], dass die Großhandelsenergiepreise stark schwanken. Daraus ergibt sich die Frage, ob und in welcher Weise Endverbraucher, und insbesondere schutzbedürftige Kunden, solchen Preisschwankungen ausgesetzt werden sollten“. In diesem Bewusstsein fügt sie hinzu: „Obwohl Preiskontrolle Preissignale an die Verbraucher bezüglich künftiger Kosten unterbindet, kann unter bestimmten Umständen Preisregulierung zum Verbraucherschutz notwendig sein, zum Beispiel während des Übergangs zu wirksamem Wettbewerb. Die Preisregulierung muss ausgewogen sein, um nicht die Marktöffnung zu gefährden, eine Diskriminierung zwischen Energieversorgern der EU zu bewirken, Wettbewerbsverzerrungen zu intensivieren oder den Weiterverkauf einzuschränken.“(54)

69.      Somit muss die Intervention verhältnismäßig in Bezug auf das verfolgte Ziel sein, was nach der Rechtsprechung voraussetzt, dass sie nicht über das hinausgehen darf, was für die Erreichung des einschlägigen Zieles von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse erforderlich ist: im vorliegenden Fall gemäßigte Preise. Zur Durchführung der Verhältnismäßigkeitsprüfung sind als Richtschnur die aus der angeführten Rechtsprechung abgeleiteten Kriterien heranzuziehen:

i)      Vorübergehende Geltung und Möglichkeit der Anpassung

70.      Der zeitlich befristete Charakter der Maßnahme ist meiner Auffassung nach die erste und hauptsächliche Konsequenz aus dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, da die Ausnahme von den Vorschriften des Binnenmarkts ihre Rechtfertigung verliert, wenn sich die Situation verändert: so z. B., wenn Wettbewerber auf den Großhandelsmarkt gelangen oder wenn sich die Preise stabilisieren. Eine Preisfestsetzungsbefugnis mit unbefristeter Geltung verstieße daher gegen diese Regel(55); nicht erforderlich wäre es jedoch, einen Zeitpunkt des Endes der Interventionsbefugnis festlegen. Außerdem stellen die Möglichkeit der Anpassung der Maßnahme an neue Gegebenheiten und ihre regelmäßige Aktualisierung(56) positiv zu bewertende Aspekte dar.

ii)    Inhalt

71.      Zweitens ist der Inhalt des streitigen Handelns zu beurteilen. Will man vermeiden, dass der Betrag, den der Erdgasendverbraucher zahlt, durch den Anstieg der Kosten für Erdöl übermäßig steigt, so muss sich das staatliche Eingreifen ausschließlich auf das Element des Rohstoffpreises beschränken(57).

iii) Adressaten

72.      Drittens verpflichtet die Verhältnismäßigkeit zur Einschränkung des Adressatenkreises der behördlichen Entscheidung. Zwangstarife für Geschäftskunden (andere als Familien oder „Haushalts‑Kunden“) stünden außerhalb des Ziels des Verbraucherschutzes, das letztlich die staatliche Einmischung in den Markt deckt. Im Ausgangsverfahren wäre festzustellen, ob die im Decreto legge genannte Kategorie der „Privatkunden“ dieses Merkmal erfüllt. Die Klägerinnen des Ausgangsverfahrens und die italienische Regierung haben in der mündlichen Verhandlung ihre unterschiedlichen Auffassungen hierzu dargetan. Es ist Sache des nationalen Gerichts, festzustellen, ob − nach der italienischen Regelung und insbesondere nach dem Beschluss Nr. 64/09 der Autorità − der Tarifschutz auf Unternehmen anwendbar ist; bejahendenfalls wäre davon auszugehen, dass diese Intervention unverhältnismäßig ist und daher gegen das Gemeinschaftsrecht verstößt.

73.      Federutility, Assogas und Libarna kritisieren außerdem die über die Kategorie der „schutzbedürftigen Kunden“ gemäß Art. 3 Abs. 3 der Richtlinie hinausreichende Erstreckung der „Referenzpreise“. In der Bestimmung kommt eine besondere Besorgnis in Bezug auf diese Personengruppe zum Ausdruck (anschließend werden die Kunden in abgelegenen Gebieten erwähnt), dies freilich im Rahmen einer allgemeinen Verpflichtung zum Schutz der Verbraucher. Daher ist weder Abs. 3 noch dem vorhergehenden Abs. 2 zu entnehmen, dass gemeinwirtschaftliche Verpflichtungen immer auf einer gesellschaftlichen Solidarität beruhen müssen.

iv)    Vergleich mit anderen Instrumenten

74.      Viertens ist unter allen möglichen Lösungen diejenige zu wählen, die den freien Wettbewerb am wenigsten beeinträchtigt. Die Rechtsprechung hat den Mitgliedstaaten in diesem Bereich ein weites Ermessen eingeräumt, von denen keine probatio diabolica dahin zu verlangen ist, dass „keine andere vorstellbare, der Natur der Sache nach hypothetische Maßnahme es erlaubte, die Erfüllung dieser Aufgaben unter solchen Bedingungen sicherzustellen“(58). So schloss das Urteil Albany(59) aus, dass die Behörden sich für die den Wettbewerb weniger beschränkende Lösung entscheiden.

75.      Federutility meint, dass der italienische Staat die Qualität und den Preis der Versorgung (sowie deren Sicherheit und Regelmäßigkeit) durch die Benennung eines Versorgers letzter Instanz schütze. Es ist Sache des italienischen Richters, zu prüfen, ob die Tarifintervention und der (in Art. 3 Abs. 3 der Richtlinie vorgesehene) Universaldienst sich zu ein und demselben Ziel verbinden oder auf unterschiedliche und einander ergänzende Ziele gerichtet sind.

76.      Das „benchmarking“ der Kommission auf der Grundlage von Art. 3 Abs. 6 der Richtlinie könnte für eine derartige Kontrolle verwendet werden, indem die Regelungen in den verschiedenen Mitgliedstaaten miteinander verglichen werden. Diese Art von Vergleich ist jedoch mit größter Vorsicht anzustellen, da die Richtlinie selbst anordnet, dass „[g]emeinwirtschaftliche Verpflichtungen … unter Berücksichtigung der einzelstaatlichen Gegebenheiten aus nationaler Sicht ausgelegt werden können [müssen], wobei das Gemeinschaftsrecht einzuhalten ist“ (27. Erwägungsgrund)

2.      Der Verstoß gegen das „Interesse der Gemeinschaft“

77.      Unbeschadet der dargestellten Verhältnismäßigkeitsprüfung verlangt Art. 86 Abs. 2 EG, dass die erlassene Maßnahme den Handelsverkehr nicht in einer Weise beeinträchtigt, die „dem Interesse der Gemeinschaft zuwiderläuft“.

78.      In den oben angeführten drei Urteilen vom 23. Oktober 1997(60) gab der Gerichtshof der Kommission auf, dieses Interesse zu definieren. Wie jedoch Generalanwalt Léger in seinen Schlussanträgen in der Rechtssache Wouters u. a.(61) bemerkt, erklären sich diese Anordnungen aus den Regeln der Beweislastverteilung in Vertragsverletzungsverfahren. Ich stimme meinem früheren Kollegen darin zu, dass die Beurteilung einer Beeinträchtigung des innergemeinschaftlichen Handelsverkehrs im Sinne von Art. 86 Abs. 2 EG − im Unterschied zu dem klassischen Konzept einer Maßnahme mit gleicher Wirkung wie eine mengenmäßigen Beschränkung − den Nachweis voraussetzt, dass die streitige Maßnahme den Binnenmarkt wesentlich beeinträchtigt hat.

79.      Im vorliegenden Fall wird das italienische Gericht klären müssen, ob der Eingriff der Autorità in die Preise zu einer solchen Beeinträchtigung geführt hat. In seiner Vorlageentscheidung vermutet das Gericht eine negative Auswirkung des Fortbestehens einer Regelung, die die Kosten des Rohstoffs begrenzt, auf das Recht der Wahl des Lieferanten, das die Richtlinie schützt. Das Gericht hat auch zu prüfen, ob eine tatsächliche Beeinträchtigung eingetreten ist und ob, wie geltend gemacht wurde(62), die Intervention die Öffnung des Marktes behindert hat.

E –    Nicht diskriminierender Charakter der gemeinwirtschaftlichen Verpflichtungen

80.      Gemäß Art. 3 Abs. 2 der Richtlinie dürfen die den im Gassektor tätigen Unternehmen auferlegten gemeinwirtschaftlichen Verpflichtungen nicht diskriminierend sein.

81.      Diese Klarstellung in der Vorschrift zielt darauf, dass die Verpflichtungen alle Wirtschaftsteilnehmer des Sektors in gleicher Weise binden, um das Fehlen des Wettbewerbs nicht zu verschlimmern.

82.      Die Richtlinie wäre z. B. durch die Einführung von „Referenzpreisen“ allein für den beherrschenden Wirtschaftsteilnehmer und den Vorteil, den dieser daraus zieht, verletzt. Dieser Umstand − und die unbestimmte Geltungsdauer der Maßnahme − war für den französischen Conseil constitutionnel Anlass, eine Vorschrift, die „etablierte Wirtschaftsteilnehmer“ zwingenden Tarifen für die Erdgas‑ und Elektrizitätsversorgung unterwarf, als verfassungswidrig zu qualifizieren(63).

83.      Eine generelle und unterschiedslose Anwendung gewährleistet aber auch nicht der Gleichheitsgrundsatz. Das Unternehmen Assogas führt aus, dass die Beschlüsse der Autorità eine Ungleichbehandlung zwischen den Erdgasversorgern, die gleichzeitig als Großhändler tätig seien, und denen, die das nicht seien, bewirke; denn da beide verpflichtet seien, die Mindest‑„Referenzpreise“ zu akzeptieren, seien Erstere nicht daran gehindert, die Mehrkosten für den Rohstoff in den Verkäufen an Letztere weiterzugeben. Aus den Akten ergibt sich, dass die Autorità versuchte, diese Beeinträchtigung für die Einzelhändler abzuschwächen, indem sie einen neuen Abschluss der Großhandelskaufverträge vorsah(64). Assogas meint, dass dies nicht ausreiche, da sich die Autorità in privatrechtliche Beziehungen einmischen könne. Das vorlegende Gericht muss daher prüfen, ob eine durch eine tatsächliche Beeinträchtigung einiger Erdgaseinzelhändler verursachte Diskriminierung stattgefunden hat.

F –    Zur Rolle von Art. 3 Abs. 3 der Richtlinie im vorliegenden Fall

84.      Während Art. 3 Abs. 2 der Richtlinie die Schaffung gemeinwirtschaftlicher Verpflichtungen als eine von den Mitgliedstaaten „im allgemeinen Interesse“ wahrgenommene bloße Befugnis vorsieht, haben die Mitgliedstaaten nach Abs. 3 eine generelle Verpflichtung, „geeignete Maßnahmen zum Schutz der Endkunden [zu ergreifen] und … eine[n] hohe[n] Verbraucherschutz [zu gewährleisten]“.

85.      Die Möglichkeit, die vorliegende Rechtssache unter Abs. 3 zu subsumieren, wird in einer Reihe der in diesem Vorabentscheidungsverfahren eingereichten schriftlichen Erklärungen erwähnt, jedoch mehr oder weniger entschieden zurückgewiesen.

86.      Einige der Klägerinnen des Ausgangsverfahrens machen geltend, dass die streitigen Beschlüsse vom Anwendungsbereich des Abs. 3 nicht gedeckt seien, da sie auf alle Arten von Kunden und nicht nur auf die „schutzbedürftigen“ anwendbar seien. Dieses Vorbringen ist unbegründet, weil die Bestimmung sich nicht auf diese Personen beschränkt, auch wenn sie sie ausdrücklich nennt, um ihnen einen besonderen Schutz zu verschaffen.

87.      Ich bin wie die Kommission der Auffassung, dass die Entscheidungen, die die nationalen Regierungen nach Art. 3 Abs. 3 der Richtlinie zu erlassen haben, „sich nicht unmittelbar auf die Festlegung von Tarifverpflichtungen beziehen, da in Abs. 2 insoweit eine speziellere Regelung enthalten ist“.

88.      Lediglich mittelbar spielt Abs. 3 auf Regelungen an, die die Erdgasversorgungspreise beeinträchtigen, wenn in Anhang A, auf den er verweist, das Erfordernis aufgenommen ist, die Verbraucher über ihr Recht „auf Versorgung mit Erdgas einer bestimmten Qualität zu angemessenen Preisen“ (Buchst. g) zu informieren.

89.      Der Eingriff in den Lieferpreis ist daher eine bloße Möglichkeit, die in Abs. 2 und nicht in Abs. 3 geregelt ist.

90.      Art. 3 Abs. 3 stärkt die Befugnisse der Mitgliedstaaten, indem er ihnen gestattet und sie sogar dazu verpflichtet, auf einem liberalisierten Markt wie dem Erdgasmarkt tätig zu werden, wenn sie eine tatsächliche Bedrohung für die Kunden ausmachen, die mit den Instrumenten des Abs. 2 nicht ausgeräumt werden kann.

VII – Ergebnis

91.      Nach alledem schlage ich dem Gerichtshof vor, die Vorabentscheidungsfrage des Tribunale Amministrativo della Lombardia (Italien) wie folgt zu beantworten:

Die Art. 3 und 23 der Richtlinie 2003/55/EG sind dahin auszulegen, dass sie einer nationalen Regelung nicht entgegenstehen, die unter Berücksichtigung der besonderen Situation eines Marktes, der noch dadurch gekennzeichnet ist, dass Bedingungen eines „wirksamen Wettbewerbs“ fehlen, die behördliche Festlegung des Referenzpreises für Erdgas, der in den geschäftlichen Angeboten an Haushalts‑Kunden zwingend enthalten sein muss, zulässt, sofern die Voraussetzungen des Art. 3 Abs. 2 der Richtlinie 2003/55 erfüllt sind, wonach die Regelung insbesondere

–        an einem allgemeinen wirtschaftlichen Interesse ausgerichtet sein muss, z. B. dem Erfordernis, die Preise auf einem angemessenen Niveau zu halten,

–        die sogenannte Verhältnismäßigkeitsprüfung in Bezug auf ihre Geltungsdauer, ihren Inhalt und ihre Adressaten bestehen muss,

–        das Funktionieren des Binnenmarkts nicht wesentlich beeinträchtigen darf,

–        keine Diskriminierung unter den Wirtschaftsteilnehmern des Sektors bewirken darf.


1 – Originalsprache: Spanisch.


2 – Von Ernst Forsthoff in seiner Theorie der Daseinsvorsorge geprägte Terminologie (E. Forsthoff, Der Staat der Industriegesellschaft, C. H. Beck, München, 2. Aufl. 1971).


3 –      Wie T. R. Fernández in „Del servicio público a la liberalización desde 1950 hasta hoy“, Revista de Administración Pública, Nr. 150, September-Oktober 1999, S. 57‑73, meisterlich aufgezeigt hat.


4 –      Alexandre Dumas erklärt 1848 in seinem Roman (La femme aux collier de velours (Die Frau mit dem Samtband), (Mille et un fantômes [Tausend und ein Gespenst], deutsche Ausgabe: Berlin, Reiher, 1991): „Nodier empfand Abscheu vor allen Erfindungen, Gas machte ihn wütend, Dampf erzürnte ihn, er sah das Ende der Welt in der Zerstörung der Wälder und der Erschöpfung der Kohleminen“ (freie Übersetzung)


5 –      Eine der ersten Anwendungen von Gas erfand der Franzose Montgolfier, als er seine berühmten Ballons unter Ausnutzung der Leichtigkeit von Wasserstoff aufsteigen ließ.


      Mariano José de Larra schrieb 1833 drei Artikel mit dem Titel „Ascensión aerostática“, Artículos completos, Ed. RBA e Instituto Cervantes. Der erste Artikel (S. 482 ff.) berichtet von dem Versuch des Spaniers García Rozo, am 28. April 1833 in Anwesenheit der königlichen Familie und unter einer außergewöhnlich hohen Erwartung einen Ballon über dem Blumenbeet des Retiro-Parks in Madrid aufsteigen zu lassen. Der Versuch missglückte aus verschiedenen Gründen, u. a., weil es regnete. Im zweiten Artikel (S. 546 ff.) konzentriert sich der Bericht auf einen weiteren Versuch von García Rozo einige Tage später auf der Plaza de Oriente, bei dem ihm das Aufblasen des Ballons nicht gelang, womit sich die Szene von Don Quijote und Sancho wiederholte, als sie sich auf dem Ross Clavileño auf einer Reise in die Region des Feuers wähnen, während sie den Luftzug des Blasebalgs vom Hause des Herzogs spüren. Der dritte Artikel, der in dem genannten Werk nicht enthalten ist, bezieht sich in kürzerer Form erneut auf das Fiasco auf der Plaza de Oriente.


      Sodann erscheint Gas als Fortschritt der Moderne:


      José Maria Eça de Queirós, in „La Reliquia“, Obras Completas, ins Spanische übersetzt von Julio Gómez de la Serna, Ed. Aguilar, Madrid, 1954, Band I, S. 179 ff. legt dem Protagonisten Folgendes in den Mund: „Hatte ich unwiderruflich meine Individualität eines Raposo, eines Katholiken, eines Graduierten, eines Zeitgenossen der Times und des Gases verloren, um zu einem Menschen der Antike, einem Zeitgenossen des Tiberius zu werden?“ (freie Übersetzung).


      Schließlich hält Gas Einzug in den Alltag, um Straßen oder Wohnungen zu erleuchten:


      Irène Némirovsky erzählt in „Der Ball“ (ins Deutsche übersetzt von Claudia Kalscheuer, btb, München, 1. Aufl. 2007, S. 11), dass die Mutter von Antoinette, der Protagonistin, „unter einer großen Hängelampe mit der trüben Glaskugel saß, in der die Gasflamme flackerte, und auf die Ellenbogen gestützt Romane las“, und auf S. 49 beschreibt sie, wie Antoinette an einem frühen Abend in Paris vom Laternenanzünder angerempelt wurde, der mit seiner langen Stange die Straßenlampen berührte, die eine nach der anderen aufflammten.


      Ana María Matute, Gewinnerin der Preise Planeta, Nadal und Café de Gijón und für den Literaturnobelpreis nominiert, erwähnt in Paraiso inhabitado (Ed. Destino, Barcelona, 2008, S. 11) den Laternenanzünder, der in der Abenddämmerung in den Jahren vor der zweiten spanischen Republik „mit seinem langen Stab in den Gaslaternen zitternde bläuliche Flämmchen entzündete“.


6 –      M. del C. Simón Palmer, „El gas en la obra de Galdós“, Actas del IV Congreso internacional de estudios galdosianos de 1990, herausgegeben vom Cabildo Insular de Gran Canaria, Las Palmas, 1993, Band II, S. 565 ff., führt zahlreiche Passagen aus den Episodios Nacionales, aus Fortunata y Jacinta, aus Tormento, aus La desheredada oder aus Doña Perfecta an.


7 – Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über gemeinsame Vorschriften für den Erdgasbinnenmarkt und zur Aufhebung der Richtlinie 98/30/EG (ABl. L 176, S. 57).


8Rapport public du Conseil d’État, 1994, Considérations générales: Service public, services publics: déclin ou renouveau, Etudes et Documents Nr. 46, Paris, 1995.


9 – Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Juni 1998 betreffend gemeinsame Vorschriften für den Erdgasbinnenmarkt (ABl. L 204, S. 1).


10 – Nach Buchst. g dieses Anhangs A „soll mit den … Maßnahmen sichergestellt werden, dass die Kunden … soweit sie an das Gasnetz angeschlossen sind, über ihre gemäß dem einschlägigen einzelstaatlichen Recht bestehenden Rechte auf Versorgung mit Erdgas einer bestimmten Qualität zu angemessenen Preisen informiert werden“.


11 –      Die Fassung des Art. 1 Abs. 3 des Decreto Legge wich leicht von der des entsprechenden Artikels des Validierungsgesetzes ab, die klarstellte, dass die Befugnis der Autorità für eine Übergangszeit besteht.


12 – Klagen R.G. 1276/07, R.G. 1279/07, R.G. 1285/07, R.G. 1359/07 und R.G. 1490/07.


13 – Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates vom 19. Dezember 1996 betreffend gemeinsame Vorschriften für den Elektrizitätsbinnenmarkt (ABl. L 27, S. 20).


14 –      Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2003 über gemeinsame Vorschriften für den Elektrizitätsbinnenmarkt und zur Aufhebung der Richtlinie 96/92/EG (ABl. L 176, S. 37).


15 – Art. 21 der Richtlinie 2003/54 und Art. 23 der Richtlinie 2003/55.


16 –      Mitteilung der Kommission an den Rat und das Europäische Parlament − Aussichten für den Erdgas- und den Elektrizitätsbinnenmarkt (KOM[2006] 841 endgültig).


17 – Mehr noch waren, wie Peter D. Cameron ausführt, „die Vorteile der Liberalisierung des Energiemarkts … bislang weniger offensichtlich als erwartet: niedrigere Preise sind nicht notwendigerweise eine Folge der Liberalisierung, ebenso wenig ein Rückgang der staatlichen Einflussnahme; die Marktmacht etablierter Unternehmen hat zugenommen, und das Warten auf das Auftreten neuer Akteure auf den Elektrizitäts- und Erdgasmärkten erweckt mehr den Eindruck eines ‚Warten auf Godot‘“. (Cameron, P., Legal aspects of EU energy regulation. Implementing the New Directives on Electricity and Gas Across Europe, Oxford University Press, 2005, S. 36).


18 – Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Richtlinie 2003/55 (KOM[2007] 529 endgültig).


19 – Mitteilung vom 10. Januar 2007, Abschnitt 1.3.


20 – Mitteilung vom 10. Januar 2007, Abschnitt 1.4.


21 – Bericht der Kommission an das Europäische Parlament und den Rat über die Fortschritte bei der Verwirklichung des Erdgas- und Elektrizitätsbinnenmarktes (KOM[2008] 192 endgültig).


22 –      Schriftsätze von Federutility vom 31. Juli 2009, Randnrn. 7 bis 9, und von Sorgenia vom 31. Juli 2009, Abschnitt 1.


23 –      In diesem Sinne schriftliche Erklärungen von Sorgenia, S. 5 und 6.


24 –      Schriftsätze von Federutility vom 31. Juli 2009, Randnrn. 12 und 13; und von Sorgenia, vom 31. Juli 2009, Abschnitt 2.


25 – Nicht selten mit Monopolen in öffentlichem Eigentum.


26 – Im Sinne von Art. 2 der Richtlinie.


27 – „Bei denen unterstellt wurde“, wie Jones, C.W., EU Energy Law, Volume I, The Internal Energy Market, Second Edition, Leuven: Caléis & Castells, 2006, S. 223, schreibt, „dass sie stets im öffentlichen Interesse handelten“.


28 – Im Sinne von Art. 87 Abs. 1 EG.


29 – Urteil vom 24. Juli 2003, Altmark (C‑280/00, Slg. 2003, I‑7747), Randnr. 84-95. Das Urteil vom 27. November 2003, Enirisorse, (C‑34/01 bis C‑38/01, Slg. 2003, I‑14243), wandte die in der vorherigen Entscheidung aufgestellten Voraussetzungen auf eine Rechtssache an, in der die Natur einer teilweise von einem öffentlichen Unternehmen erhobenen Hafenabgabe erörtert wurde. Vor dem Urteil Altmark führte bereits das Urteil vom 22. November 2001, Ferring (C‑53/00, Slg. 2001, I‑9067), die Kriterien auf, die erforderlich sind, damit eine Steuerbefreiung für die Unternehmen, die gemeinwirtschaftliche Dienstleistungen erbringen, mit dem Vertrag vereinbar ist.


30 – Die Richtlinie beschränkt sich auf den Hinweis, dass die gemeinwirtschaftlichen Verpflichtungen in diesem Interesse geschaffen werden und „sich auf Sicherheit, einschließlich Versorgungssicherheit, Regelmäßigkeit, Qualität und Preis der Versorgung sowie Umweltschutz, einschließlich Energieeffizienz und Klimaschutz, beziehen können“. Manche haben diese Aufzählung als numerus clausus von Gründen des „allgemeinen wirtschaftlichen Interesses“ qualifiziert, die das staatliche Handeln rechtfertigen können (Geldhof, W., und Vandendriessche, F., „Chapter 1: European Electricity and Gas Market Liberalisation. Background, Status, Developments“, EU Energy Law and Policy Issues, herausgegeben von Delvaux, B., Hunt, M., und Talus, K., Euroconfidentiel, S. 48, die sich ihrerseits auf Jones, C. W., a. a. O., S. 230, beziehen). Meiner Auffassung nach beschreibt diese Bestimmung jedoch die einzelnen Handlungsformen, in denen sich die gemeinwirtschaftlichen Verpflichtungen manifestieren, und keine Liste von Umständen, die ihnen zugrunde liegen müssen, auch wenn beide Gesichtspunkte eng mit einander verbunden sind. Art. 3 Abs. 2 der Richtlinie ist zu entnehmen, dass die Mitgliedstaaten gemeinwirtschaftliche Verpflichtungen hinsichtlich des Lieferpreises für Gas schaffen können, doch diese bloße Erwähnung ist nicht ausreichend. In jedem Fall ist nachzuweisen, dass es sich um eine Aufgabe von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse handelt.


31 – Die Kommission hat versucht, die Anforderungen der Richtlinie in einer unverbindlichen Mitteilung zu erläutern, die sie teilweise zur Durchführung einer ex ante Überprüfung der von dem Mitgliedstaaten mitgeteilten gemeinwirtschaftlichen Verpflichtungen heranzieht („Note de la DG Energie et Transports sur les Directives 2003/54/CE et 2003/55/CE du marché interieur de l'électricité et du gaz naturel. Document n'engageant pas la Commission“, im Internet verfügbar unter http://ec.europa.eu/energy/electricity/legislation/doc/notes_for_implementation_2004/public_service_obligations_fr.pdf). Um die Position der Kommission bei dieser Überprüfungstätigkeit zu stärken, empfiehlt das dritte Energiepaket, dass die Kommission Leitlinien für die Durchführung von Art. 3 der Richtlinie erlässt (Abschnitt 3.5 des bereits angeführten Vorschlags für eine Richtlinie zur Änderung der Richtlinie 2003/55, mit dem ein neuer Abs. 7 in Art. 3 der Richtlinie 2003/55 eingefügt wird).


32 – Nach Art. 3 Abs. 6 der Richtlinie ist die Kommission von diesen Maßnahmen zu unterrichten, was die italienische Regierung nach entsprechender Aufforderung getan hat (schriftliche Erklärungen der Kommission, Randnr. 42).


33 –      Ebd., Randnr. 38.


34 – Der Ausdruck „Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse“ betrifft Dienstleistungen wirtschaftlicher Art, die ein Mitgliedstaat angesichts eines allgemeinen Interesses Verpflichtungen unterwirft (Szyszczak, E., The Regulation of the State in Competitive Markets in the EU, Ed. Hart, 2007, S. 211). Der Wortlaut des Art. 3 Abs. 2 der Richtlinie ergibt sich nach Laget-Annamayer aus einer Verbindung zwischen dem französischen Konzept des service public und dem Gemeinschaftsbegriff „Dienstleistung von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse“ (Laget-Annamayer, A., La régulation des services publics en réseaux. Télécommunications et électricité, Ed. Bruylant, Brüssel 2002, S. 98).


35 – Urteil vom 8. November 1983, IAZ International Belgium u. a. (96/82 bis 102/82, 104/82, 105/82, 108/82 und 110/82, Slg. 1983, 3369).


36 –      Urteil vom 23. Oktober 1997, Kommission/Frankreich (C‑159/94, Slg. 1997, I‑5815).


37–      Urteil vom 27. April 1994, Almelo u. a. (C‑393/92, Slg. 1994, I‑1477).


38 – Urteile vom 19. Mai 1993, Corbeau (C‑320/91, Slg. 1993, I‑2533), vom 10. Februar 2000, Deutsche Post (C‑147/97, Slg. 2000, I‑825), und vom 17. Mai 2001, TNT Traco (C‑340/99, Slg. 2001, I‑4109).


39 –      Urteil vom 11. April 1989, Ahmed Saeed Flugreisen und Silver Line Reisebüro (66/86, Slg. 1989, 803).


40 – Urteil vom 25. Oktober 2001, Ambulanz Glöckner (C‑475/99, Slg. 2001, I‑8089).


41 –      Urteil Ferring.


42 – Alle angegebenen Entscheidungen beziehen sich im Übrigen auf Unternehmen mit ausschließlichen und Sonderrechten und weder auf Einheiten, die in liberalisierten Sektoren tätig sind, noch auf solche, denen gemeinwirtschaftliche Verpflichtungen auferlegt sind. Ihre Anwendung auf den vorliegenden Fall ist daher auf den besonderen Zusammenhang, der sich zurzeit noch nicht in der Rechtsprechung findet, stützen.


43 – Dieses Verständnis liegt auch Art. 16 EG zugrunde, wonach „[u]nbeschadet der Artikel 73, 86 und 87 und in Anbetracht des Stellenwerts, den Dienste von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse innerhalb der gemeinsamen Werte der Union einnehmen, sowie ihrer Bedeutung bei der Förderung des sozialen und territorialen Zusammenhalts … die Gemeinschaft und die Mitgliedstaaten im Rahmen ihrer jeweiligen Befugnisse im Anwendungsbereich dieses Vertrags dafür Sorge [tragen], dass die Grundsätze und Bedingungen für das Funktionieren dieser Dienste so gestaltet sind, dass sie ihren Aufgaben nachkommen können“. Während der Prozess der Liberalisierung strategischer Sektoren in vollem Gange war, wurde diese Bestimmung in den Vertrag von Amsterdam aufgenommen, „da die liberale Strömung auf europäischer Ebene in einigen gesellschaftlichen Bereichen tiefe Besorgnis ausgelöst“ hatte. (Sarmiento, D., „La recepción en el derecho de la Unión Europea y en su jurisprudencia de las técnicas de regulación económica“, Derecho de la regulación económica. I. Fundamentos e instituciones de la regulación, dir. Muñoz Machado, S., und Esteve Pardo, J., Ed. Iustel, Fundación Ortega y Gasset, 2009, S. 259).


44 – Oben in Fn. 38 angeführt, Randnr. 15.


45 – Oben in Fn. 37 angeführt, Randnr. 48. Auf derselben Linie Urteil Kommission/Frankreich, oben in Fn. 36 angeführt, Randnr. 57.


46 – Dies belegen das Verzeichnis der Verpflichtungen nach Art. 3 Abs. 2 und die Möglichkeit, einen „Versorger letzter Instanz“ zu benennen (Art. 3 Abs. 3).


47 – Urteil vom 19. März 1991, Frankreich/Kommission (C‑202/88, Slg. 1991, I‑1223), Randnr. 12.


48 – Urteil vom 30. April 1974 (155/73, Slg. 1974, 409). In diesem Sinne auch Urteil Ahmed Saeed Flugreisen und Silver Line Reisebüro, oben in Fn. 39 angeführt.


49 – Urteil vom 23. April 1991, Höfner und Elser (C‑41/90, Slg. 1991, S. 1979), Randnr. 25.


50 –      Urteile vom 23. Oktober 1997, Kommission/Niederlande (C‑157/94, Slg. 1997, I‑5699), Kommission/Italien (C‑158/94, Slg. 1997, I‑5789) und Kommission/Frankreich, oben in Fn. 36 angeführt. Eine vierte Vertragsverletzungsklage gegen Spanien wurde abgewiesen (Urteil vom 23. Oktober 1997, Kommission/Spanien, C‑160/94, Slg. 1997, I‑5851).


51 – In Fn. 50 angeführte Urteile Kommission/Niederlande, Randnr. 32, Kommission/Italien, Randnr. 43, und Kommission/Frankreich, oben in Fn. 36 angeführt, Randnr. 49.


52 – Urteile Kommission/Niederlande, oben in Fn. 50 angeführt, Randnr. 43, und Kommission/Frankreich, oben in Fn. 36 angeführt., Randnr. 59. Ferner Urteile TNT Traco, Randnr. 54, und vom 15. November 2007, Internacional Mail Spain (C‑162/06, Slg. 2007, I‑9911, Randnr. 35).


53 – In Fn. 50 angeführte Urteile Kommission/Niederlande, Randnr. 58, und Kommission/Italien, Randnr. 54, sowie Urteil Kommission/Frankreich, oben in Fn. 36 angeführt., Randnr. 101.


54 – Abschnitt 2.6.2.


55 – Hierin liegt wahrscheinlich der Grund, warum im parlamentarischen Verfahren der Genehmigung der Übergangscharakter der Befugnis der Autorità unterstrichen wurde.


56 – Nach Angabe der italienischen Regierung erfolgt sie vierteljährlich (Randnr. 60 der schriftlichen Erklärungen).


57 – Die Kommission (Randnr. 56) ist der Auffassung, dass dies in Italien der Fall sei, ein Umstand, der wie die übrigen vom nationalen Gericht zu prüfen ist.


58 – Oben in Fn. 50 angeführte Urteile Komission/Niederlande, Randnr. 58, und Kommission/Italien, Randnr. 54, sowie Urteil Kommission/Frankreich, oben in Fn. 36 angeführt., Randnr. 101.


59 – Urteil vom 21. September 1999 (C‑67/96, Slg. 1999, I‑5751), Randnrn. 99 und 104.


60 – Oben in Fn. 50 angeführte Urteile Kommission/Niederlande, Randnr. 69, und Kommission/Italien, Randnr. 65, sowie Urteil Kommission/Frankreich, oben in Fn. 36 angeführt., Randnr. 113.


61 – Schlussanträge vom 10. Juli 2001 (Urteil vom 19. Februar 2002, C‑309/99, Slg. 2002, I‑1577).


62 – Schriftliche Erklärungen von Federutility, Randnr. 62.


63 – Entscheidung Nr. 2006-543 vom 30. November 2006. Der Conseil constitutionnel erklärte die Tarife für etablierte Wirtschaftsteilnehmer ohne Angabe irgendeiner auf die Daseinsvorsorge gestützten Rechtfertigung für offensichtlich unvereinbar mit den Zielen der Gemeinschaftsrichtlinien. Zu dieser Entscheidung Schoettl, E., „Les problèmes constitutionnels soulevés par la loi relative au secteur de l'énergie“, Petites affiches, 395. Jahrgang (2006), Nr. 244, S. 3-23.


64 – Schriftliche Erklärungen von Sorgenia, S. 6. Es handelt sich um Maßnahmen zur Schaffung eines wirtschaftlichen Anreizes für einen Neuabschluss, die durch den in den Randnrn. 22 und 23 der schriftlichen Erklärung der italienischen Regierung genannten Beschluss Nr. 79/07 der Autorità eingeführt wurden.