Verbundene Rechtssachen C-471/07 und C-472/07

Association générale de l’industrie du médicament (AGIM) ASBL u.a.

gegen

État belge

(Vorabentscheidungsersuchen des Conseil d'État [Belgien])

„Richtlinie 89/105/EWG – Transparenz der Maßnahmen zur Regelung der Preisfestsetzung bei Arzneimitteln für den menschlichen Gebrauch – Art. 4 Abs. 1 – Unmittelbare Wirkung – Preisstopp“

Leitsätze des Urteils

1.        Rechtsangleichung – Pharmazeutische Erzeugnisse – Richtlinie 89/105 – Humanarzneimittel

(Richtlinie 89/105 des Rates, Art. 4 Abs. 1)

2.        Handlungen der Organe – Richtlinien – Unmittelbare Wirkung

(Richtlinie 89/105 des Rates, Art. 4 Abs. 1)

3.        Rechtsangleichung – Pharmazeutische Erzeugnisse – Richtlinie 89/105 – Humanarzneimittel

(Richtlinie 89/105 des Rates, Art. 4 Abs. 1)

1.                 Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 89/105 betreffend die Transparenz von Maßnahmen zur Regelung der Preisfestsetzung bei Arzneimitteln für den menschlichen Gebrauch und ihre Einbeziehung in die staatlichen Krankenversicherungssysteme ist dahin auszulegen, dass es Sache der Mitgliedstaaten ist, unter Beachtung des mit dieser Richtlinie verfolgten Transparenzziels und der in ihrem Art. 4 Abs. 1 vorgesehenen Anforderungen die Kriterien festzulegen, anhand deren die in dieser Bestimmung vorgesehene Überprüfung der gesamtwirtschaftlichen Lage zu erfolgen hat, wobei diese Kriterien auf objektive und nachprüfbare Daten gestützt sein müssen.

Dabei können die Mitgliedstaaten die Ausgaben des öffentlichen Gesundheitswesens allein oder aber die gesamtwirtschaftliche Lage in Bezug auf weitere Bereiche, wie den Sektor der pharmazeutischen Industrie, berücksichtigen. Auch verbietet Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 89/105 nicht, die dort vorgesehene jährliche Überprüfung der gesamtwirtschaftlichen Lage auf eine oder mehrere allgemeine Zielvorgaben, wie das finanzielle Gleichgewicht der nationalen Gesundheitsfürsorgesysteme, zu stützen. Eine gegenteilige Auslegung würde nämlich ein Einwirken auf die mitgliedstaatliche Organisation der internen Sozialversicherungspolitiken darstellen und die Politik der Mitgliedstaaten in Bezug auf die Preisfestsetzung für Arzneimittel in einem höheren Maße beeinflussen, als zur Gewährleistung der Transparenz im Sinne dieser Richtlinie notwendig ist.

(vgl. Randnrn. 20-22, 24, Tenor 1)

2.         Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 89/105 betreffend die Transparenz von Maßnahmen zur Regelung der Preisfestsetzung bei Arzneimitteln für den menschlichen Gebrauch und ihre Einbeziehung in die staatlichen Krankenversicherungssysteme ist dahin auszulegen, dass er inhaltlich nicht so genau ist, dass sich ein Einzelner vor einem nationalen Gericht gegenüber einem Mitgliedstaat auf ihn berufen könnte.

Zwar erlegt diese Bestimmung den Mitgliedstaaten im Fall eines Preisstopps für alle Arzneimittel oder bestimmte Arzneimittelkategorien die unbedingte Verpflichtung auf, mindestens einmal jährlich zu überprüfen, ob nach der gesamtwirtschaftlichen Lage die Beibehaltung dieses Preisstopps gerechtfertigt ist, sie enthält aber keine Angabe dazu, auf welche Tatsachen der Erlass der Maßnahmen zur Kontrolle der Arzneimittelpreise gestützt sein muss, und legt weder die Kriterien fest, anhand deren eine solche jährliche Überprüfung vorzunehmen ist, noch die Methode oder die Modalitäten, nach denen diese Überprüfung zu erfolgen hat.

(vgl. Randnrn. 27, 29, Tenor 2)

3.        Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 89/105 betreffend die Transparenz von Maßnahmen zur Regelung der Preisfestsetzung bei Arzneimitteln für den menschlichen Gebrauch und ihre Einbeziehung in die staatlichen Krankenversicherungssysteme ist dahin auszulegen, dass ein Mitgliedstaat 18 Monate nach Beendigung eines acht Jahre währenden allgemeinen Preisstopps für erstattungsfähige Arzneimittel einen neuen Preisstopp für Arzneimittel ohne die in dieser Bestimmung vorgesehene Überprüfung der gesamtwirtschaftlichen Lage erlassen kann.

Schon aus dem Wortlaut dieser Bestimmung ergibt sich nämlich, dass durch die Verpflichtung der Mitgliedstaaten, im Fall eines Preisstopps für Arzneimittel eine jährliche Überprüfung der gesamtwirtschaftlichen Lage vorzunehmen, sichergestellt werden soll, dass die Beibehaltung des Preisstopps aufgrund der Lage gerechtfertigt ist. Diese Verpflichtung besteht, wenn ein Mitgliedstaat nach dem Erlass eines Preisstopps für Arzneimittel diesen ohne Änderungen beibehalten will. Dagegen erlegt Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 89/105 den Mitgliedstaaten diese Verpflichtung nicht beim Erlass einer solchen Maßnahme auf, auch wenn diese 18 Monate nach Beendigung eines anderen Preisstopps für Arzneimittel getroffen wird.

(vgl. Randnrn. 32-35, Tenor 3)







URTEIL DES GERICHTSHOFS (Dritte Kammer)

14. Januar 2010(*)

„Richtlinie 89/105/EWG – Transparenz der Maßnahmen zur Regelung der Preisfestsetzung bei Arzneimitteln für den menschlichen Gebrauch – Art. 4 Abs. 1 – Unmittelbare Wirkung – Preisstopp“

In den verbundenen Rechtssachen C‑471/07 und C‑472/07

betreffend Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 234 EG, eingereicht vom Conseil d’État (Belgien) mit Entscheidungen vom 15. Oktober 2007, beim Gerichtshof eingegangen am 24. Oktober 2007, in den Verfahren

Association générale de l’industrie du médicament (AGIM) ASBL (C‑471/07 und C‑472/07),

Bayer SA (C‑471/07 und C‑472/07),

Pfizer SA (C‑471/07 und C‑472/07),

Servier Benelux SA (C‑471/07 und C‑472/07),

Janssen Cilag SA (C‑471/07),

Sanofi-Aventis Belgium SA, ehemals Sanofi-Synthelabo SA (C‑472/07),

gegen

État belge,

Beteiligte:

Sanofi-Aventis Belgium SA (C‑471/07),

erlässt

DER GERICHTSHOF (Dritte Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten K. Lenaerts, der Richterin R. Silva de Lapuerta (Berichterstatterin) sowie der Richter E. Juhász, G. Arestis und T. von Danwitz,

Generalanwältin: V. Trstenjak,

Kanzler: R. Grass,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

–        der Association générale de l’industrie du médicament (AGIM) ASBL, der Bayer SA, der Janssen Cilag SA, der Pfizer SA, der Sanofi-Aventis Belgium SA und der Servier Benelux SA, vertreten durch X. Leurquin, avocat,

–        der belgischen Regierung, vertreten durch T. Materne als Bevollmächtigten im Beistand von J. Sohier und P. Hofströssler, avocats,

–        der polnischen Regierung, vertreten durch M. Dowgielewicz als Bevollmächtigten,

–        der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, vertreten durch M. Šimerdová und R. Troosters als Bevollmächtigte,

aufgrund des nach Anhörung der Generalanwältin ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,

folgendes

Urteil

1        Die Vorabentscheidungsersuchen betreffen die Auslegung von Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 89/105/EWG des Rates vom 21. Dezember 1988 betreffend die Transparenz von Maßnahmen zur Regelung der Preisfestsetzung bei Arzneimitteln für den menschlichen Gebrauch und ihre Einbeziehung in die staatlichen Krankenversicherungssysteme (ABl. 1989, L 40, S. 8).

2        Diese Ersuchen ergehen im Rahmen von Rechtsstreitigkeiten zwischen der Association générale de l’industrie du médicament (AGIM) ASBL, der Bayer SA, der Pfizer SA, der Servier Benelux SA, der Janssen Cilag SA und der Sanofi-Aventis Belgium SA, ehemals Sanofi-Synthelabo SA, (im Folgenden zusammen: Klägerinnen der Ausgangsverfahren) einerseits und dem belgischen Staat andererseits über von der belgischen Regierung erlassene Preisstopps für Arzneimittel.

 Rechtlicher Rahmen

 Gemeinschaftsrecht

3        Im fünften und im sechsten Erwägungsgrund der Richtlinie 89/105 heißt es:

„Ziel dieser Richtlinie ist es, einen Überblick über die einzelstaatlichen Vereinbarungen zur Preisfestsetzung zu erhalten, einschließlich ihres Funktionierens in bestimmten Fällen und aller ihnen zugrunde liegenden Kriterien, und sie allen Teilnehmern am Arzneimittelmarkt in den Mitgliedstaaten allgemein zugänglich zu machen. …

Als erster Schritt zur Beseitigung dieser Unterschiede erweist sich die Festlegung einer Reihe von Anforderungen als dringend notwendig, die darauf abzielen, sicherzustellen, dass alle Betroffenen überprüfen können, dass die einzelstaatlichen Maßnahmen keine mengenmäßigen Beschränkungen für die Ein- oder Ausfuhr oder Maßnahmen gleicher Wirkung darstellen. Diese Anforderungen beeinflussen jedoch nicht die Politik der Mitgliedstaaten, die für die Preisfestsetzung für Arzneimittel den Regeln des freien Wettbewerbs den Vorrang geben. Diese Anforderungen beeinflussen auch die einzelstaatliche Politik in Bezug auf die Preisfestsetzung und das Sozialversicherungssystem nur in dem Maße, in dem dies für die Transparenz im Sinne dieser Richtlinie notwendig ist.“

4        Art. 4 Abs. 1 dieser Richtlinie bestimmt:

„Verfügen die zuständigen Behörden eines Mitgliedstaats einen Preisstopp für alle Arzneimittel oder für bestimmte Arzneimittelkategorien, so überprüft dieser Mitgliedstaat mindestens einmal jährlich, ob nach der gesamtwirtschaftlichen Lage die Beibehaltung des Preisstopps ohne Änderungen gerechtfertigt ist. Innerhalb von neunzig Tagen nach Beginn dieser Überprüfung erklären die zuständigen Behörden, ob und welche Preiserhöhungen oder ‑senkungen genehmigt werden.“

 Nationales Recht

5        Mit der aufgrund des Programmgesetzes vom 22. Dezember 1989 (Moniteur belge vom 30. Dezember 1989, S. 21382) erlassenen Ministerialverordnung vom 29. Dezember 1989 über den Preis erstattungsfähiger Arzneimittel (Moniteur belge vom 6. Januar 1990, S. 162) in ihrer durch die Ministerialverordnungen vom 20. Januar 2003 (Moniteur belge vom 11. Februar 2003, S. 6877) und vom 13. Juni 2005 (Moniteur belge vom 1. Juli 2005, S. 30399) geänderten Fassung wurde für Arzneimittel mit Wirkung vom 1. Januar bis 31. Dezember 2003 und vom 1. Juli bis 31. Dezember 2005 ein Preisstopp eingeführt.

 Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

6        In der Rechtssache C‑471/07 beantragten die Klägerinnen der Ausgangsverfahren mit am 11. April 2003 beim vorlegenden Gericht eingereichter Klageschrift, Art. 3 der Ministerialverordnung vom 20. Januar 2003 für nichtig zu erklären, soweit er einen Preisstopp für Medikamente vom 1. Januar bis 31. Dezember 2003 vorsah.

7        In der Rechtssache C‑472/07 beantragten die Klägerinnen der Ausgangsverfahren außer der Janssen Cilag SA mit am 31. August 2005 beim vorlegenden Gericht eingereichter Klageschrift, Art. 1 der Ministerialverordnung vom 13. Juni 2005 für nichtig zu erklären, soweit mit dieser Bestimmung ein Preisstopp für Arzneimittel vom 1. Juli bis 31. Dezember 2005 eingeführt worden war.

8        In diesen beiden Rechtssachen machen die Klägerinnen der Ausgangsverfahren insbesondere einen Verstoß gegen Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 89/105 geltend. Sie tragen im Wesentlichen vor, die fraglichen Preisstopps seien verfügt worden, ohne dass gemäß dieser Bestimmung konkret geprüft worden sei, ob dies nach der gesamtwirtschaftlichen Lage gerechtfertigt sei.

9        In diesem Kontext hat in der Rechtssache C‑471/07 der Conseil d’État das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:

1.      Ist der Begriff der Prüfung der gesamtwirtschaftlichen Lage im Sinne des Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 89/105 so zu verstehen, dass er sich nur auf die Beherrschung der Ausgaben des öffentlichen Gesundheitswesens bezieht, oder ist dieser Begriff darüber hinaus auf die gesamtwirtschaftliche Lage in Bezug auf weitere Bereiche, insbesondere den Sektor der pharmazeutischen Industrie, zu erstrecken, dessen Produkte einem Preisstopp unterworfen werden können?

2.      Kann die Überprüfung nach der gesamtwirtschaftlichen Lage im Sinne des Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 89/105 auf eine oder mehrere allgemeine Zielvorgaben, wie z. B. die Gewährleistung eines ausgeglichenen Haushalts der Gesundheitsfürsorge, gestützt werden, oder muss sie auf konkreteren Kriterien beruhen?

10      In der Rechtssache C‑472/07 sind die dritte und die vierte Frage mit den Vorlagefragen in der Rechtssache C‑471/07 identisch. Die ersten beiden Fragen lauten wie folgt:

1.      Ist Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 89/105 im innerstaatlichen Recht der Mitgliedstaaten unmittelbar anwendbar, nachdem die Frist zur Umsetzung dieser Richtlinie am 31. Dezember 1989 abgelaufen ist?

2.      Ist Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 89/105 dahin auszulegen, dass ein Mitgliedstaat, der einen allgemeinen Preisstopp für erstattungsfähige Arzneimittel, der acht Jahre gedauert hat, 18 Monate nach seiner Aufhebung erneut für ein weiteres Jahr einführt, bei dieser Wiedereinführung nicht die durch diesen Preisstopp beeinflusste gesamtwirtschaftliche Lage zu prüfen braucht?

11      Mit Beschluss des Präsidenten des Gerichtshofs vom 4. Dezember 2007 sind die Rechtssachen C‑471/07 und C‑472/07 zu gemeinsamem schriftlichen und mündlichen Verfahren und zu gemeinsamer Entscheidung verbunden worden.

12      Mit Entscheidung des Präsidenten des Gerichtshofs vom 3. März 2008 ist das Verfahren in diesen Rechtssachen bis zum Erlass des Urteils vom 2. April 2009, A. Menarini Industrie Farmaceutiche Riunite u. a. (C‑352/07 bis C‑356/07, C‑365/07 bis C‑367/07 und C‑400/07, Slg. 2009, I‑0000), ausgesetzt worden.

13      Nach Erlass dieses Urteils hat der Präsident des Gerichtshofs am 5. Juni 2009 die Wiederaufnahme des Verfahrens in den genannten Rechtssachen beschlossen.

 Zu den Vorlagefragen

 Zu den Fragen in der Rechtssache C‑471/07 sowie zur dritten und zur vierten Frage in der Rechtssache C‑472/07

14      Mit den Fragen in der Rechtssache C‑471/07 sowie der dritten und der vierten Frage in der Rechtssache C‑472/07, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob

–        die in Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 89/105 vorgesehene Überprüfung der gesamtwirtschaftlichen Lage sich auf den Aspekt der Beherrschung der Ausgaben des öffentlichen Gesundheitswesens beschränkt oder ob sie auf weitere Bereiche, insbesondere den Sektor der pharmazeutischen Industrie, erstreckt werden muss, dessen Produkte einem Preisstopp unterworfen werden können;

–        diese Überprüfung auf eine oder mehrere allgemeine Zielvorgaben, wie die Notwendigkeit, einen ausgeglichenen Haushalt der Gesundheitsfürsorge zu gewährleisten, gestützt werden kann, oder ob sie auf konkreteren Kriterien beruhen muss.

15      Zum einen soll die Richtlinie 89/105 nach ihrem fünften Erwägungsgrund vorrangig für Transparenz bei der Festsetzung der Preise einschließlich ihres Funktionierens in bestimmten Fällen und der ihnen zugrunde liegenden Kriterien sorgen (Urteile vom 26. Oktober 2006, Pohl-Boskamp, C‑317/05, Slg. 2006, I‑10611, Randnr. 29, und A. Menarini Industrie Farmaceutiche Riunite u. a., Randnr. 27), und zum anderen beeinflussen nach dem sechsten Erwägungsgrund der Richtlinie die sich aus ihr ergebenden Anforderungen die Politik der Mitgliedstaaten für die Festsetzung der Arzneimittelpreise und die einzelstaatliche Politik in Bezug auf die Preisfestsetzung und das Sozialversicherungssystem nur in dem Maße, in dem dies für die Transparenz im Sinne der Richtlinie notwendig ist (vgl. Urteil A. Menarini Industrie Farmaceutiche Riunite u. a., Randnr. 35).

16      Daraus folgt, dass die Richtlinie 89/105 vom Gedanken eines minimalen Einwirkens auf die mitgliedstaatliche Organisation der internen Sozialversicherungspolitiken getragen ist (Urteile vom 20. Januar 2005, Merck, Sharp & Dohme, C‑245/03, Slg. 2005, I‑637, Randnr. 27, und A. Menarini Industrie Farmaceutiche Riunite u. a., Randnr. 36).

17      Außerdem ist festzustellen, dass in Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 89/105 nicht angegeben ist, welche Art von Ausgaben von den Mitgliedstaaten berücksichtigt werden darf, wenn sie beschließen, Maßnahmen, mit denen für alle Arzneimittel oder für bestimmte Arzneimittelkategorien ein Preisstopp verfügt wird, beizubehalten oder Maßnahmen der Erhöhung oder Senkung der betroffenen Preise zu erlassen (Urteil A. Menarini Industrie Farmaceutiche Riunite u. a., Randnr. 51).

18      So sieht diese Bestimmung zwar vor, dass die Mitgliedstaaten mindestens einmal jährlich eine Überprüfung der gesamtwirtschaftlichen Lage vornehmen, doch legt sie nicht fest, anhand welcher Kriterien diese Überprüfung zu erfolgen hat (Urteil A. Menarini Industrie Farmaceutiche Riunite u. a., Randnr. 52).

19      Es ist daher Sache der Mitgliedstaaten, diese Kriterien unter Beachtung des mit der Richtlinie 89/105 verfolgten Transparenzziels und der in ihrem Art. 4 Abs. 1 vorgesehenen Anforderungen festzulegen (vgl. Urteil A. Menarini Industrie Farmaceutiche Riunite u. a., Randnr. 53).

20      Dabei können die Mitgliedstaaten die Ausgaben des öffentlichen Gesundheitswesens allein oder aber die gesamtwirtschaftliche Lage in Bezug auf weitere Bereiche, wie den Sektor der pharmazeutischen Industrie, berücksichtigen (vgl. in diesem Sinne Urteil A. Menarini Industrie Farmaceutiche Riunite u. a., Randnr. 54).

21      Auch verbietet Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 89/105 nicht, die dort vorgesehene jährliche Überprüfung der gesamtwirtschaftlichen Lage auf eine oder mehrere allgemeine Zielvorgaben, wie das finanzielle Gleichgewicht der nationalen Gesundheitsfürsorgesysteme, zu stützen.

22      Eine gegenteilige Auslegung würde nämlich ein Einwirken auf die mitgliedstaatliche Organisation der internen Sozialversicherungspolitiken darstellen und die Politik der Mitgliedstaaten in Bezug auf die Preisfestsetzung für Arzneimittel in einem höheren Maße beeinflussen, als zur Gewährleistung der Transparenz im Sinne der Richtlinie 89/105 notwendig ist (Urteil A. Menarini Industrie Farmaceutiche Riunite u. a., Randnr. 47).

23      Allerdings müssen die Kriterien, anhand deren diese Überprüfung vorgenommen wird, Transparenz im Sinne der Richtlinie gewährleisten, d. h., sie müssen auf objektive und nachprüfbare Tatsachen gestützt sein (vgl. in diesem Sinne Urteil A. Menarini Industrie Farmaceutiche Riunite u. a., Randnr. 48).

24      Demgemäß ist auf die Fragen in der Rechtssache C‑471/07 und auf die dritte und die vierte Frage in der Rechtssache C‑472/07 zu antworten, dass Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 89/105 dahin auszulegen ist, dass es Sache der Mitgliedstaaten ist, unter Beachtung des mit dieser Richtlinie verfolgten Transparenzziels und der in ihrem Art. 4 Abs. 1 vorgesehenen Anforderungen die Kriterien festzulegen, anhand deren die in dieser Bestimmung vorgesehene Überprüfung der gesamtwirtschaftlichen Lage zu erfolgen hat, wobei diese Kriterien auf objektive und nachprüfbare Tatsachen gestützt sein müssen.

 Zur ersten Frage in der Rechtssache C‑472/07

25      Mit der ersten Frage in der Rechtssache C‑472/07 möchte das vorlegende Gericht Aufschluss darüber erhalten, ob Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 89/105 nach Ablauf der Frist zu deren Umsetzung in das innerstaatliche Recht der Mitgliedstaaten unmittelbare Wirkung hat.

26      Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs kann sich der Einzelne in all den Fällen, in denen die Bestimmungen einer Richtlinie inhaltlich unbedingt und hinreichend genau sind, vor den nationalen Gerichten gegenüber dem Staat auf diese Bestimmungen berufen, wenn dieser die Richtlinie nicht fristgemäß oder nur unzulänglich in das nationale Recht umgesetzt hat (vgl. Urteile vom 26. Februar 1986, Marshall, 152/84, Slg. 1986, 723, Randnr. 46, und vom 5. Oktober 2004, Pfeiffer u. a., C‑397/01 bis C‑403/01, Slg. 2004, I‑8835, Randnr. 103).

27      Zwar erlegt Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 89/105 den Mitgliedstaaten im Fall eines Preisstopps für alle Arzneimittel oder bestimmte Arzneimittelkategorien die unbedingte Verpflichtung auf, mindestens einmal jährlich zu überprüfen, ob nach der gesamtwirtschaftlichen Lage die Beibehaltung dieses Preisstopps gerechtfertigt ist, enthält aber keine Angabe dazu, auf welche Tatsachen der Erlass der Maßnahmen zur Kontrolle der Arzneimittelpreise gestützt sein muss, und legt weder die Kriterien fest, anhand deren eine solche jährliche Überprüfung vorzunehmen ist (vgl. Urteil A. Menarini Industrie Farmaceutiche Riunite u. a., Randnrn. 45 und 52), noch die Methode oder die Modalitäten, nach denen diese Überprüfung zu erfolgen hat.

28      Folglich kann Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 89/105 nicht als inhaltlich so genau angesehen werden, dass sich ein Einzelner vor einem nationalen Gericht gegenüber einem Mitgliedstaat auf ihn berufen könnte.

29      Unter diesen Umständen ist auf die erste Frage in der Rechtssache C‑472/07 zu antworten, dass Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 89/105 dahin auszulegen ist, dass er inhaltlich nicht so genau ist, dass sich ein Einzelner vor einem nationalen Gericht gegenüber einem Mitgliedstaat auf ihn berufen könnte.

 Zur zweiten Frage in der Rechtssache C‑472/07

30      Mit der zweiten Frage in der Rechtssache C‑472/07 möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 89/105 dahin auszulegen ist, dass ein Mitgliedstaat 18 Monate nach Beendigung eines acht Jahre währenden allgemeinen Preisstopps für erstattungsfähige Arzneimittel einen neuen Preisstopp für Arzneimittel ohne die in dieser Bestimmung vorgesehene Prüfung der gesamtwirtschaftlichen Lage erlassen kann.

31      Nach dem genannten Art. 4 Abs. 1 hat ein Mitgliedstaat, wenn seine zuständigen Behörden einen Preisstopp für alle Arzneimittel oder für bestimmte Arzneimittelkategorien verfügen, mindestens einmal jährlich zu überprüfen, ob nach der gesamtwirtschaftlichen Lage die Beibehaltung des Preisstopps ohne Änderungen gerechtfertigt ist.

32      Somit ergibt sich schon aus dem Wortlaut dieser Bestimmung, dass durch die Verpflichtung der Mitgliedstaaten, im Fall eines Preisstopps für Arzneimittel eine jährliche Überprüfung der gesamtwirtschaftlichen Lage vorzunehmen, sichergestellt werden soll, dass die Beibehaltung des Preisstopps aufgrund der Lage gerechtfertigt ist.

33      Diese Verpflichtung besteht daher, wenn ein Mitgliedstaat nach dem Erlass eines Preisstopps für Arzneimittel diesen ohne Änderungen beibehalten will.

34      Dagegen erlegt Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 89/105 den Mitgliedstaaten diese Verpflichtung nicht beim Erlass einer solchen Maßnahme auf, auch wenn diese, wie in den Ausgangsverfahren, 18 Monate nach Beendigung eines anderen Preisstopps für Arzneimittel getroffen wird.

35      Daher ist auf die zweite Frage in der Rechtssache C‑472/07 zu antworten, dass Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 89/105 dahin auszulegen ist, dass ein Mitgliedstaat 18 Monate nach Beendigung eines acht Jahre währenden allgemeinen Preisstopps für erstattungsfähige Arzneimittel einen neuen Preisstopp für Arzneimittel ohne die in dieser Bestimmung vorgesehene Überprüfung der gesamtwirtschaftlichen Lage erlassen kann.

 Kosten

36      Für die Parteien der Ausgangsverfahren ist das Verfahren ein Zwischenstreit in den bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreitigkeiten; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Dritte Kammer) für Recht erkannt:

1.      Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 89/105/EWG des Rates vom 21. Dezember 1988 betreffend die Transparenz von Maßnahmen zur Regelung der Preisfestsetzung bei Arzneimitteln für den menschlichen Gebrauch und ihre Einbeziehung in die staatlichen Krankenversicherungssysteme ist dahin auszulegen, dass es Sache der Mitgliedstaaten ist, unter Beachtung des mit dieser Richtlinie verfolgten Transparenzziels und der in ihrem Art. 4 Abs. 1 vorgesehenen Anforderungen die Kriterien festzulegen, anhand deren die in dieser Bestimmung vorgesehene Überprüfung der gesamtwirtschaftlichen Lage zu erfolgen hat, wobei diese Kriterien auf objektive und nachprüfbare Daten gestützt sein müssen.

2.      Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 89/105 ist dahin auszulegen, dass er inhaltlich nicht so genau ist, dass sich ein Einzelner vor einem nationalen Gericht gegenüber einem Mitgliedstaat auf ihn berufen könnte.

3.      Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 89/105 ist dahin auszulegen, dass ein Mitgliedstaat 18 Monate nach Beendigung eines acht Jahre währenden allgemeinen Preisstopps für erstattungsfähige Arzneimittel einen neuen Preisstopp für Arzneimittel ohne die in dieser Bestimmung vorgesehene Überprüfung der gesamtwirtschaftlichen Lage erlassen kann.

Unterschriften


* Verfahrenssprache: Französisch.