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Leitsätze

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1. Wettbewerb – Verwaltungsverfahren – Entscheidung der Kommission, mit der eine Zuwiderhandlung festgestellt wird – Beweislast der Kommission für die Zuwiderhandlung und ihre Dauer – Umfang der Beweislast

(Art. 81 Abs. 1 EG)

2. Wettbewerb – Geldbußen – Höhe – Festsetzung – Kriterien – Unternehmen, das im Laufe der Zuwiderhandlung mehrfach veräußert wird – Zeitliche Aufeinanderfolge von mehreren Muttergesellschaften

(Verordnung Nr. 1/2003 des Rates; Mitteilung 98/C 9/03 der Kommission)

3. Wettbewerb – Geldbußen – Höhe – Festsetzung – Kriterien – Schwere der Zuwiderhandlung – Beurteilung – Berücksichtigung der tatsächlichen wirtschaftlichen Lage zur Zeit der Begehung der Zuwiderhandlung

(Verordnung Nr. 1/2003 des Rates, Art. 23 Abs. 3; Mitteilung 98/C 9/03 der Kommission)

4. Wettbewerb – Geldbußen – Höhe – Festsetzung – Kriterien – Schwere der Zuwiderhandlung – Mildernde Umstände – Passive Mitwirkung oder Mitläufertum des Unternehmens – Beurteilungskriterien

(Verordnung Nr. 1/2003 des Rates, Art. 23; Mitteilung 98/C 9/03 der Kommission, Randnr. 3, erster Gedankenstrich)

5. Wettbewerb – Geldbußen – Höhe – Festsetzung – Kriterien – Ermessen der Kommission – Pflicht, sicherzustellen, dass der Betrag der Geldbußen im Verhältnis zum Gesamtvolumen des Markts des betreffenden Erzeugnisses steht – Fehlen

(Verordnung Nr. 1/2003 des Rates, Art. 23 Abs. 3)

6. Wettbewerb – Geldbußen – Höhe – Festsetzung – Höchstbetrag – Berechnung – Zu berücksichtigender Umsatz – Geldbuße, die den mit dem betreffenden Produkt erzielten Jahresumsatz übersteigt – Verletzung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit – Fehlen

(Verordnung Nr. 1/2003 des Rates, Art. 23 Abs. 2)

7. Wettbewerb – Geldbußen – Gesamtschuldnerische Haftung für die Zahlung – Festsetzung der Höhe der von dem gesamtschuldnerisch haftenden Unternehmen zu zahlenden Geldbuße – Unternehmen, das im Laufe der Zuwiderhandlung mehrfach veräußert wird – Zeitliche Aufeinanderfolge von mehreren Muttergesellschaften

(Verordnung Nr. 1/2003 des Rates; Mitteilung 98/C 9/03 der Kommission)

Leitsätze

1. Die Kommission hat nicht nur das Bestehen eines Kartells, sondern auch dessen Dauer zu beweisen. Soweit es an Beweismaterialien fehlt, mit denen die Dauer der Zuwiderhandlung direkt belegt werden kann, muss die Kommission zumindest Beweismaterialien beibringen, die sich auf Fakten beziehen, die zeitlich so nahe beieinander liegen, dass sie vernünftigerweise den Schluss zulassen, dass die Zuwiderhandlung zwischen zwei konkreten Zeitpunkten ohne Unterbrechung erfolgt ist.

In einem Fall, in dem feststeht, dass ein Unternehmen sowohl vor als auch nach einem bestimmten Zeitraum an einer Zuwiderhandlung mitgewirkt hat, indem es an einer Reihe wettbewerbswidriger Sitzungen teilgenommen hat, ohne sich offen von deren Inhalt zu distanzieren, kann angenommen werden, dass die Zuwiderhandlung ohne Unterbrechung erfolgte, wenn das Unternehmen zu den in diesem Zeitraum stattfindenden wettbewerbswidrigen Sitzungen eingeladen wurde und sein Fehlen mehrmals entschuldigte.

(vgl. Randnrn. 41-42, 46-48)

2. Im Rahmen der Berechnung des Betrags der wegen Verletzung der Wettbewerbsregeln verhängten Geldbußen kann der Ansatz der Kommission, für eine Muttergesellschaft denselben Ausgangsbetrag anzusetzen wie für die unmittelbar am Kartell beteiligte Tochtergesellschaft, ohne diesen Betrag bei einer zeitlichen Aufeinanderfolge von mehreren Muttergesellschaften aufzuteilen, für sich genommen nicht als ungeeignet angesehen werden. Die Kommission will mit dieser Berechnungsmethode nämlich erreichen, dass für eine Muttergesellschaft, die im Wege der Zurechnung für eine Zuwiderhandlung verantwortlich gemacht wird, derselbe Ausgangsbetrag angesetzt werden kann, als wäre sie selbst unmittelbar am Kartell beteiligt gewesen. Dies steht aber in Einklang mit dem Ziel der Wettbewerbspolitik, und insbesondere mit dem Instrument dieser Politik, das die Geldbußen darstellen, nämlich, das Verhalten der Unternehmen auf die Einhaltung der Wettbewerbsregeln auszurichten.

Allein daraus, dass die für die aufeinander folgenden Muttergesellschaften festgesetzten Beträge insgesamt den für ihre Tochtergesellschaft festgesetzten Betrag übersteigen, lässt sich nicht schließen, dass diese Berechnungsmethode offensichtlich falsch ist. Denn im Hinblick auf die Anwendung des in den Leitlinien für das Verfahren zur Festsetzung von Geldbußen, die gemäß Art. 15 Abs. 2 der Verordnung Nr. 17 und gemäß Art. 65 § 5 EGKS-Vertrag festgesetzt werden, festgelegten Verfahrens und den Grundsatz der individuellen Zumessung von Strafen und Sanktionen auf die Umstände des Einzelfalls darf die Kommission, wenn erwiesen ist, dass eine wirtschaftliche Einheit an der Zuwiderhandlung mitgewirkt hat, eine der juristischen Personen, die zu dieser Einheit gehört oder gehört hat, sei es die Mutter- oder eine Tochtergesellschaft, für einen höheren Betrag haften lassen als die andere juristische Person oder die anderen juristischen Personen, die diese wirtschaftliche Einheit bilden oder gebildet haben. Somit kann im Fall einer Zuwiderhandlung, die von einer Tochtergesellschaft begangen worden ist, die während der Zuwiderhandlung nacheinander mehreren wirtschaftlichen Einheiten gehört hat, nicht von vornherein angenommen werden, dass es unangemessen wäre, dass die für die Muttergesellschaften festgesetzten Beträge insgesamt höher ausfallen als der Betrag oder die Beträge, die für diese Tochtergesellschaft insgesamt festgesetzt worden sind.

(vgl. Randnrn. 74, 76)

3. Im Rahmen der Berechnung des Betrags der wegen Verletzung der Wettbewerbsregeln verhängten Geldbußen muss sich die Beurteilung der Schwere der Zuwiderhandlung auf die tatsächliche wirtschaftliche Lage zur Zeit ihrer Begehung beziehen. Die insoweit relevanten Gesichtspunkte sind insbesondere die Größe und die Wirtschaftskraft jedes Unternehmens sowie das Ausmaß der von jedem von ihnen begangenen Zuwiderhandlung. Bei der Beurteilung dieser Gesichtspunkte ist zwangsläufig der während der in Rede stehenden Zeit erzielte Umsatz heranzuziehen.

Das Referenzjahr muss nicht stets das letzte volle Jahr sein, in dem die Zuwiderhandlung angedauert hat.

Wenn die Kommission im Rahmen der Berechnung der Geldbußen einem individualistischen Ansatz folgt, um die nur als Muttergesellschaften haftenden Adressaten der Entscheidung als unmittelbare Teilnehmer an der Zuwiderhandlung zu behandeln, kann das Referenzjahr nicht ohne Weiteres ein Jahr sein, in dessen Verlauf die durch die Muttergesellschaft und die Tochtergesellschaft gebildete wirtschaftliche Einheit noch nicht bestand.

(vgl. Randnrn. 91, 93, 95)

4. Nach Nr. 3 erster Gedankenstrich der Leitlinien für das Verfahren zur Festsetzung von Geldbußen, die gemäß Art. 15 Abs. 2 der Verordnung Nr. 17 und gemäß Art. 65 § 5 EGKS-Vertrag festgesetzt werden, stellt die „ausschließlich passive Mitwirkung oder reines Mitläufertum“ eines Unternehmens bei der Zuwiderhandlung – sofern erwiesen – einen mildernden Umstand dar. Eine passive Rolle impliziert, dass sich das betroffene Unternehmen nicht hervorgetan hat, d. h. nicht aktiv an der Ausarbeitung der wettbewerbswidrige(n) Absprache(n) teilgenommen hat.

Als Anhaltspunkt für die passive Rolle eines Unternehmens innerhalb eines Kartells kann berücksichtigt werden, dass es im Vergleich zu den gewöhnlichen Mitgliedern des Kartells deutlich seltener an den Besprechungen teilgenommen hat, dass es spät in den Markt, auf dem die Zuwiderhandlung stattgefunden hat, eingetreten ist, unabhängig davon, wie lange es an der Zuwiderhandlung mitgewirkt hat, oder dass es entsprechende ausdrückliche Aussagen von Vertretern dritter an der Zuwiderhandlung beteiligter Unternehmen gibt.

Zudem bedeutet die Tatsache, dass andere Unternehmen, die an ein und demselben Kartell beteiligt gewesen sind, aktiver gewesen sein mögen als ein bestimmter Teilnehmer, noch nicht, dass dieser ausschließlich passiv mitwirkte oder reiner Mitläufer war. Denn nur seine völlige Passivität könnte berücksichtigt werden und müsste von der Partei, die sich darauf beruft, bewiesen werden.

(vgl. Randnrn. 106-108)

5. Bei der Festlegung der Höhe einer wegen Verletzung der Wettbewerbsregeln verhängten Geldbuße verfügt die Kommission über ein Ermessen und ist nicht verpflichtet, hierbei eine exakte mathematische Formel anzuwenden. Gemäß Art. 23 Abs. 3 der Verordnung Nr. 1/2003 zur Durchführung der in den Art. 81 und 82 des Vertrags niedergelegten Wettbewerbsregeln richtet sich die Höhe der Geldbuße nach der Schwere der Zuwiderhandlung und deren Dauer. Ferner ist dieser Betrag das Ergebnis einer Reihe von zahlenmäßigen Bewertungen, die die Kommission entsprechend den Leitlinien für das Verfahren zur Festsetzung von Geldbußen, die gemäß Art. 15 Abs. 2 der Verordnung Nr. 17 und gemäß Art. 65 § 5 EGKS-Vertrag festgesetzt werden, vornimmt. Für die Festlegung dieses Betrags sind u. a. verschiedene Umstände maßgeblich, die mit dem individuellen Verhalten des fraglichen Unternehmens zusammenhängen, etwa dem Vorliegen von erschwerenden oder mildernden Umständen.

Aus diesem rechtlichen Rahmen lässt sich nicht ableiten, dass die Kommission sicherstellen müsste, dass der Gesamtbetrag der solchermaßen errechneten und gegen die Kartellteilnehmer verhängten Geldbußen im Verhältnis zum Marktvolumen des betreffenden Erzeugnisses in einem bestimmten Jahr der Zuwiderhandlung steht, wenn die Zuwiderhandlung mehr als 20 Jahre angedauert hat und die Höhe der Geldbußen auch von anderen Umständen abhängt, die mit dem individuellen Verhalten der betroffenen Unternehmen zusammenhängen.

(vgl. Randnrn. 141-142)

6. Art. 23 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1/2003 zur Durchführung der in den Artikeln 81 und 82 des Vertrags niedergelegten Wettbewerbsregeln soll verhindern, dass Geldbußen unverhältnismäßig sind. In einem Fall, in dem die endgültige Geldbuße die Umsatz-Obergrenze von 10 % nicht übersteigt, kann sie nicht deswegen als unverhältnismäßig angesehen werden, weil die Geldbußen insgesamt das Gesamtvolumen des relevanten Markts oder die Geldbuße den mit dem betreffenden Produkt erzielten Jahresumsatz eines Unternehmens übersteigen. Die Umsatz-Obergrenze von 10 % ist anzuwenden, ohne dass die besondere Rolle eines Unternehmens in dem Kartell berücksichtigt werden müsste.

Was den Vergleich zwischen den Unternehmen angeht, die Adressaten einer Bußgeldentscheidung sind, kann eine unterschiedliche Behandlung die unmittelbare Folge der in der Verordnung Nr. 1/2003 festgelegten Obergrenze für Geldbußen sein, die offensichtlich nur für die Fälle gilt, in denen die vorgesehene Geldbuße 10 % des Umsatzes des betroffenen Unternehmens überschreiten würde. Eine solche unterschiedliche Behandlung kann keine Verletzung des Grundsatzes der Gleichbehandlung darstellen.

(vgl. Randnrn. 144, 147)

7. Bei dem Grundsatz der Rechtssicherheit handelt es sich um einen allgemeinen Grundsatz des Unionsrechts, der insbesondere verlangt, dass jede Maßnahme der Organe der Union, insbesondere wenn sie Sanktionen verhängt oder die Verhängung gestattet, klar und bestimmt ist, damit die Betroffenen ihre Rechte und Pflichten unzweideutig erkennen und somit ihre Vorkehrungen treffen können.

Wenn eine Muttergesellschaft und eine Tochtergesellschaft eine wirtschaftliche Einheit bilden oder gebildet haben, die an einem Kartell beteiligt gewesen ist, kann die Kommission diese Gesellschaften als Gesamtschuldner für die Zuwiderhandlung gegen die Wettbewerbsregeln verantwortlich machen.

In dem Fall einer Tochtergesellschaft, die nacheinander verschiedenen Muttergesellschaften gehört hat, steht nichts dem entgegen, dass die Kommission die verschiedenen Muttergesellschaften als Gesamtschuldner für die Zahlung der gegen ihre Tochtergesellschaft festgesetzten Geldbuße verantwortlich macht. Dagegen hängt bei einer Entscheidung, die der Kommission bei der Beitreibung der Geldbuße bei der einen oder anderen der betreffenden juristischen Personen alle Freiheiten lässt, und in Anwendung derer die Kommission folglich die Geldbuße nach ihrer Wahl ganz oder zu einem Teil bei der Tochtergesellschaft oder bei einer oder allen Muttergesellschaften beitreiben kann, die die Tochtergesellschaft nacheinander kontrolliert haben, bis sie vollständig befriedigt ist, der tatsächlich bei der einen der Muttergesellschaften beigetriebene Betrag von den bei den anderen beigetriebenen Beträgen ab, ohne dass dies in irgendeiner Weise mit dem abschreckenden Charakter der Geldbußen gerechtfertigt werden könnte. Da aber diese aufeinander folgenden Muttergesellschaften zu keinem Zeitpunkt zusammen eine wirtschaftliche Einheit gebildet haben, haften sie in keiner Weise untereinander gesamtschuldnerisch. Nach dem Grundsatz der individuellen Zumessung von Strafen und Sanktionen darf der tatsächlich von einer der Muttergesellschaften gezahlte Betrag deren Anteil an der gesamtschuldnerischen Haftung nicht übersteigen. Eine Entscheidung, in der der auf die Muttergesellschaften entfallende Anteil nicht angegeben wird und die der Kommission bei der Umsetzung der jeweiligen gesamtschuldnerischen Haftung der einzelnen aufeinander folgenden Muttergesellschaften, die zu keinem Zeitpunkt zusammen eine wirtschaftliche Einheit gebildet haben, eine umfassende Freiheit einräumt, ist mit der aus dem Grundsatz der Rechtssicherheit folgenden Verpflichtung der Kommission nicht vereinbar, es diesen Gesellschaften zu ermöglichen, unzweideutig zu erkennen, welchen genauen Betrag sie für den Zeitraum, für den sie zusammen mit der Tochtergesellschaft gesamtschuldnerisch für die Zuwiderhandlung verantwortlich sind, zu zahlen haben. Eine solche Entscheidung verstößt sowohl gegen den Grundsatz der Rechtssicherheit als auch gegen den Grundsatz der individuellen Zumessung von Strafen und Sanktionen.

(vgl. Randnrn. 161, 163-167, 169-170)