Rechtssache C‑527/07

The Queen, auf Antrag von

Generics (UK) Ltd

gegen

Licensing Authority

(Vorabentscheidungsersuchen des High Court of Justice [England & Wales], Queen’s Bench Division [Administrative Court])

„Vorabentscheidungsersuchen – Richtlinie 2001/83/EG –Humanarzneimittel – Genehmigung für das Inverkehrbringen – Versagungsgründe – Generika – Begriff ‚Referenzarzneimittel‘“

Leitsätze des Urteils

Rechtsangleichung – Humanarzneimittel

(Verordnung Nr. 726/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates; Richtlinie 2001/83 des Europäischen Parlaments und des Rates, Art. 10 Abs. 2 Buchst. a)

Ein Arzneimittel, das nicht in den Geltungsbereich der Verordnung Nr. 726/2004 zur Festlegung von Gemeinschaftsverfahren für die Genehmigung und Überwachung von Human- und Tierarzneimitteln und zur Errichtung einer Europäischen Arzneimittel-Agentur fällt und für dessen Inverkehrbringen in einem Mitgliedstaat keine dem geltenden Gemeinschaftsrecht entsprechende Genehmigung erteilt wurde, kann nicht als Referenzarzneimittel im Sinne des Art. 10 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 2001/83 zur Schaffung eines Gemeinschaftskodexes für Humanarzneimittel in der durch die Richtlinie 2004/27 geänderten Fassung angesehen werden.

Damit ein Arzneimittel als Referenzarzneimittel angesehen werden kann, muss es gemäß dem Gemeinschaftsrecht genehmigt worden sein, bevor es in den Verkehr gebracht wird. Aus Wortlaut und Systematik der Richtlinie 2001/83, insbesondere ihrer Art. 6, 8 und 10, ergibt sich, dass als Referenzarzneimittel nur solche Arzneimittel angesehen werden können, für die eine Verkehrsgenehmigung gemäß dieser Richtlinie erteilt wurde. Auch was die Arzneimittel betrifft, für die eine solche Genehmigung vor Inkrafttreten der Richtlinie beantragt worden war, muss der Antragsteller, um in den Genuss des abgekürzten Verfahrens zu kommen, nachweisen, dass das Referenzarzneimittel auf der Grundlage des zum Zeitpunkt der Stellung des Antrags auf Verkehrsgenehmigung für das Referenzarzneimittel geltenden Gemeinschaftsrechts genehmigt wurde.

Nur wenn die zuständige Behörde über alle Angaben und Unterlagen verfügt, die das Referenzarzneimittel betreffen, tritt die Verpflichtung der Antragsteller, nachzuweisen, dass das betreffende Arzneimittel dem bereits genehmigten Referenzarzneimittel bis zu einem solchen Grad entspricht, dass es sich von diesem in Bezug auf Sicherheit und Wirksamkeit nicht erheblich unterscheidet, gemäß Art. 10 Abs. 1 der Richtlinie 2001/83 an die Stelle der Verpflichtung, das Ergebnis der in Art. 8 Abs. 3 Buchst. i genannten Versuche vorzulegen.

(vgl. Randnrn. 27, 30, 33, 37 und Tenor)







URTEIL DES GERICHTSHOFS (Erste Kammer)

18. Juni 2009(*)

„Vorabentscheidungsersuchen – Richtlinie 2001/83/EG –Humanarzneimittel – Genehmigung für das Inverkehrbringen – Versagungsgründe – Generika – Begriff ‚Referenzarzneimittel‘“

In der Rechtssache C‑527/07

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 234 EG, eingereicht vom High Court of Justice (England & Wales), Queen’s Bench Division (Administrative Court) (Vereinigtes Königreich), mit Entscheidung vom 1. November 2007, beim Gerichtshof eingegangen am 28. November 2007, in dem Verfahren

The Queen, auf Antrag von

Generics (UK) Ltd,

gegen

Licensing Authority, handelnd durch die Medicines and Healthcare products Regulatory Agency,

Beteiligte:

Shire Pharmaceuticals Ltd,

Janssen-Cilag AB,

erlässt

DER GERICHTSHOF (Erste Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten P. Jann sowie der Richter A. Tizzano (Berichterstatter), A. Borg Barthet, E. Levits und J.‑J. Kasel,

Generalanwalt: J. Mazák,

Kanzler: R. Şereş, Verwaltungsrätin,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 27. November 2008,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

–        der Generics (UK) Ltd, Prozessbevollmächtigte M. Brealey, QC, K. Bacon, Barrister, und S. Cohen, avocat, beauftragt von Solicitor G. Morgan,

–        der Shire Pharmaceuticals Ltd und der Janssen-Cilag AB, Prozessbevollmächtigte: D. Anderson, QC, J. Stratford, Barrister, und P. Bogaert, advocaat, beauftragt von Solicitor G. Castle,

–        der Regierung des Vereinigten Königreichs, vertreten durch V. Jackson als Bevollmächtigte im Beistand von J. Coppel und T. de la Mare, Barristers,

–        der polnischen Regierung, vertreten durch M. Dowgielewicz und T. Krawczyk als Bevollmächtigte,

–        der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, vertreten durch P. Oliver und M. Šimerdová als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 26. März 2009

folgendes

Urteil

1        Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung des Art. 10 der Richtlinie 2001/83/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 6. November 2001 zur Schaffung eines Gemeinschaftskodexes für Humanarzneimittel (ABl. L 311, S. 67) in der durch die Richtlinie 2004/27/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 31. März 2004 (ABl. L 136, S. 34) geänderten Fassung (im Folgenden: Richtlinie 2001/83).

2        Das Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Generics (UK) Ltd (im Folgenden: Generics), einer Gesellschaft britischen Rechts, die Arzneimittel vertreibt, und der Licensing Authority, der im Vereinigten Königreich für die Erteilung von Genehmigungen für das Inverkehrbringen von Arzneimitteln zuständigen Behörde, über die Rechtmäßigkeit der Entscheidung, mit der die Licensing Authority den Antrag von Generics auf Erteilung einer Genehmigung für das Inverkehrbringen (im Folgenden: Verkehrsgenehmigung) für das Generikum Galantamin zurückgewiesen hat.

 Rechtlicher Rahmen

3        Gemäß ihrem ersten Erwägungsgrund wurden mit der Richtlinie 2001/83 die Richtlinien zur Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften über Humanarzneimittel kodifiziert und in einem einzigen Text zusammengefasst, darunter die Richtlinie 65/65/EWG des Rates vom 26. Januar 1965 zur Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften über Arzneimittel (ABl. 1965, Nr. 22, S. 369) in der durch die Richtlinie 93/39/EWG des Rates vom 14. Juni 1993 (ABl. L 214, S. 22) geänderten Fassung (im Folgenden: Richtlinie 65/65), die Richtlinie 75/318/EWG des Rates vom 20. Mai 1975 zur Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über die analytischen, toxikologisch- pharmakologischen und ärztlichen oder klinischen Vorschriften und Nachweise über Versuche mit Arzneimittelspezialitäten (ABl. L 147, S. 1) in der durch die Richtlinie 1999/83/EG der Kommission vom 8. September 1999 (ABl. L 243, S. 9) geänderten Fassung sowie die Richtlinie 75/319/EWG des Rates vom 20. Mai 1975 zur Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften über Arzneispezialitäten (ABl. L 147, S. 13) in der durch die Richtlinie 2000/38/EG der Kommission vom 5. Juni 2000 (ABl. L 139, S. 28) geänderten Fassung (im Folgenden: Richtlinie 75/319).

4        Die Erwägungsgründe 2, 4, 5 und 10 der Richtlinie 2001/83 lauten:

„(2)      Alle Rechts- und Verwaltungsvorschriften auf dem Gebiet der Herstellung, des Vertriebs oder der Verwendung von Arzneimitteln müssen in erster Linie einen wirksamen Schutz der öffentlichen Gesundheit gewährleisten.

(4)      Die Unterschiede zwischen einigen einzelstaatlichen Vorschriften, namentlich zwischen den Vorschriften über Arzneimittel – mit Ausnahme solcher Stoffe und Stoffzusammensetzungen, die Lebensmittel, Futtermittel oder Körperpflegemittel sind –, behindern den Handel mit Arzneimitteln innerhalb der Gemeinschaft und wirken sich somit unmittelbar auf das Funktionieren des Binnenmarktes aus.

(5)      Diese Hindernisse müssen folglich beseitigt werden; zu diesem Zweck ist eine Angleichung der einschlägigen Rechtsvorschriften erforderlich.

(10)      Aus Gründen des Gemeinwohls ist es nicht möglich, Versuche an Menschen oder Tieren ohne zwingende Notwendigkeit durchzuführen.“

5        Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie bestimmt:

„Ein Arzneimittel darf in einem Mitgliedstaat erst dann in den Verkehr gebracht werden, wenn von der zuständigen Behörde dieses Mitgliedstaats nach dieser Richtlinie eine Genehmigung für das Inverkehrbringen erteilt wurde oder wenn eine Genehmigung für das Inverkehrbringen nach der Verordnung (EWG) Nr. 2309/93 [des Rates vom 22. Juli 1993 zur Festlegung von Gemeinschaftsverfahren für die Genehmigung und Überwachung von Human- und Tierarzneimitteln und zur Schaffung einer Europäischen Agentur für die Beurteilung von Arzneimitteln, ABl. L 214, S. 1] erteilt wurde.“

6        Nach Art. 88 der Verordnung (EG) Nr. 726/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 31. März 2004 zur Festlegung von Gemeinschaftsverfahren für die Genehmigung und Überwachung von Human- und Tierarzneimitteln und zur Errichtung einer Europäischen Arzneimittel-Agentur (ABl. L 136, S. 1) wird die Verordnung Nr. 2309/93 aufgehoben; Bezugnahmen auf die aufgehobene Verordnung gelten danach als Bezugnahmen auf die Verordnung Nr. 726/2004.

7        Art. 8 der Richtlinie 2001/83, der im Wesentlichen Art. 4 der Richtlinie 65/65 entspricht, sieht in seinem Abs. 3 Buchst. i vor:

„Dem Antrag Genehmigung für das Inverkehrbringen sind folgende Angaben und Unterlagen nach Maßgabe von Anhang I beizufügen

i)      Ergebnisse von:

–        pharmazeutischen (physikalisch-chemischen, biologischen oder mikrobiologischen) Versuchen,

–        vorklinischen (toxikologischen und pharmakologischen) Versuchen,

–        klinischen Versuchen;

…“

8        Art. 10 Abs. 1 und 2 der Richtlinie 2001/83 bestimmt:

„(1) Abweichend von Artikel 8 Absatz 3 Buchstabe i) und unbeschadet des Rechts über den Schutz des gewerblichen und kommerziellen Eigentums ist der Antragsteller nicht verpflichtet, die Ergebnisse der vorklinischen und klinischen Versuche vorzulegen, wenn er nachweisen kann, dass es sich bei dem Arzneimittel um ein Generikum eines Referenzarzneimittels handelt, das gemäß Artikel 6 seit mindestens acht Jahren in einem Mitgliedstaat oder in der Gemeinschaft genehmigt ist oder wurde [im Folgenden: Schutzzeitraum].

(2)      Im Sinne dieses Artikels bedeutet:

a)      ‚Referenzarzneimittel‘: ein gemäß Artikel 6 in Übereinstimmung mit Artikel 8 genehmigtes Arzneimittel;

b)      ‚Generikum‘: ein Arzneimittel, das die gleiche qualitative und quantitative Zusammensetzung aus Wirkstoffen und die gleiche Darreichungsform wie das Referenzarzneimittel aufweist und dessen Bioäquivalenz mit dem Referenzarzneimittel durch geeignete Bioverfügbarkeitsstudien nachgewiesen wurde. …“

9        Gemäß den Art. 2 und 3 der Richtlinie 2004/27 gilt in Fällen, in denen die Genehmigung vor dem 30. Oktober 2005 beantragt wurde, der in Art. 10 der Richtlinie 2001/83 vor deren Änderung durch die Richtlinie 2004/27 vorgesehene Schutzzeitraum. Nach dem ursprünglichen Wortlaut von Art. 10 betrug der Schutzzeitraum mindestens sechs Jahre, doch stand es jedem Mitgliedstaat frei, diesen Schutzzeitraum auf bis zu zehn Jahre zu verlängern.

10      Art. 28 Abs. 1 der Richtlinie 2001/83 lautet:

„Im Hinblick auf die Erteilung einer Genehmigung für das Inverkehrbringen eines Arzneimittels in mehr als einem Mitgliedstaat reicht der Antragsteller einen auf einem identischen Dossier beruhenden Antrag in diesen Mitgliedstaaten ein. Das Dossier enthält die in den Artikeln 8, 10, 10a, 10b, 10c und 11 genannten Informationen und Unterlagen. Die vorgelegten Unterlagen umfassen eine Liste der Mitgliedstaaten, auf die sich der Antrag bezieht.

Der Antragsteller ersucht einen Mitgliedstaat, als ‚Referenzmitgliedstaat‘ zu fungieren und einen Beurteilungsbericht über das Arzneimittel gemäß den Absätzen 2 und 3 zu erstellen.“

11      Gemäß dem Abkommen über den Europäischen Wirtschaftsraum vom 2. Mai 1992 (ABl. 1994, L 1, S. 3), dem die Republik Österreich vor ihrem Beitritt zur Europäischen Union beigetreten war, waren die Richtlinie 65/65 und die Richtlinie 75/319 in Österreich ab dem 1. Januar 1994 anwendbar.

 Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

12      1963 erteilten die zuständigen österreichischen Behörden der Firma Waldheim nach dem damals geltenden österreichischen Recht die Genehmigung für das Inverkehrbringen [im Folgenden: Zulassung] des Arzneimittels Galantamin unter der Markenbezeichnung „Nivalin“ zur Behandlung von Polio.

13      Zwar scheint die Zulassung von Nivalin im Jahr 1995 gemäß dem geltenden Gemeinschaftsrecht dahin geändert worden zu sein, dass sie die experimentelle Anwendung bei der Behandlung der Alzheimerkrankheit und später die „symptomatische Behandlung“ dieser Krankheit umfasste, unstreitig ist jedoch, dass das ursprüngliche Dossier, auf dessen Grundlage das Inverkehrbringen von Nivalin genehmigt worden war, als solches niemals entsprechend den Anforderungen der Richtlinie 65/65 und der Richtlinie 75/319, die in Österreich nunmehr anwendbar sind, aktualisiert wurde.

14      Waldheim nahm Nivalin im Lauf des Jahres 2001 vom Markt.

15      Inzwischen hatte die Firma Janssen-Cilag AB nach dem Abschluss von Kooperationsverträgen mit Waldheim bei den zuständigen schwedischen Behörden gemäß Art. 4 der Richtlinie 65/65 (jetzt Art. 8 der Richtlinie 2001/83) einen vollständigen Antrag auf Erteilung einer Verkehrsgenehmigung für Galantamin unter der Markenbezeichnung „Reminyl“ zur Behandlung der Alzheimerkrankheit gestellt. Nachdem die Janssen-Cilag AB diese Genehmigung am 1. März 2000 erhalten hatte, erhielt sie am 22. August 2000 auch eine Zulassung für Reminyl in Österreich.

16      Im Vereinigten Königreich ist die Shire Pharmaceuticals Ltd seit dem 14. September 2000 Inhaberin der Zulassung für Reminyl.

17      Am 14. Dezember 2005 stellte Generics in einem dezentralisierten Verfahren gemäß Art. 28 Abs. 1 der Richtlinie 2001/83 bei der Licensing Authority einen Antrag auf Erteilung einer Zulassung für ein Generikum von Galantamin für den britischen Markt. Das Vereinigte Königreich Großbritannien und Nordirland wurde als Referenzmitgliedstaat benannt. Gleichzeitig wurden Anträge in 17 weiteren Mitgliedstaaten gestellt.

18      Der Antrag wurde auf die Ausnahmeregelung für Generika in Art. 10 Abs. 1 der Richtlinie 2001/83 gestützt. Nivalin wurde als Referenzarzneimittel benannt, das seit mindestens zehn Jahren im Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) zugelassen sei. Im Antrag wurde auch die Zulassung angegeben, die der Shire Pharmaceuticals Ltd im Vereinigten Königreich für Reminyl erteilt worden war, das als Referenzarzneimittel im Vereinigten Königreich und als das Erzeugnis benannt wurde, das in der erforderlichen Bioäquivalenzuntersuchung für den Nachweis verwendet worden sei, dass es sich bei dem Erzeugnis von Generics tatsächlich um ein Generikum von Nivalin/Reminyl handele.

19      Die Licensing Authority lehnte den Antrag von Generics ab. Sie vertrat die Ansicht, dass Nivalin, für das die österreichische Zulassung galt, nicht als Referenzarzneimittel für einen Antrag auf Zulassung für ein Generikum im Sinne von Art. 10 Abs. 1 der Richtlinie 2001/83 herangezogen werden könne, da das Dossier dieses Arzneimittels seit dem 1. Januar 1994 nicht aktualisiert worden sei, um den Anforderungen des Gemeinschaftsrechts zu genügen, das in Österreich nach dem Inkrafttreten des EWR‑Abkommens anwendbar geworden sei. In Bezug auf Reminyl sei der Schutzzeitraum von zehn Jahren im Sinne von Art. 10 der Richtlinie 2001/83 in der ursprünglichen Fassung noch nicht abgelaufen, so dass die Zulassung nicht auf dieser Grundlage erteilt werden könne.

20      Generics erhob daraufhin Klage gegen den ablehnenden Bescheid der Licensing Authority beim High Court of Justice (England & Wales), Queen’s Bench Division (Administrative Court), der beschlossen hat, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.      Wenn ein Arzneimittel, das nicht in den Geltungsbereich des Anhangs der Verordnung Nr. 2309/93 fällt, in einem Mitgliedstaat (Österreich) vor dessen Beitritt zum EWR bzw. zur EG nach dessen innerstaatlichem Zulassungsverfahren in den Verkehr gebracht wurde und

–      der Mitgliedstaat später dem EWR und anschließend der EG beigetreten ist und im Rahmen der Bedingungen für seinen Beitritt die Bestimmungen der Richtlinie 65/65 (jetzt Richtlinie 2001/83) über die Zulassung von Humanarzneimitteln ohne Übergangsregelungen in innerstaatliches Recht umgesetzt hat,

–      das betreffende Arzneimittel in dem Mitgliedstaat nach dessen Beitritt zum EWR und zur EG einige Jahre lang im Verkehr geblieben ist,

–      nach dem Beitritt des Mitgliedstaats zum EWR und zur EG die Zulassung für das betreffende Arzneimittel durch Hinzufügung einer neuen Indikation geändert worden ist und die Behörden des Mitgliedstaats diese Änderung als den Vorschriften des Gemeinschaftsrechts entsprechend angesehen haben,

–      nach dem Beitritt des Mitgliedstaats zum EWR und zur EG das Dossier für das betreffende Arzneimittel nicht gemäß der Richtlinie 65/65 (jetzt Richtlinie 2001/83) aktualisiert worden ist und

–      ein Arzneimittel, das den gleichen Wirkstoff enthält, später nach Art. 6 der Richtlinie 2001/83 genehmigt und in der EG in den Verkehr gebracht worden ist,

gilt dann das Arzneimittel als „Referenzarzneimittel, das gemäß Artikel 6 … in einem Mitgliedstaat … genehmigt ist oder wurde“, im Sinne von Art. 10 Abs. 1 der Richtlinie 2001/83, und, wenn ja, welche der oben aufgeführten Faktoren sind insoweit entscheidend?

2.      Wenn die zuständige Behörde eines Referenzmitgliedstaats einen Antrag auf Zulassung, der gemäß Art. 10 Abs. 1 der Richtlinie 2001/83 im Rahmen des in der Richtlinie vorgesehenen dezentralisierten Verfahrens gestellt wurde, zu Unrecht mit der Begründung ablehnt, bei dem in Frage 1 beschriebenen Arzneimittel handele es sich nicht um ein Referenzarzneimittel im Sinne von Art. 10 Abs. 1, welche Hinweise hält der Gerichtshof dann gegebenenfalls hinsichtlich der Umstände für angemessen, die das nationale Gericht bei der Entscheidung darüber berücksichtigen sollte, ob der Verstoß gegen die gemeinschaftsrechtliche Vorschrift hinreichend qualifiziert im Sinne des Urteils vom 5. März 1996, Brasserie du pêcheur und Factortame (C‑46/93 und C‑48/93, Slg. 1996, I‑1029), ist?

 Zu den Vorlagefragen

 Zur ersten Frage

21      Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob ein Arzneimittel wie das im Ausgangsverfahren in Rede stehende Nivalin, das nicht unter die Verordnung Nr. 726/2004 fällt und dessen Inverkehrbringen in einem Mitgliedstaat nicht gemäß der Richtlinie 2001/83 genehmigt wurde, gleichwohl als Referenzarzneimittel im Sinne des Art. 10 Abs. 2 Buchst. a dieser Richtlinie angesehen werden kann.

22      Zur Beantwortung dieser Frage ist zunächst daran zu erinnern, dass die Verpflichtung, einem Antrag auf Zulassung eines Arzneimittels die Ergebnisse der in Art. 8 Abs. 3 Buchst. i der Richtlinie 2001/83 genannten pharmakologischen, toxikologischen und klinischen Versuche beizufügen, dem Nachweis der Sicherheit und der Wirksamkeit eines Arzneimittels dient (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 5. Oktober 1995, Scotia Pharmaceuticals, C‑440/93, Slg. 1995, I‑2851, Randnr. 17, und vom 3. Dezember 1998, Generics [UK] u. a., C‑368/96, Slg. 1998, I‑7967, Randnr. 23).

23      Ferner verfolgt das durch Art. 10 der Richtlinie eingeführte abgekürzte Verfahren, das die Antragsteller bei einem Antrag auf Zulassung eines Generikums eines bereits gemäß der Richtlinie genehmigten Referenzarzneimittels von der Verpflichtung entbindet, die Ergebnisse der genannten Versuche vorzulegen, – wie aus dem zehnten Erwägungsgrund der Richtlinie 2001/83 hervorgeht – u. a. das Ziel, zu vermeiden, dass Versuche an Menschen oder an Tieren ohne zwingende Notwendigkeit durchgeführt werden (Urteil Generics [UK] u. a., Randnrn. 4 und 71).

24      Da alle Rechts- und Verwaltungsvorschriften auf dem Gebiet der Herstellung und des Vertriebs von Arzneimitteln nach dem zweiten Erwägungsgrund der Richtlinie 2001/83 in erster Linie dem Schutz der öffentlichen Gesundheit dienen müssen, kann der Begriff „Referenzarzneimittel“ im Sinne des Art. 10 Abs. 2 Buchst. a dieser Richtlinie nicht dahin ausgelegt werden, dass das abgekürzte Verfahren eine Abschwächung der Anforderungen bedeutet, denen Arzneimittel in Bezug auf Sicherheit und Wirksamkeit genügen müssen (vgl. in diesem Sinne Urteile Scotia Pharmaceuticals, Randnrn. 17 und 22, und Generics [UK] u. a., Randnr. 22).

25      Entscheidend für die Frage, ob die Zulassung für ein Generikum im abgekürzten Verfahren erteilt werden kann, ist also, dass alle Angaben und Unterlagen für das Referenzarzneimittel der zuständigen Behörde, bei der der Antrag auf Zulassung gestellt worden ist, noch zur Verfügung stehen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 16. Oktober 2003, AstraZeneca, C‑223/01, Slg. 2003, I‑11809, Randnr. 27).

26      Andernfalls wäre die Einhaltung der Normen, denen Arzneimittel in Bezug auf Sicherheit und Wirksamkeit genügen müssen, entgegen den in der Rechtsprechung aufgestellten Anforderungen, auf die in Randnr. 24 des vorliegenden Urteils hingewiesen worden ist, stark gefährdet, da die Hersteller von Generika von der Verpflichtung entbunden wären, die pharmakologischen, toxikologischen und klinischen Versuche durchzuführen, die normalerweise durch das Gemeinschaftsrecht vorgeschrieben sind, und zwar selbst dann, wenn Sicherheit und Wirksamkeit des betreffenden Referenzarzneimittels nicht nachgewiesen wären.

27      Nur wenn also die zuständige Behörde über alle Angaben und Unterlagen verfügt, die das Referenzarzneimittel betreffen, tritt die Verpflichtung der Antragsteller, nachzuweisen, dass das betreffende Arzneimittel dem bereits genehmigten Referenzarzneimittel bis zu einem solchen Grad entspricht, dass es sich von diesem in Bezug auf Sicherheit und Wirksamkeit nicht erheblich unterscheidet, gemäß Art. 10 Abs. 1 der Richtlinie 2001/83 an die Stelle der Verpflichtung, das Ergebnis der in Art. 8 Abs. 3 Buchst. i genannten Versuche vorzulegen (vgl. in diesem Sinne Urteil Generics [UK] u. a., Randnrn. 23 und 24).

28      Hierzu macht Generics im Wesentlichen geltend, dass ein Arzneimittel, das sich seit mehreren Jahren in einem Mitgliedstaat gemäß einer Genehmigung auf dem Markt befinde, die ausschließlich auf der Grundlage der in diesem Mitgliedstaat vor Umsetzung der einschlägigen Bestimmungen des Gemeinschaftsrechts anwendbaren nationalen Vorschriften erteilt worden sei, als Referenzarzneimittel im Sinne des Art. 10 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 2001/83 angesehen werden könne.

29      Diese Auslegung des Gemeinschaftsrechts ist unzutreffend.

30      Aus Wortlaut und Systematik der Richtlinie 2001/83, insbesondere ihrer Art. 6, 8 und 10, ergibt sich nämlich, dass als Referenzarzneimittel nur solche Arzneimittel angesehen werden können, für die eine Zulassung gemäß dieser Richtlinie erteilt wurde. Auch was die Arzneimittel betrifft, für die die Zulassung vor Inkrafttreten der Richtlinie beantragt worden war, muss der Antragsteller, um in den Genuss des abgekürzten Verfahrens zu kommen, nach der Rechtsprechung nachweisen, dass das Referenzarzneimittel auf der Grundlage des zum Zeitpunkt der Stellung des Antrags auf Zulassung für das Referenzarzneimittel geltenden Gemeinschaftsrechts genehmigt wurde (vgl. in diesem Sinne Urteil AstraZeneca, Randnr. 23).

31      Überdies liefe jede andere Auslegung der Richtlinie nicht nur den Anforderungen an die Sicherheit und Wirksamkeit von Arzneimitteln und damit dem Ziel der Erhaltung der öffentlichen Gesundheit zuwider, sondern auch dem Zweck der Richtlinie 65/65 und folglich dem der Richtlinie 2001/83, der, wie insbesondere aus ihrem vierten und ihrem fünften Erwägungsgrund hervorgeht, in der Angleichung der einschlägigen nationalen Rechtsvorschriften besteht.

32      Erlaubte man es, ein Arzneimittel als Referenzarzneimittel anzusehen, das ausschließlich aufgrund nationaler Vorschriften genehmigt wurde, die im betreffenden Mitgliedstaat vor der Umsetzung der genannten Richtlinien in dessen nationales Recht anwendbar waren, ließe man damit in Wirklichkeit eine Ausnahme von der u. a. in Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 2001/83 vorgesehenen Regel zu, nach der ein Arzneimittel, das nicht gemäß dem Gemeinschaftsrecht zugelassen wurde, in einem Mitgliedstaat nicht in den Verkehr gebracht werden darf. Wie der Generalanwalt in den Nrn. 31 bis 34 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, enthält die Richtlinie keine Bestimmung, die die Möglichkeit einer solchen Ausnahme vorsähe oder aus der sich ergäbe, dass das schlichte – selbst über mehrere Jahre erfolgte – Inverkehrbringen eines Arzneimittels, das keine Zulassung gemäß den gemeinschaftsrechtlichen Vorschriften erhalten hat, eine solche Genehmigung ersetzen könnte.

33      Aus den vorstehenden Erwägungen folgt, dass ein Arzneimittel, damit es als Referenzarzneimittel angesehen werden kann, gemäß dem Gemeinschaftsrecht genehmigt worden sein muss, bevor es in den Verkehr gebracht wird.

34      Im vorliegenden Fall ergibt sich aus den dem Gerichtshof übermittelten Akten, dass für Nivalin niemals ein Antrag auf Zulassung gestellt wurde, der die in Art. 8 der Richtlinie 2001/83 genannten Angaben und Unterlagen enthalten hätte, und dass daher auch niemals eine den Anforderungen dieser Richtlinie entsprechende Genehmigung für Nivalin erteilt wurde.

35      Ferner steht fest, dass für Nivalin auch kein Antrag auf Zulassung nach den vor dem Inkrafttreten der Richtlinie 2001/83 geltenden Vorschriften des Gemeinschaftsrechts gestellt wurde.

36      Tatsächlich wurde das Inverkehrbringen von Nivalin auf dem österreichischen Markt allein aufgrund der in Österreich zum Zeitpunkt der Erteilung der Genehmigung, d. h. 1963, geltenden Rechtsvorschriften genehmigt, und diese Genehmigung ist nach dem Beitritt der Republik Österreich zum EWR und schließlich zur Europäischen Union niemals entsprechend dem Gemeinschaftsrecht aktualisiert worden.

37      Auf die erste Frage ist daher zu antworten, dass ein Arzneimittel wie das im Ausgangsverfahren in Rede stehende Nivalin, das nicht in den Geltungsbereich der Verordnung Nr. 726/2004 fällt und für dessen Inverkehrbringen in einem Mitgliedstaat keine dem geltenden Gemeinschaftsrecht entsprechende Genehmigung erteilt wurde, nicht als Referenzarzneimittel im Sinne des Art. 10 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 2001/83 angesehen werden kann.

 Zur zweiten Frage

38      Angesichts der Antwort auf die erste Vorlagefrage ist die zweite Frage nicht zu beantworten.

 Kosten

39      Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Erste Kammer) für Recht erkannt:

Ein Arzneimittel wie das im Ausgangsverfahren in Rede stehende Nivalin, das nicht in den Geltungsbereich der Verordnung (EG) Nr. 726/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 31. März 2004 zur Festlegung von Gemeinschaftsverfahren für die Genehmigung und Überwachung von Human- und Tierarzneimitteln und zur Errichtung einer Europäischen Arzneimittel-Agentur fällt und für dessen Inverkehrbringen in einem Mitgliedstaat keine dem geltenden Gemeinschaftsrecht entsprechende Genehmigung erteilt wurde, kann nicht als Referenzarzneimittel im Sinne des Art. 10 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 2001/83/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 6. November 2001 zur Schaffung eines Gemeinschaftskodexes für Humanarzneimittel in der durch die Richtlinie 2004/27/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 31. März 2004 geänderten Fassung angesehen werden.

Unterschriften


* Verfahrenssprache: Englisch.