Parteien
Entscheidungsgründe
Tenor

Parteien

In der Rechtssache C‑109/07

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 234 EG, eingereicht von der Prud’homie de pêche de Martigues (Frankreich) mit Entscheidung vom 17. Dezember 2006, beim Gerichtshof eingegangen am 20. Februar 2007, in dem Verfahren

Jonathan Pilato

gegen

Jean-Claude Bourgault

erlässt

DER GERICHTSHOF (Erste Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten P. Jann sowie der Richter A. Tizzano (Berichterstatter), A. Borg Barthet, E. Levits und J.-J. Kasel,

Generalanwältin: V. Trstenjak,

Kanzler: R. Grass,

nach Anhörung der Generalanwältin

folgenden

Beschluss

Entscheidungsgründe

1. Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung und die Gültigkeit von Art. 11a der Verordnung (EG) Nr. 894/97 des Rates vom 29. April 1997 über technische Maßnahmen zur Erhaltung der Fischbestände (ABl. L 132, S. 1) in der durch die Verordnung (EG) Nr. 1239/98 des Rates vom 8. Juni 1998 (ABl. L 171, S. 1) geänderten Fassung (im Folgenden: Verordnung Nr. 894/97).

2. Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen Herrn Pilato und Herrn Bourgault, den Kapitänen von zwei beim Quartier des affaires maritimes (Schifffahrtsdirektion) de Martigues eingetragenen Fischereifahrzeugen, wegen der Verwendung eines als „Thonaille“ bezeichneten Fischfanggeräts durch Herrn Bourgault.

Rechtlicher Rahmen

Gemeinschaftsrecht

3. Art. 11a der Verordnung Nr. 894/97 bestimmt:

„(1) Ab 1. Januar 2002 darf kein Fischereifahrzeug ein oder mehrere für den Fang der Arten des Anhangs VIII bestimmte Treibnetze an Bord haben oder zum Fischen verwenden.

(2) Ab 1. Januar 2002 dürfen Arten des Anhangs VIII, die mit Treibnetzen gefangen wurden, nicht mehr angelandet werden.

(3) Bis zum 31. Dezember 2001 dürfen Fischereifahrzeuge ein oder mehrere der in Absatz 1 genannten Treibnetze an Bord haben oder zum Fischen verwenden, wenn sie dafür von den zuständigen Behörden des Flaggenmitgliedstaats eine Genehmigung erhalten haben. ...

…“

4. Zu den Arten, die in Anhang VIII dieser Verordnung aufgeführt sind, zählt u. a. Roter Thun.

Nationales Recht

5. Die Prud’homie de pêche de Martigues unterliegt dem Dekret vom 19. November 1859 über die Regelung der Küstenfischerei im fünften Seebezirk in der durch das Dekret Nr. 90-95 vom 25. Januar 1990 (JORF vom 27. Januar 1990, S. 1155) geänderten Fassung (im Folgenden: Dekret von 1859).

6. Nach Art. 5 des Dekrets von 1859 gehören den Prud’hommes-Verbänden die Kapitäne an, die ihren Beruf ein Jahr lang im Amtsbezirk der Prud’homie ausgeübt haben, in die sie aufgenommen werden möchten.

7. Nach Art. 7 des Dekrets werden die Prud’hommes aus denjenigen Verbandsmitgliedern ausgewählt, die seit zehn Jahren in der Fischerei tätig sind.

8. Art. 17 des Dekrets bestimmt:

„Die Prud’hommes pêcheurs haben die folgenden Befugnisse:

1. Sie sind im Rahmen ihrer Gerichtsbarkeit für alle Streitigkeiten zwischen Fischern, die anlässlich der Fischerei, oder damit zusammenhängender Handlungen und Bestimmungen entstehen, allein, ausschließlich und ohne Berufungs-, Abänderungs- oder Kassationsmöglichkeit zuständig.

Zu diesem Zweck und zur bestmöglichen Vermeidung von tätlichen Auseinandersetzungen, Schäden und Unfällen obliegen ihnen die folgenden besonderen Aufgaben, die sie unter Aufsicht des Kommissars der Inspection maritime [Schifffahrtsbehörde] wahrnehmen:

Regelung der Nutzung des Meeres und des im Eigentum der öffentlichen Hand stehenden Seegebiets durch die Fischer;

Festlegung der Gebiete, Rotationen, Lose oder Pachten sowie Halte- und Ablegestellen, die den einzelnen Fischereigattungen zugeordnet sind;

Festlegung der Reihenfolge, in der die Fischer ihre Netze tagsüber und nachts einsetzen dürfen;

Festlegung der Tages- und Nachtzeiten, zu denen bestimmte Fischereitätigkeiten anderen Fischereitätigkeiten weichen müssen;

Vornahme sämtlicher Ordnungs- und Vorsichtsmaßnahmen, die aufgrund ihrer Vielfalt und Vielzahl nicht in das vorliegende Dekret aufgenommen wurden.

2. Sie verwalten die Angelegenheiten des Verbands.

3. Gemäß Art. 16 des Gesetzes vom 9. Januar 1852 wirken sie an der Ermittlung und Feststellung von Verstößen im Bereich der Küstenfischerei mit.“

9. Bevor die Prud’hommes ihr Amt antreten, leisten sie nach Art. 18 des Dekrets von 1859 vor dem Juge de Paix ihres Wohnsitzes den folgenden Eid:

„Ich gelobe, die Aufgaben als Prud’homme pêcheur nach Treu und Glauben wahrzunehmen und dafür zu sorgen, dass die Regelungen der Küstenfischerei genau eingehalten werden, den Anweisungen meiner Vorgesetzten Folge zu leisten und Verstöße gegen die Regelungen ohne bösen Willen oder Nachsicht gegenüber den Zuwiderhandelnden anzuzeigen.“

10. Art. 22 des Dekrets von 1859 regelt die Abberufung der Prud’hommes und lautet:

„Die Prud’hommes pêcheurs können vom Direktor der Inspection maritime nach Durchführung einer Voruntersuchung durch den Verwalter der Inspection maritime ihrer Ämter enthoben werden.

Die Prud’homie kann von dem für die Handelsmarine zuständigen Minister auf Vorschlag des Direktors der Inspection maritime aufgelöst werden. ...

Ein abberufener Prud’homme kann frühestens drei Jahre nach dem Zeitpunkt seiner Abberufung wiedergewählt werden.

...“

11. Art. 24 des Dekrets von 1859 regelt das streitige Verfahren vor der Prud’homie de pêche und bestimmt u. a., dass die Beratungen der Prud’hommes geheim sind.

12. Nach Art. 25 Abs. 1 des Dekrets von 1859 sind die „Entscheidungen der Prud’hommes sofort vollstreckbar“.

13. Art. 26 des Dekrets von 1859 bestimmt:

„Soweit er dies für angemessen hält, wohnt der Verwalter der Inspection maritime oder sein Stellvertreter den Sitzungen und Beratungen des Gerichts bei; dies dient jedoch dem alleinigen Zweck, sich von der ordnungsgemäßen Durchführung der Sitzungen und Beratungen zu überzeugen.“

14. Art. 27 des Dekrets von 1859 bestimmt:

„Beanspruchen zwei Prud’hommes-Gerichte die Zuständigkeit für dieselbe Rechtssache, wird der Zuständigkeitsstreit dem Direktor der Inspection maritime auf dem Dienstweg vorgelegt.“

Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

15. Aus der Vorlageentscheidung geht hervor, dass der Erste Prud’homme der Prud’homie de pêche de Martigues am 12. Juni 2006 feststellte, dass sich das Fischfanggerät „Thonaille“ an Bord des Schiffs von Herrn Bourgault befand und dieser mit der Thonaille 15 Rote Thunfische gefangen hatte.

16. Am 6. Dezember 2006 erhob Herr Pilato bei der Prud’homie de pêche de Martigues eine Beschwerde gegen Herrn Bourgault, in der er geltend machte, dass die Verwendung einer Thonaille verboten sei, da sie ein „Treibnetz“ im Sinne von Art. 11a der Verordnung Nr. 894/97 sei. Ihm sei durch den Umstand, dass Herr Bourgault mit einem verbotenen Fischfanggerät 15 Rote Thunfische gefangen habe, ein Schaden entstanden, da Fisch auf den Markt gebracht worden sei, der mit verbotenen Hilfsmitteln und zu niedrigeren als den bei vorschriftsmäßigem Fischfang anfallenden Kosten gefischt worden sei. Aus diesen Gründen stellte Herr Pilato bei der Prud’homie de pêche de Martigues einen Antrag auf Ersatz des Schadens, den er durch den unlauteren Wettbewerb von Herrn Bourgault erlitten habe.

17. In der mündlichen Verhandlung vor der Prud’homie de pêche de Martigues am 17. Dezember 2007 räumte Herr Bourgault zwar die ihm vorgeworfenen Tatsachen ein, machte aber zum einen geltend, dass die Thonaille kein „Treibnetz“ im Sinne von Art. 11a der Verordnung Nr. 894/97 sei, und stellte zum anderen die Gültigkeit dieser Vorschrift in Frage.

18. Angesichts dieser Umstände hat die Prud’homie de pêche de Martigues das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:

1. Ist Art. 11a der Verordnung Nr. 894/97 dahin auszulegen, dass er auch die Netze verbietet, die wegen eines Treibankers, an dem sie befestigt sind, nicht oder fast nicht driften?

2. Ist Art. 11a Abs. 1 und 2 der Verordnung Nr. 894/97 vor dem Hintergrund gültig, dass

a) mit ihm anscheinend ein reines Umweltschutzziel verfolgt wird, obwohl die Rechtsgrundlage, auf die er sich stützt, Art. 43 EG-Vertrag (nach Änderung jetzt Art. 37 EG) ist;

b) er keine Definition des Treibnetzes vorsieht und daher seinen Anwendungsbereich nicht klar bestimmt;

c) er nicht klar begründet ist;

d) er weder die verfügbaren wissenschaftlichen und technischen Daten noch die Umweltbedingungen in den einzelnen Regionen der Gemeinschaft, noch die Vorteile und die Belastung aufgrund des in ihm vorgesehenen Verbots berücksichtigt;

e) er außer Verhältnis zum verfolgten Ziel steht;

f) er diskriminierend ist, weil er geografisch, wirtschaftlich und sozial unterschiedliche Sachverhalte gleich behandelt;

g) er keine Ausnahme für Fischer vorsieht, die die Fischerei in geringem Umfang wie die Thonaille (Fischerei mit der Thonaille) ausüben, die, abgesehen davon, dass sie im Mittelmeerraum der Tradition entspricht, für die Bevölkerung, die sie ausübt, lebenswichtig und im Übrigen sehr selektiv ist?

Zuständigkeit des Gerichtshofs

19. Zunächst ist zu prüfen, ob die Prud’homie de pêche de Martigues ein „Gericht“ im Sinne von Art. 234 EG ist und der Gerichtshof somit für die Entscheidung über die Vorlagefragen zuständig ist.

20. Der Rat der Europäischen Union und die Kommission der Europäischen Gemeinschaften äußern, ohne eine förmliche Unzuständigkeitsrede zu erheben, Zweifel am Gerichtscharakter der vorlegenden Einrichtung, insbesondere angesichts der Voraussetzungen für die Abberufung der Prud’hommes, des Inhalts des Eides, den diese vor Amtsantritt ablegen müssten, sowie des Umstands, dass die Prud’homie einige Aufgaben unter der Aufsicht des Kommissars der Inspection maritime wahrnehme.

21. Die französische Regierung ist hingegen der Auffassung, dass die Prud’homie de pêche de Martigues alle Voraussetzungen erfülle, die nach der Gemeinschaftsrechtsprechung vorliegen müssten, damit ein „Gericht eines Mitgliedstaats“ im Sinne von Art. 234 EG gegeben sei, insbesondere die Voraussetzung der Unabhängigkeit der vorlegenden Einrichtung.

22. Nach ständiger Rechtsprechung stellt der Gerichtshof zur Beurteilung der rein gemeinschaftsrechtlichen Frage, ob es sich bei der vorlegenden Einrichtung um ein Gericht im Sinne von Art. 234 EG handelt, auf eine Reihe von Gesichtspunkten ab, wie gesetzliche Grundlage der Einrichtung, ständiger Charakter, obligatorische Gerichtsbarkeit, streitiges Verfahren, Anwendung von Rechtsnormen durch diese Einrichtung sowie deren Unabhängigkeit (vgl. u. a. Urteile vom 17. September 1997, Dorsch Consult, C-54/96, Slg. 1997, I-4961, Randnr. 23, vom 31. Mai 2005, Syfait u. a., C-53/03, Slg. 2005, I-4609, Randnr. 29, sowie vom 14. Juni 2007, Häupl, C-246/05, Slg. 2007, I-4673, Randnr. 16).

23. Was im Einzelnen die Unabhängigkeit der vorlegenden Einrichtung betrifft, so setzt sie voraus, dass die betreffende Stelle vor Interventionen oder Druck von außen geschützt ist, die die Unabhängigkeit des Urteilens ihrer Mitglieder im Hinblick auf die ihnen unterbreiteten Rechtsstreitigkeiten gefährden könnten (Urteil vom 19. September 2006, Wilson, C-506/04, Slg. 2006, I-8613, Randnr. 51 und die dort angeführte Rechtsprechung).

24. Der Gerichtshof hat außerdem festgestellt, dass diese Garantien der Unabhängigkeit und Unparteilichkeit voraussetzen, dass es Regeln insbesondere für die Zusammensetzung der Einrichtung, die Ernennung, die Amtsdauer und die Gründe für Enthaltung, Ablehnung und Abberufung ihrer Mitglieder gibt, die es ermöglichen, bei den Rechtsunterworfenen jeden berechtigten Zweifel an der Unempfänglichkeit der genannten Stelle für Einflussnahmen von außen und an ihrer Neutralität in Bezug auf die einander gegenüberstehenden Interessen auszuräumen (vgl. in diesem Sinne Urteil Dorsch Consult, Randnr. 36, Urteile vom 4. Februar 1999, Köllensperger und Atzwanger, C-103/97, Slg. 1999, I‑551, Randnrn. 20 bis 23, vom 29. November 2001, De Coster, C-17/00, Slg. 2001, I-9445, Randnrn. 18 bis 21, und Urteil Wilson, Randnr. 53). Nach der Rechtsprechung ist die Voraussetzung der Unabhängigkeit der vorlegenden Einrichtung insbesondere nur dann erfüllt, wenn die Fälle, in denen die Mitglieder der Einrichtung abberufen werden können, durch ausdrückliche Gesetzesbestimmungen festgelegt sind (vgl. in diesem Sinne Urteil Köllensperger und Atzwanger, Randnr. 21, sowie Urteil vom 30. Mai 2002, Schmid, C-516/99, Slg. 2002, I-4573, Randnr. 41).

25. Im vorliegenden Fall ergibt sich zum einen aus dem Wortlaut des Dekrets von 1859 sowie aus den Erklärungen, die beim Gerichtshof eingereicht wurden, dass zumindest einige Tätigkeiten der Prud’hommes pêcheurs der Aufsicht der Verwaltungsbehörden unterliegen.

26. Art. 17 Abs. 1 des Dekrets von 1859 bestimmt nämlich ausdrücklich, dass die Prud’hommes pêcheurs eine Reihe von Aufgaben „unter Aufsicht des Kommissars der Inspection maritime wahrnehmen“. Außerdem ist ein Mitglied dieser Behörde nach Art. 27 des Dekrets befugt, über Zuständigkeitsstreitigkeiten zwischen verschiedenen Prud’homies de pêche zu entscheiden.

27. Überdies müssen die Prud’hommes pêcheurs nach Art. 18 des Dekrets einen Eid leisten, mit dem sie u. a. geloben, „den Anweisungen [ihrer] Vorgesetzten Folge zu leisten“.

28. Zum anderen ist die Abberufung der Prud’hommes pêcheurs offenkundig nicht mit besonderen Garantien verbunden, die es ermöglichen würden, jeden berechtigten Zweifel an der Unempfänglichkeit der Prud’homie für Einflussnahmen von außen auszuräumen.

29. Die Prud’hommes pêcheurs können nämlich gemäß Art. 22 des Dekrets von 1859 vom Direktor der Inspection maritime nach Durchführung einer bloßen Voruntersuchung abberufen werden, ohne dass diese Bestimmung oder ein sonstiger Artikel des Dekrets die Gründe aufführt, die zu einer Abberufung führen können.

30. Angesichts dieser Umstände kann nicht davon ausgegangen werden, dass die Prud’homie de pêche de Martigues die Voraus setzung der Unabhängigkeit der vorlegenden Einrichtung erfüllt, wie sie die in den Randnrn. 23 und 24 des vorliegenden Beschlusses wiedergegebene Rechtsprechung definiert.

31. Aus alledem folgt, dass die Prud’homie de pêche de Martigues kein Gericht im Sinne von Art. 234 EG ist. Folglich ist gemäß den Art. 92 § 1 und 103 § 1 der Verfahrensordnung festzustellen, dass der Gerichtshof für die Entscheidung über die Vorlagefragen offensichtlich nicht zuständig ist.

Kosten

32. Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei der Prud’homie de pêche de Martigues anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache der Prud’homie de pêche de Martigues. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Tenor

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Erste Kammer) beschlossen:

Der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften ist für die Beantwortung der ihm von der Prud’homie de pêche de Martigues mit Entscheidung vom 17. Dezember 2006 vorgelegten Fragen offensichtlich nicht zuständig.