1.5.2010   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 113/4


Urteil des Gerichtshofs (Große Kammer) vom 2. März 2010 (Vorabentscheidungsersuchen des Bundesverwaltungsgerichts — Deutschland) — Aydin Salahadin Abdulla (C-175/08), Kamil Hasan (C-176/08), Ahmed Adem, Hamrin Mosa Rashi (C-178/08), Dler Jamal (C-179/08)/Bundesrepublik Deutschland

(Verbundene Rechtssachen C-175/08, C-176/08, C-178/08 und C-179/08) (1)

(Richtlinie 2004/83/EG - Mindestnormen für die Anerkennung als Flüchtling oder als Person mit subsidiärem Schutzstatus - Flüchtlingseigenschaft - Art. 2 Buchst. c - Erlöschen des Flüchtlingsstatus - Art. 11 - Änderung der Umstände - Art. 11 Abs. 1 Buchst. e - Flüchtling - Unbegründete Furcht vor Verfolgung - Beurteilung - Art. 11 Abs. 2 - Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft - Nachweis - Art. 14 Abs. 2)

2010/C 113/06

Verfahrenssprache: Deutsch

Vorlegendes Gericht

Bundesverwaltungsgericht

Parteien des Ausgangsverfahrens

Kläger: Aydin Salahadin Abdulla (C-175/08), Kamil Hasan (C-176/08), Ahmed Adem, Hamrin Mosa Rashi (C-178/08), Dler Jamal (C-179/08)

Beklagte: Bundesrepublik Deutschland

Gegenstand

Vorabentscheidungsersuchen des Bundesverwaltungsgerichts (Deutschland) — Auslegung von Art. 11 Abs. 1 Buchst. e der Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29. April 2004 über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen, und über den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (ABl. L 304, S. 12) — Entscheidungen der nationalen Behörde, mit denen die Flüchtlingseigenschaft der Betroffenen allein aufgrund der Feststellung, dass ihre Furcht vor Verfolgung nicht mehr begründet sei, ohne Prüfung zusätzlicher Voraussetzungen in Bezug auf die politische Lage in ihren Herkunftsländern beendet wird — Irakische Staatsangehörige, deren Flüchtlingsanerkennung nach dem Sturz des Regimes Saddam Husseins widerrufen wurde

Tenor

1.

Art. 11 Abs. 1 Buchst. e der Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29. April 2004 über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen, und über den Inhalt des zu gewährenden Schutzes ist wie folgt auszulegen:

Die Flüchtlingseigenschaft erlischt, wenn in Anbetracht einer erheblichen und nicht nur vorübergehenden Veränderung der Umstände in dem fraglichen Drittland diejenigen Umstände, aufgrund deren der Betreffende begründete Furcht vor Verfolgung aus einem der in Art. 2 Buchst. c der Richtlinie 2004/83 genannten Gründe hatte und als Flüchtling anerkannt worden war, weggefallen sind und er auch nicht aus anderen Gründen Furcht vor „Verfolgung“ im Sinne des Art. 2 Buchst. c der Richtlinie 2004/83 haben muss.

Für die Beurteilung einer Veränderung der Umstände müssen sich die zuständigen Behörden des Mitgliedstaats im Hinblick auf die individuelle Lage des Flüchtlings vergewissern, dass der oder die nach Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2004/83 in Betracht kommenden Akteure, die Schutz bieten können, geeignete Schritte eingeleitet haben, um die Verfolgung zu verhindern, dass diese Akteure demgemäß insbesondere über wirksame Rechtsvorschriften zur Ermittlung, Strafverfolgung und Ahndung von Handlungen, die eine Verfolgung darstellen, verfügen und dass der betreffende Staatsangehörige im Fall des Erlöschens seiner Flüchtlingseigenschaft Zugang zu diesem Schutz haben wird.

Zu den in Art. 7 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 2004/83 genannten Akteuren, die Schutz bieten können, können internationale Organisationen gehören, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebiets beherrschen, und zwar auch mittels der Präsenz multinationaler Truppen in diesem Gebiet.

2.

Wenn die Umstände, aufgrund deren die Anerkennung als Flüchtling erfolgt ist, weggefallen sind und die zuständigen Behörden des Mitgliedstaats nachprüfen, ob nicht andere Umstände vorliegen, aufgrund deren die betreffende Person die begründete Furcht haben muss, entweder aus dem gleichen Grund wie dem ursprünglichen oder aus einem anderen der in Art. 2 Buchst. c der Richtlinie 2004/83 genannten Gründe verfolgt zu werden, ist der Wahrscheinlichkeitsmaßstab, der der Beurteilung der aus diesen anderen Umständen resultierenden Gefahr zugrunde zu legen ist, der gleiche wie der bei der Anerkennung als Flüchtling angewandte.

3.

Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2004/83 kann, soweit ihm Anhaltspunkte hinsichtlich der Beweiskraft früherer Verfolgungshandlungen oder Bedrohungen mit Verfolgung zu entnehmen sind, anwendbar sein, wenn die zuständigen Behörden die Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft gemäß Art. 11 Abs. 1 Buchst. e der Richtlinie 2004/83 in Betracht ziehen und der Betreffende, um das Fortbestehen einer begründeten Furcht vor Verfolgung darzutun, andere Umstände als die geltend macht, aufgrund deren er als Flüchtling anerkannt wurde. Dies wird jedoch normalerweise nur der Fall sein können, wenn der Verfolgungsgrund ein anderer ist als der zum Zeitpunkt der Anerkennung als Flüchtling festgestellte und wenn frühere Verfolgungshandlungen oder Bedrohungen mit Verfolgung vorliegen, die eine Verknüpfung mit dem in diesem Stadium geprüften Verfolgungsgrund aufweisen.


(1)  ABl. C 197 vom 2.8.2008.

ABl. C 180 vom 1.8.2009.