Rechtssache T-334/07

Denka International BV

gegen

Kommission der Europäischen Gemeinschaften

„Pflanzenschutzmittel — Wirkstoff Dichlorvos — Nichtaufnahme in Anhang I der Richtlinie 91/414/EWG — Bewertungsverfahren — Gutachten eines wissenschaftlichen Gremiums der EFSA — Einrede der Rechtswidrigkeit — Art. 20 der Verordnung (EG) Nr. 1490/2002 — Vorlage neuer Studien und Daten im Lauf des Bewertungsverfahrens — Art. 8 der Verordnung (EG) Nr. 451/2000 — Art. 28 Abs. 1 der Verordnung (EG) Nr. 178/2002 — Berechtigtes Vertrauen — Verhältnismäßigkeit — Gleichbehandlung — Grundsatz der ordnungsgemäßen Verwaltung — Verteidigungsrechte — Subsidiaritätsgrundsatz — Art. 95 Abs. 3 EG, Art. 4 Abs. 1 und Art. 5 Abs. 1 der Richtlinie 91/414“

Urteil des Gerichts (Zweite Kammer) vom 19. November 2009   II ‐ 4211

Leitsätze des Urteils

  1. Handlungen der Organe – Zeitliche Geltung – Verfahrensvorschriften – Vorschriften zur Änderung des Bewertungsverfahrens für Wirkstoffe von Pflanzenschutzmitteln – Sofortige Anwendung auf laufende Bewertungsverfahren

    (Verordnungen der Kommission Nr. 451/2000, Art. 8, und Nr. 1490/2002)

  2. Gemeinschaftsrecht – Grundsätze – Vertrauensschutz – Grenzen

  3. Landwirtschaft – Rechtsangleichung – Inverkehrbringen von Pflanzenschutzmitteln – Richtlinie 91/414

    (Verordnung Nr. 451/2000 der Kommission, Art. 8 Abs. 7; Richtlinie 91/414 des Rates, Art. 8 Abs. 2)

  4. Landwirtschaft – Rechtsangleichung – Inverkehrbringen von Pflanzenschutzmitteln – Richtlinie 91/414

    (Verordnung Nr. 178/2002 des Europäischen Parlaments und des Rates, Art. 28 Abs. 1; Verordnung Nr. 451/2000 der Kommission, Art. 8 Abs. 7; Richtlinie 91/414 des Rates)

  5. Landwirtschaft – Rechtsangleichung – Inverkehrbringen von Pflanzenschutzmitteln – Richtlinie 91/414

    (Richtlinie 91/414 des Rates, Art. 5 Abs. 1)

  6. Gemeinschaftsrecht – Grundsätze – Verteidigungsrechte – Umfang

    (Verordnung Nr. 451/2000 der Kommission, Art. 8 Abs. 2 und 5; Richtlinie 91/414 des Rates)

  7. Gemeinschaftsrecht – Grundsätze – Vertrauensschutz – Voraussetzungen

    (Verordnung Nr. 451/2000 der Kommission, Art. 8)

  8. Landwirtschaft – Rechtsangleichung – Inverkehrbringen von Pflanzenschutzmitteln – Richtlinie 91/414

    (Richtlinie 91/414 des Rates, Art. 5 Abs. 1)

  1.  Im Gegensatz zu den materiell-rechtlichen Gemeinschaftsvorschriften, die dahin auszulegen sind, dass sie grundsätzlich nicht für vor ihrem Inkrafttreten entstandene Sachverhalte gelten, sind Verfahrensvorschriften unmittelbar anwendbar. Die Bestimmungen der Verordnung Nr. 1490/2002 mit weiteren Durchführungsbestimmungen für die dritte Stufe des Arbeitsprogramms gemäß Art. 8 Abs. 2 der Richtlinie 91/414 und zur Änderung der Verordnung Nr. 451/2000, die eine Beteiligung der Europäischen Behörde für Lebensmittelsicherheit am Verfahren zur Bewertung von Wirkstoffen vorsehen, stellen aber Verfahrensvorschriften dar, die unmittelbar anwendbar sind.

    Daher kann die sofortige Anwendung der neuen Vorschriften des Art. 8 der Verordnung Nr. 451/2000 mit Durchführungsbestimmungen für die zweite und dritte Stufe des Arbeitsprogramms gemäß Art. 8 Abs. 2 der Richtlinie 91/414 auf laufende Verfahren zur Bewertung von Wirkstoffen nicht rechtswidrig sein. Wegen der unmittelbaren Anwendbarkeit der Verfahrensvorschriften ist insofern auch keine besondere Begründung in der Verordnung Nr. 1490/2002 erforderlich.

    (vgl. Randnrn. 45-47)

  2.  Der Anwendungsbereich des Grundsatzes des Vertrauensschutzes darf nicht so weit ausgedehnt werden, dass die Anwendung einer neuen Regelung auf die künftigen Auswirkungen von unter der Geltung der früheren Regelung entstandenen Sachverhalten schlechthin ausgeschlossen ist.

    (vgl. Randnr. 48)

  3.  Selbst unter der Annahme, dass die in Art. 8 Abs. 7 der Verordnung Nr. 451/2000 mit Durchführungsbestimmungen für die zweite und dritte Stufe des Arbeitsprogramms gemäß Art. 8 Abs. 2 der Richtlinie 91/414 festgesetzte Frist von einem Jahr für die Bewertung des Entwurfs des Bewertungsberichts des Bericht erstattenden Mitgliedstaats durch die Europäische Behörde für Lebensmittelsicherheit und die Übermittlung einer Stellungnahme zu der Frage, ob von dem fraglichen Wirkstoff zu erwarten ist, dass er die Sicherheitsanforderungen der Richtlinie 91/414 über das Inverkehrbringen von Pflanzenschutzmitteln erfüllen wird, zwingend ist, würde die Überschreitung dieser Frist die Rechtmäßigkeit einer Entscheidung, einen Wirkstoff nicht in Anhang I der Richtlinie 91/414 aufzunehmen, nur beeinträchtigen, wenn erwiesen wäre, dass die Entscheidung ohne diese Unregelmäßigkeit inhaltlich anders hätte ausfallen können.

    (vgl. Randnrn. 55-56)

  4.  Im Rahmen des Verfahrens zur Bewertung der von Herstellern, die die Aufnahme eines Wirkstoffs gemäß Art. 8 der Verordnung Nr. 451/2000 mit Durchführungsbestimmungen für die zweite und dritte Stufe des Arbeitsprogramms gemäß Art.8 Abs.2 der Richtlinie 91/414 in Anhang I der Richtlinie 91/414 über das Inverkehrbringen von Pflanzenschutzmitteln wünschen, vorgelegten Unterlagen ist das Gutachten des Gremiums für Pflanzengesundheit, Pflanzenschutzmittel und ihre Rückstände (PPR) für die Europäische Behörde für Lebensmittelsicherheit (EFSA) bindend, soweit es um Fragen geht, zu denen das Gremium angehört worden ist, vorbehaltlich jedoch der allgemeinen Risikobewertung des betreffenden Wirkstoffs.

    Nach dem Wortlaut von Art. 28 Abs. 1 der Verordnung Nr. 178/2002 zur Festlegung der allgemeinen Grundsätze und Anforderungen des Lebensmittelrechts, zur Errichtung der Europäischen Behörde für Lebensmittelsicherheit und zur Festlegung von Verfahren zur Lebensmittelsicherheit muss die EFSA, wenn sie ein wissenschaftliches Gutachten eines solchen Gremiums einholt, diesem Gutachten folgen. Diese Auslegung wird durch die von der EFSA selbst festgelegten Regeln bestätigt: Bei Anhörung des PPR-Gremiums ist vorgesehen, dass im Bericht der Sitzungen nationaler Sachverständiger das Gutachten des Gremiums berücksichtigt wird. Eine Ausnahme von dieser Regel kommt nur in Betracht, wenn die EFSA über wissenschaftliche Daten verfügt, die ein Abweichen von diesem Gutachten rechtfertigen.

    Gleichwohl darf das Gutachten des PPR-Gremiums, das zu bestimmten besonders schwierigen Fragen der zu bewertenden Fälle angehört werden kann, nicht mit der Stellungnahme der EFSA zu der Frage, ob von dem Wirkstoff zu erwarten ist, dass er die Sicherheitsanforderungen der Richtlinie 91/414 erfüllen wird, verwechselt werden, die gemäß Art. 8 Abs. 7 der Verordnung Nr. 451/2000 erstellt wird. Während nämlich das PPR-Gremium die theoretisch gegebenen Risiken bewertet, ist es Sache der EFSA, bei ihrer Bewertung die praktischen Notwendigkeiten des Umgangs mit diesen Risiken zu berücksichtigen. Somit darf dies keinesfalls dazu führen, dass sich das PPR-Gremium für die Vorbereitung der in diesem Art. 8 Abs. 7 vorgesehenen Stellungnahme an die Stelle der EFSA setzt.

    (vgl. Randnrn. 68-70, 75)

  5.  Die in Art. 5 Abs. 1 der Richtlinie 91/414 über das Inverkehrbringen von Pflanzenschutzmitteln für die Aufnahme eines Wirkstoffs in Anhang I der Richtlinie genannten Kriterien sind weit gefasst und beruhen auf einer Risikoanalyse schädlicher Auswirkungen auf die Gesundheit von Mensch und Tier oder auf das Grundwasser oder unannehmbarer Auswirkungen auf die Umwelt. Außerdem ist diese Bestimmung im Zusammenhang mit dem Vorsorgegrundsatz auszulegen. Danach können die Gemeinschaftsorgane, wenn wissenschaftliche Ungewissheiten bezüglich der Existenz oder des Umfangs von Risiken für die menschliche Gesundheit bestehen, Schutzmaßnahmen treffen, ohne abwarten zu müssen, bis das tatsächliche Vorliegen und die Schwere dieser Risiken in vollem Umfang nachgewiesen sind. So kann in einem Fall der Anwendung des Vorsorgegrundsatzes, der definitionsgemäß bei wissenschaftlicher Ungewissheit gegeben ist, von einer Risikobewertung nicht verlangt werden, dass sie den Gemeinschaftsorganen zwingende wissenschaftliche Beweise für das tatsächliche Vorliegen des Risikos und die Schwere der potenziellen nachteiligen Wirkungen im Fall der Verwirklichung dieses Risikos liefert.

    (vgl. Randnrn. 115-116)

  6.  Die Wahrung der Verteidigungsrechte ist in allen Verfahren, die zu einer beschwerenden Maßnahme führen können, ein elementarer Grundsatz des Gemeinschaftsrechts, der auch dann zu beachten ist, wenn eine Regelung für das betreffende Verfahren fehlt. Dieser Grundsatz gebietet es, dass die Adressaten von Entscheidungen, die deren Interessen spürbar beeinträchtigen, in die Lage versetzt werden, ihren Standpunkt in sachdienlicher Weise vorzutragen. Eine Entscheidung, einen Wirkstoff nicht in Anhang I der Richtlinie 91/414 über das Inverkehrbringen von Pflanzenschutzmitteln aufzunehmen, beschwert denjenigen, der den Antrag auf Aufnahme dieses Wirkstoffs gestellt hat, da der Antrag damit abgelehnt wird.

    Die auf das Bewertungsverfahren für einen Wirkstoff, dessen Aufnahme in Anhang I beantragt worden ist, anwendbaren Vorschriften sehen jedoch keine Verpflichtung vor, einem Antragsteller die Gelegenheit zur Vorlage von Studien im Lauf dieses Verfahrens einzuräumen. Art. 8 Abs. 2 und 5 der Verordnung Nr. 451/2000 mit Durchführungsbestimmungen für die zweite und dritte Stufe des Arbeitsprogramms gemäß Art. 8 Abs. 2 der Richtlinie 91/414 bestimmt, dass neue Studien zu dem Zeitpunkt, zu dem der Bericht erstattende Mitgliedstaat bzw. die Europäische Behörde für Lebensmittelsicherheit (EFSA) mit der Bewertung des Wirkstoffs begonnen haben, grundsätzlich nicht mehr zugelassen werden. Nach den genannten Vorschriften kann der Bericht erstattende Mitgliedstaat den Antragsteller zwar, nachdem der Entwurf seines Bewertungsberichts bereits der EFSA übermittelt wurde, gegebenenfalls im Einvernehmen mit der EFSA auffordern, innerhalb bestimmter Fristen ergänzende Angaben einzureichen, die dieser Mitgliedstaat oder die EFSA zur Klärung der Unterlagen für erforderlich halten; für die Einreichung neuer Studien sehen diese Vorschriften eine derartige Ausnahme jedoch nicht vor. Umso weniger besteht die Möglichkeit, zusätzliche Daten oder Studien einzureichen, nachdem die EFSA ihren Bericht fertiggestellt hat.

    (vgl. Randnrn. 127-130)

  7.  Auf Vertrauensschutz kann sich jeder berufen, bei dem die Gemeinschaftsverwaltung durch bestimmte Zusicherungen begründete Erwartungen geweckt hat. Präzise, nicht an Bedingungen geknüpfte und übereinstimmende Auskünfte von zuständiger und zuverlässiger Seite stellen unabhängig von der Form ihrer Mitteilung solche Zusicherungen dar. Dagegen kann niemand eine Verletzung dieses Grundsatzes geltend machen, dem die Verwaltung keine bestimmten Zusicherungen gegeben hat. Im Übrigen können nur Zusicherungen, die den geltenden Vorschriften entsprechen, ein solches berechtigtes Vertrauen begründen.

    Die Europäische Behörde für Lebensmittelsicherheit (EFSA) bewertet im Rahmen des in Art. 8 der Verordnung Nr. 451/2000 mit Durchführungsbestimmungen für die zweite und dritte Stufe des Arbeitsprogramms gemäß Art. 8 Abs. 2 der Richtlinie 91/414 vorgesehenen Verfahrens zur Bewertung eines Wirkstoffs im Hinblick auf seine Aufnahme oder Nichtaufnahme in Anhang I der Richtlinie 91/414 über das Inverkehrbringen von Pflanzenschutzmitteln die schädlichen Auswirkungen des betreffenden Wirkstoffs und erstattet der Kommission ein wissenschaftliches Gutachten zu dieser Frage. Grundsätzlich hat zwischen dem Antragsteller oder den Antragstellern des betreffenden Wirkstoffs und der EFSA ein Kontakt stattgefunden, bevor die Kollegialprüfung eingeleitet wird. Angesichts der Rolle, die der EFSA damit in diesem Verfahren zugewiesen ist, muss davon ausgegangen werden, dass sowohl genaue Zusicherungen in diesem Bewertungsverfahren, die von der Kommission ausgesprochen werden, als auch solche, die von der EFSA stammen, geeignet sind, beim Antragsteller ein berechtigtes Vertrauen zu begründen.

    (vgl. Randnrn. 132, 148-149)

  8.  Aus Art. 5 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 91/414 über das Inverkehrbringen von Pflanzenschutzmitteln, ausgelegt in Verbindung mit dem Vorsorgegrundsatz, ergibt sich, dass, wenn es um die menschliche Gesundheit geht, das Vorliegen ernsthafter Anhaltspunkte, die, ohne die wissenschaftliche Ungewissheit zu beseitigen, vernünftige Zweifel an der Unbedenklichkeit eines Stoffes erlauben, der Aufnahme dieses Stoffes in Anhang I der Richtlinie grundsätzlich entgegensteht.

    Aus dem Verweis auf den jeweiligen Stand der wissenschaftlichen und technischen Erkenntnisse in Art. 5 Abs. 1 der Richtlinie 91/414 darf nämlich nicht gefolgert werden, dass Unternehmen, die die Zulassung eines Wirkstoffs beantragt haben und denen eine Entscheidung über die Nichtaufnahme des Wirkstoffs in Anhang I droht, die Möglichkeit haben sollten, so lange neue Daten einzureichen, wie die Bedenken hinsichtlich der Unschädlichkeit des Wirkstoffs fortbestehen. Eine solche Auslegung würde dem Ziel des Art. 5 Abs. 1, ein hohes Schutzniveau für die Gesundheit von Mensch und Tier zu gewährleisten, zuwiderlaufen, da es dem Antragsteller, dem zum einen die Beweislast für die Unschädlichkeit des Wirkstoffs obliegt und der zum anderen den fraglichen Wirkstoff am besten kennt, ein Vetorecht in Bezug auf eine etwaige Entscheidung über die Nichtaufnahme des fraglichen Wirkstoffs in Anhang I einräumen würde. Eine solche Auslegung der genannten Vorschrift ist schon deshalb ausgeschlossen, weil die Möglichkeit besteht, (erneut) einen Antrag auf Zulassung des Wirkstoffs im Hinblick auf seine etwaige Aufnahme in Anhang I der Richtlinie 91/414 auf der Grundlage ihres Art. 6 Abs. 2 zu stellen.

    (vgl. Randnrn. 180-182)