Rechtssache C‑394/07

Marco Gambazzi

gegen

DaimlerChrysler Canada Inc.

und

CIBC Mellon Trust Company

(Vorabentscheidungsersuchen der Corte d'appello di Milano)

„Brüsseler Übereinkommen – Anerkennung und Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen – Versagungsgründe – Verstoß gegen die öffentliche Ordnung des ersuchten Staates – Ausschluss des Beklagten vom Verfahren vor dem Gericht des Urteilsstaats wegen Nichtbefolgung einer gerichtlichen Anordnung“

Leitsätze des Urteils

1.        Übereinkommen über die gerichtliche Zuständigkeit und die Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen – Anerkennung und Vollstreckung – Begriff „Entscheidung“ – Versäumnisurteile – Einbeziehung – Voraussetzungen

(Übereinkommen vom 27. September 1968, Art. 25)

2.        Übereinkommen über die gerichtliche Zuständigkeit und die Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen – Anerkennung und Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen – Versagungsgründe – Verstoß gegen die öffentliche Ordnung des ersuchten Staates – Beurteilung durch das Gericht des ersuchten Staates

(Übereinkommen vom 27. September 1968, Art. 27 Nr. 1)

1.        Art. 25 des Übereinkommens vom 27. September 1968 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen in der durch die Beitrittsübereinkommen von 1978, 1982, 1989 und 1996 geänderten Fassung gilt unterschiedslos für alle von einem Gericht eines Vertragsstaats erlassenen Entscheidungen. Dafür, dass solche Entscheidungen in den Anwendungsbereich des Brüsseler Übereinkommens fallen, genügt, dass es sich um solche gerichtlichen Entscheidungen handelt, denen, bevor in einem anderen Staat ihre Anerkennung und Vollstreckung beantragt wurde, im Urteilsstaat nach unterschiedlichen Modalitäten ein kontradiktorisches Verfahren vorangegangen ist oder hätte vorangehen können. Wenn die Entscheidungen eines nationalen Gerichts in Form eines Versäumnisurteils und eines Versäumnisbeschlusses in einem grundsätzlich kontradiktorisch ausgestalteten Zivilverfahren ergangen sind, kann der Umstand, dass das Gericht den Beklagten, der sich auf das Verfahren ordnungsgemäß eingelassen hatte, als säumig behandelt hat, nicht genügen, um die Qualifizierung der ergangenen Entscheidungen in Frage zu stellen.

(vgl. Randnrn. 22-23, 25)


Art. 27 Nr. 1 des Übereinkommens vom 27. September 1968 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen in der durch die Beitrittsübereinkommen von 1978, 1982, 1989 und 1996 geänderten Fassung ist dahin auszulegen, dass das Gericht des ersuchten Staates den Umstand, dass das Gericht des Urteilsstaats über die Anträge des Klägers ohne Anhörung des Beklagten entschieden hat, der sich auf das Verfahren bei ihm ordnungsgemäß eingelassen hat, jedoch durch einen Beschluss mit der Begründung vom Verfahren ausgeschlossen worden ist, dass er Verpflichtungen aus einem zuvor im Rahmen desselben Verfahrens ergangenen Beschlusses nicht erfüllt habe, im Hinblick auf die Ordre-public-Klausel der genannten Vorschrift berücksichtigen darf, wenn es beim Abschluss einer Gesamtwürdigung des Verfahrens und in Anbetracht sämtlicher Umstände zu dem Ergebnis gelangt, dass diese Ausschlussmaßnahme eine offensichtliche und unverhältnismäßige Beeinträchtigung des Anspruchs des Beklagten auf rechtliches Gehör dargestellt hat. Die Prüfung durch das vorlegende Gericht muss sich nicht nur auf die Bedingungen beziehen, unter denen die Entscheidungen, deren Vollstreckung beantragt wird, ergangen sind, sondern auch auf die Bedingungen, unter denen in einer früheren Phase die Auflagebeschlüsse erlassen wurden, und insbesondere auf die Prüfung zum einen der dem Beklagten zur Verfügung stehenden Rechtsbehelfe und zum anderen der Möglichkeit für den Beklagten, im Rahmen dieser Entscheidungen unter Wahrung des kontradiktorischen Verfahrens und vollständiger Ausübung seiner Verteidigungsrechte seine Anhörung zu erreichen.

(vgl. Randnrn. 41, 46, 48 und Tenor)







URTEIL DES GERICHTSHOFS (Erste Kammer)

2. April 2009(*)

„Brüsseler Übereinkommen – Anerkennung und Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen – Versagungsgründe – Verstoß gegen die öffentliche Ordnung des ersuchten Staates – Ausschluss des Beklagten vom Verfahren vor dem Gericht des Urteilsstaats wegen Nichtbefolgung einer gerichtlichen Anordnung“

In der Rechtssache C‑394/07

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach dem Protokoll vom 3. Juni 1971 betreffend die Auslegung des Übereinkommens vom 27. September 1968 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen durch den Gerichtshof, eingereicht von der Corte d’appello di Milano (Italien) mit Entscheidung vom 27. Juni 2007, beim Gerichtshof eingegangen am 22. August 2007, in dem Verfahren

Marco Gambazzi

gegen

DaimlerChrysler Canada Inc.,

CIBC Mellon Trust Company

erlässt

DER GERICHTSHOF (Erste Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten P. Jann (Berichterstatter) sowie der Richter M. Ilešič, A. Tizzano, A. Borg Barthet und J.‑J. Kasel,

Generalanwältin: J. Kokott,

Kanzler: M.‑A. Gaudissart, Referatsleiter,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 9. Oktober 2008,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

–        von Herrn Gambazzi, vertreten durch B. Nascimbene und M. Condinanzi, avvocati,

–        der DaimlerChrysler Canada Inc. und der CIBC Mellon Trust Company, vertreten durch F. Alvino, S. Pravettoni und A. Anglani, avvocati,

–        der italienischen Regierung, vertreten durch I. M. Braguglia als Bevollmächtigten im Beistand von W. Ferrante, avvocato dello Stato,

–        der griechischen Regierung, vertreten durch T. Papadopoulou und O. Patsopoulou als Bevollmächtigte,

–        der Regierung des Vereinigten Königreichs, vertreten durch Z. Bryanston-Cross, I. Rao und M. Gray als Bevollmächtigte,

–        der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, vertreten durch A.‑M. Rouchaud-Joët, E. Montaguti und N. Bambara als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge der Generalanwältin in der Sitzung vom 18. Dezember 2008

folgendes

Urteil

1        Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 27 Nr. 1 des Übereinkommens vom 27. September 1968 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen (ABl. 1972, L 299, S. 32) in der durch das Übereinkommen vom 9. Oktober 1978 über den Beitritt des Königreichs Dänemark, Irlands und des Vereinigten Königreichs Großbritannien und Nordirland (ABl. L 304, S. 1 und – geänderte Fassung – S. 77), das Übereinkommen vom 25. Oktober 1982 über den Beitritt der Republik Griechenland (ABl. L 388, S. 1), das Übereinkommen vom 26. Mai 1989 betreffend den Beitritt des Königreichs Spanien und der Portugiesischen Republik (ABl. L 285, S. 1) sowie das Übereinkommen vom 29. November 1996 über den Beitritt der Republik Österreich, der Republik Finnland und des Königreichs Schweden (ABl. 1997, C 15, S. 1) geänderten Fassung (im Folgenden: Brüsseler Übereinkommen).

2        Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits von Herrn Gambazzi, wohnhaft in Lugano (Schweiz), gegen die DaimlerChrysler Canada Inc. (im Folgenden: DaimlerChrysler) und die CIBC Mellon Trust Company (im Folgenden: CIBC) mit Sitz in Kanada, bei dem es um die Vollstreckung zweier im Vereinigten Königreich ergangener Entscheidungen in Italien geht.

 Rechtlicher Rahmen

 Brüsseler Übereinkommen

3        Die Voraussetzungen, unter denen die in einem Vertragsstaat ergangenen Entscheidungen in einem anderen Vertragsstaat anerkannt und vollstreckt werden, sind in den Art. 25 bis 49 des Brüsseler Übereinkommens unter Titel III („Anerkennung und Vollstreckung“) geregelt.

4        Art. 25 dieses Übereinkommens sieht vor:

„Unter ‚Entscheidung‘ im Sinne dieses Übereinkommens ist jede von einem Gericht eines Vertragsstaats erlassene Entscheidung zu verstehen, ohne Rücksicht auf ihre Bezeichnung wie Urteil, Beschluss oder Vollstreckungsbefehl, einschließlich des Kostenfestsetzungsbeschlusses eines Urkundsbeamten.“

5        Art. 27 Nrn. 1 und 2 dieses Übereinkommens bestimmt:

„Eine Entscheidung wird nicht anerkannt,

1.      wenn die Anerkennung der öffentlichen Ordnung des Staates, in dem sie geltend gemacht wird, widersprechen würde;

2.      wenn dem Beklagten, der sich auf das Verfahren nicht eingelassen hat, das dieses Verfahren einleitende Schriftstück oder ein gleichwertiges Schriftstück nicht ordnungsmäßig und nicht so rechtzeitig zugestellt worden ist, dass er sich verteidigen konnte.“

6        Art. 29 des Brüsseler Übereinkommens, der die Anerkennung der Entscheidungen betrifft, und Art. 34 Abs. 3, der die Vollstreckung der Entscheidungen betrifft, bestimmen gleichlautend:

„Die ausländische Entscheidung darf keinesfalls in der Sache selbst nachgeprüft werden.“

 Das Luganer Übereinkommen

7        Das Übereinkommen über die gerichtliche Zuständigkeit und die Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen, geschlossen in Lugano am 16. September 1988 (ABl. L 319, S. 9, im Folgenden: Luganer Übereinkommen), hat seinen Ursprung in der Schaffung der Europäischen Freihandelsassoziation und der Einrichtung einer derjenigen des Brüsseler Übereinkommens ähnlichen Regelung zwischen deren Vertragsstaaten und den Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaften.

8        Art. 27 Nr. 1 des Luganer Übereinkommens bestimmt:

„Eine Entscheidung wird nicht anerkannt,

1.      wenn die Anerkennung der öffentlichen Ordnung des Staates, in dem sie geltend gemacht wird, widersprechen würde“.

9        Nach der Erklärung der Vertreter der Regierungen der Unterzeichnerstaaten des Luganer Übereinkommens, die Mitglieder der Europäischen Gemeinschaften sind, ist es „angezeigt …, dass der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften bei der Auslegung des Brüsseler Übereinkommens den Grundsätzen gebührend Rechnung trägt, die sich aus der Rechtsprechung zum Luganer Übereinkommen ergeben“.

10      Parallel dazu verpflichtet Art. 1 des Protokolls Nr. 2 über die einheitliche Auslegung des Luganer Übereinkommens die Vertragsstaaten, „den Grundsätzen gebührend Rechnung [zu tragen], die in maßgeblichen Entscheidungen von Gerichten der anderen Vertragsstaaten … entwickelt worden sind“.

 Ausgangsverfahren und Vorlagefrage

11      Aus dem Vorabentscheidungsersuchen und den beim Gerichtshof eingereichten Erklärungen geht hervor, dass der High Court of Justice (England & Wales), Chancery Division, am 26. Februar 1997 im Rahmen einer Schadensersatzklage von DaimlerChrysler und CIBC gegen Herrn Gambazzi auf Antrag von DaimlerChrysler und CIBC einen Beschluss erließ, der zum einen Herrn Gambazzi vorläufig die Verfügung über bestimmte Gegenstände seines Vermögens untersagte (freezing order) und ihm zum anderen aufgab, Informationen zu bestimmten Gegenständen seines Vermögens offenzulegen und in seinem Besitz befindliche Unterlagen, die die Hauptsache betrafen, vorzulegen (disclosure order). Dieser Beschluss wurde Herrn Gambazzi am 11. März 1997 durch die Schweizer Behörden zugestellt; Herr Gambazzi hat sich auf das Verfahren beim High Court eingelassen.

12      Herr Gambazzi kam der „disclosure order“ nicht oder zumindest nicht vollständig nach. Der High Court erließ daraufhin auf Antrag von DaimlerChrysler und CIBC am 10. Juli 1998 einen Beschluss, mit dem Herrn Gambazzi untersagt wurde, sich weiter am Verfahren zu beteiligen, wenn er nicht innerhalb der gesetzten Frist den Verpflichtungen zur Offenlegung der Informationen und zur Vorlage der verlangten Unterlagen nachkomme (unless order).

13      Herr Gambazzi legte gegen die „freezing order“, die „disclosure order“ und die „unless order“ verschiedene Rechtsbehelfe ein. Alle diese Rechtsbehelfe wurden zurückgewiesen.

14      Am 13. Oktober 1998 erließ der High Court eine neue „unless order“.

15      Da Herr Gambazzi innerhalb der gesetzten Frist den in dem letztgenannten Beschluss festgelegten Verpflichtungen nicht vollständig nachkam, wurde er eines „contempt of court“ für schuldig befunden und vom Verfahren ausgeschlossen (debarment).

16      Mit Urteil vom 10. Dezember 1998, ergänzt durch einen Beschluss vom 17. März 1999 (im Folgenden: Entscheidungen des High Court), behandelte der High Court Herrn Gambazzi wie einen säumigen Beklagten, gab den Anträgen von DaimlerChrysler und CIBC statt und verurteilte Herrn Gambazzi, diesen als Schadensersatz 169 752 058 CAD und 71 595 530 CAD sowie weitere 129 974 770 USD zuzüglich Nebenkosten zu zahlen.

17      Auf Antrag von DaimlerChrysler und CIBC erklärte die Corte d’appello di Milano (Italien) mit Beschluss vom 17. Dezember 2004 die Entscheidungen des High Court für in Italien vollstreckbar.

18      Gegen den letztgenannten Beschluss legte Herr Gambazzi Rechtsmittel ein. Er machte geltend, dass die Entscheidungen des High Court in Italien nicht anerkannt werden dürften, da sie im Sinne von Art. 27 Nr. 1 des Brüsseler Übereinkommens der öffentlichen Ordnung widersprächen, weil sie unter Verletzung der Verteidigungsrechte und des Grundsatzes des kontradiktorischen Verfahrens ergangen seien.

19      Daher hat die Corte d’appello di Milano, die mit diesem Rechtsmittel befasst ist, das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt:

Darf der Richter des Staates, von dem die Vollstreckbarerklärung begehrt wird, auf der Grundlage der Ordre‑public‑Klausel des Art. 27 Nr. 1 des Brüsseler Übereinkommens die Tatsache berücksichtigen, dass es der Richter des Staates, der die Entscheidung erlassen hat, der unterlegenen Partei, die sich am gerichtlichen Verfahren beteiligt hat, unter den oben wiedergegebenen Umständen verwehrt hat, nach dem Erlass eines Beschlusses über die Ausschließung (debarment) jegliche Verteidigung vorzubringen, oder hindert die Auslegung dieser Bestimmung in Verbindung mit den Grundsätzen, die den Art. 26 ff. des Übereinkommens hinsichtlich der gegenseitigen Anerkennung und Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen im Bereich der Gemeinschaft zu entnehmen sind, den nationalen Richter daran, die öffentliche Ordnung im Sinne von Art. 27 Nr. 1 als dadurch verletzt anzusehen, dass ein Zivilverfahren durchgeführt worden ist, in dem einer Partei durch einen Ausschließungsbeschluss des Richters, der wegen der Nichtbeachtung einer von diesem erlassenen Anordnung erlassen wurde, die Ausübung des Rechts auf Verteidigung verwehrt wurde?

 Zur Vorlagefrage

20      Mit dieser Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob das Gericht des ersuchten Staates im Hinblick auf die Ordre‑public‑Klausel in Art. 27 Nr. 1 des Brüsseler Übereinkommens den Umstand berücksichtigen darf, dass das Gericht des Urteilsstaats über die Anträge des Klägers ohne Anhörung des Beklagten entschieden hat, der sich auf das Verfahren bei ihm ordnungsgemäß eingelassen hat, jedoch vom Verfahren durch einen Beschluss mit der Begründung ausgeschlossen worden ist, dass er die Verpflichtungen aus einem zuvor im Rahmen desselben Verfahrens ergangenen Beschluss nicht erfüllt habe.

 Zur rechtlichen Qualifizierung der Entscheidungen des High Court im Hinblick auf Art. 25 des Brüsseler Übereinkommens

21      Vorab ist zu prüfen, ob es sich bei den Entscheidungen des High Court um Entscheidungen im Sinne von Art. 25 des Brüsseler Übereinkommens handelt oder ob sie, wie Herr Gambazzi geltend macht, dieser Begriffsbestimmung nicht entsprechen, da sie nicht unter Berücksichtigung der Grundsätze des kontradiktorischen Verfahrens und des Rechts auf ein faires Verfahren erlassen worden seien.

22      In diesem Zusammenhang ist daran zu erinnern, dass Art. 25 des Brüsseler Übereinkommens unterschiedslos für alle von einem Gericht eines Vertragsstaats erlassenen Entscheidungen gilt.

23      Zwar hat der Gerichtshof entschieden, dass die Bestimmungen des Brüsseler Übereinkommens, und zwar sowohl die des Titels II (Zuständigkeit) als auch die des Titels III (Anerkennung und Vollstreckung), insgesamt das Bestreben zum Ausdruck bringen, sicherzustellen, dass im Rahmen der Ziele des Übereinkommens die Verfahren, die zum Erlass gerichtlicher Entscheidungen führen, unter Wahrung des rechtlichen Gehörs durchgeführt werden. Er hat jedoch ausgeführt, dass es dafür, dass solche Entscheidungen in den Anwendungsbereich des Brüsseler Übereinkommens fallen, genügt, dass es sich um solche gerichtlichen Entscheidungen handelt, denen, bevor in einem anderen Staat ihre Anerkennung und Vollstreckung beantragt wurde, im Urteilsstaat nach unterschiedlichen Modalitäten ein kontradiktorisches Verfahren vorangegangen ist oder hätte vorangehen können (Urteil vom 21. Mai 1980, Denilauler, 125/79, Slg. 1980, 1553, Randnr. 13).

24      So fallen beispielsweise Versäumnisurteile in den Anwendungsbereich des Brüsseler Übereinkommens, wie sich aus dessen Art. 27 Nr. 2 ergibt, der ausdrücklich den Fall des Beklagten erwähnt, der sich auf das Verfahren nicht eingelassen hat.

25      Wie die Generalanwältin in Nr. 24 ihrer Schlussanträge ausgeführt hat, ergingen die Entscheidungen des High Court in Form eines Versäumnisurteils und eines Versäumnisbeschlusses in einem grundsätzlich kontradiktorisch ausgestalteten Zivilverfahren. Dass das Gericht den Beklagten, der sich auf das Verfahren ordnungsgemäß eingelassen hatte, als säumig behandelt hat, kann nicht genügen, um die Qualifizierung der ergangenen Entscheidungen in Frage zu stellen. Dieser Umstand kann erst im Hinblick auf die Vereinbarkeit dieser Entscheidungen mit der öffentlichen Ordnung des ersuchten Staates berücksichtigt werden.

 Zur Berücksichtigung des Ausschlusses des Beklagten vom Verfahren im Hinblick auf Art. 27 Nr. 1 des Brüsseler Übereinkommens

26      Der Gerichtshof hat in seinem Urteil vom 28. März 2000, Krombach (C‑7/98, Slg. 2000, I‑1935, Randnr. 23), entschieden, dass der Gerichtshof, auch wenn es nicht seine Sache ist, den Inhalt der öffentlichen Ordnung eines Vertragsstaats zu definieren, doch über die Grenzen zu wachen hat, innerhalb deren sich das Gericht eines Vertragsstaats auf diesen Begriff stützen darf, um der Entscheidung eines Gerichts eines anderen Vertragsstaats die Anerkennung zu versagen.

27      Wie der Gerichtshof hierzu klargestellt hat, kommt eine Anwendung der Ordre‑public‑Klausel nur dann in Betracht, wenn die Anerkennung oder Vollstreckung der in einem anderen Vertragsstaat erlassenen Entscheidung gegen einen wesentlichen Rechtsgrundsatz verstieße und deshalb in einem nicht hinnehmbaren Gegensatz zur Rechtsordnung des Vollstreckungsstaats stünde. Es muss sich bei diesem Verstoß um eine offensichtliche Verletzung einer in der Rechtsordnung des Vollstreckungsstaats als wesentlich geltenden Rechtsnorm oder eines dort als grundlegend anerkannten Rechts handeln (Urteil Krombach, Randnr. 37).

28      In Bezug auf die Ausübung der Verteidigungsrechte, auf die sich die Vorlagefrage bezieht, hat der Gerichtshof daran erinnert, dass sie für die Gestaltung und Durchführung eines fairen Prozesses von herausragender Bedeutung ist und zu den Grundrechten gehört, die sich aus den gemeinsamen Verfassungstraditionen der Mitgliedstaaten und den internationalen Übereinkünften zum Schutz der Menschenrechte ergeben, bei denen die Mitgliedstaaten mitgewirkt haben oder denen sie beigetreten sind, unter denen der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten, unterzeichnet in Rom am 4. November 1950, besondere Bedeutung zukommt (vgl. in diesem Sinne Urteil Krombach, Randnrn. 38 und 39).

29      Zwar sind die Grundrechte, wie die Wahrung der Verteidigungsrechte, keine absoluten Rechte, sondern können Beschränkungen unterliegen. Doch müssen diese tatsächlich Zielen des Allgemeininteresses entsprechen, die mit der in Rede stehenden Maßnahme verfolgt werden, und dürfen nicht im Hinblick auf den verfolgten Zweck eine offensichtliche und unverhältnismäßige Beeinträchtigung der auf diese Weise gewährleisteten Rechte darstellen.

30      Die Regierung des Vereinigten Königreichs hat erklärt, dass die Rechtsfiguren der „freezing order“, der „disclosure order“ und der „unless order“ den gerechten und wirksamen Charakter der Rechtspflege gewährleisten sollten.

31      Es ist einzuräumen, dass ein solches Ziel eine Beschränkung der Verteidigungsrechte rechtfertigen kann. Wie die italienische und die griechische Regierung ausführen, sehen die Rechtsordnungen der meisten Mitgliedstaaten Sanktionen gegen Personen vor, die im Rahmen eines Zivilprozesses Prozessverschleppung betreiben, die im Ergebnis auf eine Rechtsverweigerung hinausliefe.

32      Solche Sanktionen dürfen jedoch nicht offensichtlich außer Verhältnis zu dem verfolgten Ziel stehen, das darin besteht, einen wirksamen Verfahrensablauf im Hinblick auf eine ordnungsgemäße Rechtspflege zu gewährleisten.

33      Bei der im Ausgangsverfahren verhängten Sanktion, nämlich dem Ausschluss von Herrn Gambazzi von jeder Teilnahme am Verfahren, handelt es sich, wie die Generalanwältin in Nr. 67 ihrer Schlussanträge ausführt, um die denkbar schwerste Einschränkung der Verteidigungsrechte. Daher kann eine solche Beschränkung nur dann nicht als offensichtliche und unverhältnismäßige Beeinträchtigung dieser Rechte angesehen werden, wenn sie sehr hohen Anforderungen genügt.

34      Es obliegt dem vorlegenden Gericht, in Ansehung der konkreten Umstände des vorliegenden Falles zu beurteilen, ob dies gegeben ist.

35      In diesem Zusammenhang führen die Parteien des Ausgangsverfahrens ein Urteil des Schweizerischen Bundesgerichts vom 9. November 2004 (Rechtssache 4P082/2004) an. Mit diesem Urteil hat das genannte Gericht das Rechtsmittel von CIBC und DaimlerChrysler gegen eine Entscheidung des Tribunale d’appello del cantone Ticino (Berufungsgericht des Kantons Tessin, Schweiz) abgewiesen, mit der die Anerkennung und Vollstreckung der Entscheidungen des High Court gegen Herrn Gambazzi in der Schweiz wegen Verstoßes gegen Art. 27 Nr. 1 des Luganer Übereinkommens abgelehnt worden war. Das Bundesgericht hat entschieden, dass der Ausschluss des Herrn Gambazzi vom Verfahren vor dem High Court zwar nicht gegen die öffentliche Ordnung in der Schweiz verstoßen habe, aber doch andere Umstände, die das vorlegende Gericht im vorliegenden Verfahren nicht erwähnt hat, die Anwendung der Ordre‑public‑Klausel rechtfertigten.

36      Nach der Erklärung der Vertreter der Regierungen der Unterzeichnerstaaten des Luganer Übereinkommens, die Mitglieder der Europäischen Gemeinschaften sind, ist es angezeigt, dass der Gerichtshof den Grundsätzen gebührend Rechnung trägt, die sich aus diesem Urteil des Bundesgerichts ergeben, und gemäß Art. 1 des Protokolls Nr. 2 über die einheitliche Auslegung dieses Übereinkommens hat das vorlegende Gericht diesen Grundsätzen gebührend Rechnung zu tragen.

37      Hierzu ist festzustellen, dass sich das Bundesgericht für die Konkretisierung der Ordre‑public‑Klausel auf den Anspruch auf ein faires Verfahren und den Anspruch auf rechtliches Gehör bezieht. Auf diese Grundsätze hat der Gerichtshof selbst in seinem Urteil Krombach Bezug genommen und in den Randnrn. 27 und 28 des vorliegenden Urteils hingewiesen.

38      Was die im Urteil des Bundesgerichts vorgenommene konkrete Beurteilung des Widerspruchs zur schweizerischen öffentlichen Ordnung im vorliegenden Fall angeht, so kann sie das vorlegende Gericht nicht förmlich binden. Dies gilt umso mehr, als im vorliegenden Fall das letztgenannte Gericht seine Beurteilung anhand der italienischen öffentlichen Ordnung vornehmen muss.

39      Der Gerichtshof hat jedoch zur Erfüllung seiner Auslegungsaufgabe, wie sie in Randnr. 26 dieses Urteils dargelegt worden ist, die von ihm aufgestellten Grundsätze näher darzulegen, indem er angibt, an welchen allgemeinen Kriterien das vorlegende Gericht seine Beurteilung auszurichten hat.

40      Die Frage der Vereinbarkeit der vom Gericht des Urteilsstaats erlassenen Ausschlussmaßnahme mit der öffentlichen Ordnung des ersuchten Staates ist im Hinblick auf das Verfahren als Ganzes und anhand sämtlicher Umstände zu beurteilen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 2. Mai 2006, Eurofood IFSC, C‑341/04, Slg. 2006, I‑3813, Randnr. 68).

41      Dies bedeutet im vorliegenden Fall, dass nicht nur die Voraussetzungen zu berücksichtigen sind, unter denen im Verfahren vor dem High Court dessen Entscheidungen erlassen worden sind, deren Vollstreckung beantragt wird, sondern auch die Voraussetzungen, unter denen in einer früheren Phase die „disclosure order“ und die „unless order“ erlassen wurden.

42      Was zunächst die „disclosure order“ angeht, so ist es Sache des vorlegenden Gerichts, zu ermitteln, ob und inwieweit Herr Gambazzi die Möglichkeit hatte, vor ihrem Erlass zu ihrem Gegenstand und ihrer Tragweite gehört zu werden. Es ist ferner seine Sache, zu untersuchen, über welche Rechtsbehelfe Herr Gambazzi nach dem Erlass dieser „disclosure order“ verfügte, um deren Änderung oder Rücknahme zu beantragen. In diesem Zusammenhang muss festgestellt werden, ob der Betroffene die Möglichkeit hatte, alle tatsächlichen und rechtlichen Umstände geltend zu machen, die seines Erachtens geeignet waren, seinen Antrag zu stützen, und ob diese Punkte Gegenstand einer Sachprüfung unter vollständiger Beachtung des Grundsatzes des kontradiktorischen Verfahrens waren oder ob es vielmehr für ihn lediglich zulässig war, beschränkte Fragen aufzuwerfen.

43      Was die Nichtbefolgung der „disclosure order“ durch Herrn Gambazzi angeht, so ist es Sache des vorlegenden Gerichts, zu prüfen, ob die von Herrn Gambazzi vorgetragenen Gründe, insbesondere der Umstand, dass er durch die Offenbarung der verlangten Informationen das Berufsgeheimnis verletzt hätte, das er als Rechtsanwalt zu wahren hat, und dass er damit eine strafbare Handlung begangen hätte, im Rahmen eines kontradiktorischen gerichtlichen Verfahrens geltend gemacht werden konnten.

44      Was sodann den Erlass der „unless order“ angeht, so muss das vorlegende Gericht ermitteln, ob Herr Gambazzi über Verfahrensgarantien verfügte, die ihm eine wirksame Möglichkeit zur Anfechtung der erlassenen Maßnahme gewährleisteten.

45      Was schließlich die Entscheidungen des High Court angeht, mit denen dieser über die Anträge der Klägerinnen entschieden hat, als ob der Beklagte säumig gewesen wäre, so ist es Sache des vorlegenden Gerichts, zu prüfen, ob die Begründetheit dieser Anträge in diesem oder einem früheren Verfahrensstadium Gegenstand einer Prüfung waren und ob Herr Gambazzi in diesem oder einem früheren Verfahrensstadium die Möglichkeit hatte, hierzu Stellung zu nehmen, und ob er über einen Rechtsbehelf verfügte.

46      Da mit diesen Prüfungen nur festgestellt werden soll, ob eine offensichtliche und unverhältnismäßige Beeinträchtigung des Anspruchs auf rechtliches Gehör vorliegt, können sie keine Kontrolle der Beurteilungen des High Court zur Begründetheit umfassen, da eine solche Kontrolle eine Nachprüfung in der Sache darstellen würde, die nach den Art. 29 und 34 Abs. 3 des Brüsseler Übereinkommens ausdrücklich untersagt ist. Das vorlegende Gericht muss sich im Rahmen seiner Prüfungen darauf beschränken, zu ermitteln, welche Rechtsbehelfe Herrn Gambazzi zur Verfügung standen, und prüfen, ob dieser in deren Rahmen über die Möglichkeit verfügte, unter Wahrung des kontradiktorischen Verfahrens und vollständiger Ausübung seiner Verteidigungsrechte seine Anhörung zu erreichen.

47      Am Schluss aller dieser Prüfungen wird das vorlegende Gericht eine Abwägung dieser verschiedenen Umstände vornehmen müssen, um beurteilen zu können, ob sich der Ausschluss von Herrn Gambazzi im Hinblick auf das vom High Court verfolgte Ziel einer wirksamen Rechtspflege als offensichtliche und unverhältnismäßige Beeinträchtigung seines Anspruchs auf rechtliches Gehör darstellt.

48      Daher ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass Art. 27 Nr. 1 des Brüsseler Übereinkommens dahin auszulegen ist, dass das Gericht des ersuchten Staates den Umstand, dass das Gericht des Urteilsstaats über die Anträge des Klägers ohne Anhörung des Beklagten entschieden hat, der sich auf das Verfahren bei ihm ordnungsgemäß eingelassen hat, jedoch durch einen Beschluss mit der Begründung vom Verfahren ausgeschlossen worden ist, dass er Verpflichtungen aus einem zuvor im Rahmen desselben Verfahrens ergangenen Beschluss nicht erfüllt habe, im Hinblick auf die Ordre‑public‑Klausel der genannten Vorschrift berücksichtigen darf, wenn es beim Abschluss einer Gesamtwürdigung des Verfahrens und in Anbetracht sämtlicher Umstände zu dem Ergebnis gelangt, dass diese Ausschlussmaßnahme eine offensichtliche und unverhältnismäßige Beeinträchtigung des Anspruchs des Beklagten auf rechtliches Gehör dargestellt hat.

 Kosten

49      Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Erste Kammer) für Recht erkannt:

Art. 27 Nr. 1 des Übereinkommens vom 27. September 1968 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen in der durch das Übereinkommen vom 9. Oktober 1978 über den Beitritt des Königreichs Dänemark, Irlands und des Vereinigten Königreichs Großbritannien und Nordirland, das Übereinkommen vom 25. Oktober 1982 über den Beitritt der Republik Griechenland, das Übereinkommen vom 26. Mai 1989 über den Beitritt des Königreichs Spanien und der Portugiesischen Republik sowie das Übereinkommen vom 29. November 1996 über den Beitritt der Republik Österreich, der Republik Finnland und des Königreichs Schweden geänderten Fassung ist wie folgt auszulegen:

Das Gericht des ersuchten Staates darf den Umstand, dass das Gericht des Urteilsstaats über die Anträge des Klägers ohne Anhörung des Beklagten entschieden hat, der sich auf das Verfahren bei ihm ordnungsgemäß eingelassen hat, jedoch durch einen Beschluss mit der Begründung vom Verfahren ausgeschlossen worden ist, dass er Verpflichtungen aus einem zuvor im Rahmen desselben Verfahrens ergangenen Beschluss nicht erfüllt habe, im Hinblick auf die Ordre‑public‑Klausel des Art. 27 Nr. 1 berücksichtigen, wenn es beim Abschluss einer Gesamtwürdigung des Verfahrens und in Anbetracht sämtlicher Umstände zu dem Ergebnis gelangt, dass diese Ausschlussmaßnahme eine offensichtliche und unverhältnismäßige Beeinträchtigung des Anspruchs des Beklagten auf rechtliches Gehör dargestellt hat.

Unterschriften


* Verfahrenssprache: Italienisch.