Schlußanträge des Generalanwalts

Schlußanträge des Generalanwalts

1. Mit dem vorliegenden Vorabentscheidungsersuchen bittet die französische Cour de cassation den Gerichtshof um Auslegung der Verordnung (EG) Nr. 44/2001 des Rates vom 22. Dezember 2000 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen(2), die auf das Brüsseler Übereinkommen(3) folgte und es ersetzte.

2. Das vorlegende Gericht möchte insbesondere wissen, ob der mit der Verordnung Nr. 44/2001 eingeführte Abschnitt 5 über Arbeitsverträge für diese eine abschließende und ausschließliche Zuständigkeitsregelung darstellt oder ob stattdessen die in dem Abschnitt über Arbeitsverträge genannten Zuständigkeitsregeln durch die in Art. 6 Nr. 1 des Abschnitts 2 der genannten Verordnung erwähnte besondere Zuständigkeitsregel ergänzt werden können.

I – Rechtlicher Rahmen und Sachverhalt

A – Rechtlicher Rahmen

3. Art. 2 Abs. 1 der Verordnung Nr. 44/2001 bestimmt:

„Vorbehaltlich der Vorschriften dieser Verordnung sind Personen, die ihren Wohnsitz im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats haben, ohne Rücksicht auf ihre Staatsangehörigkeit vor den Gerichten dieses Mitgliedstaats zu verklagen.“

4. Gemäß Art. 6 der Verordnung Nr. 44/2001, der in deren Abschnitt 2 („Besondere Zuständigkeiten“) steht, kann eine Person, die ihren Wohnsitz im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats hat, in einem anderen Mitgliedstaat verklagt werden,

„…

1. wenn mehrere Personen zusammen verklagt werden, vor dem Gericht des Ortes, an dem einer der Beklagten seinen Wohnsitz hat, sofern zwischen den Klagen eine so enge Beziehung gegeben ist, dass eine gemeinsame Verhandlung und Entscheidung geboten erscheint, um zu vermeiden, dass in getrennten Verfahren widersprechende Entscheidungen ergehen könnten;

…“

5. Abschnitt 5 („Zuständigkeit für individuelle Arbeitsverträge“) der Verordnung Nr. 44/2001 besteht aus den Art. 18 bis 21.

6. Art. 18 Abs. 1 der Verordnung Nr. 44/2001 lautet:

„Bilden ein individueller Arbeitsvertrag oder Ansprüche aus einem individuellen Arbeitsvertrag den Gegenstand des Verfahrens, so bestimmt sich die Zuständigkeit unbeschadet des Artikels 4 und des Artikels 5 Nummer 5 nach diesem Abschnitt.“

7. Art. 19 der Verordnung gehört ebenfalls zu deren Abschnitt 5 und bestimmt:

„Ein Arbeitgeber, der seinen Wohnsitz im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats hat, kann verklagt werden:

1. vor den Gerichten des Mitgliedstaats, in dem er seinen Wohnsitz hat, oder

2. in einem anderen Mitgliedstaat

a) vor dem Gericht des Ortes, an dem der Arbeitnehmer gewöhnlich seine Arbeit verrichtet oder zuletzt gewöhnlich verrichtet hat, oder

b) wenn der Arbeitnehmer seine Arbeit gewöhnlich nicht in ein und demselben Staat verrichtet oder verrichtet hat, vor dem Gericht des Ortes, an dem sich die Niederlassung, die den Arbeitnehmer eingestellt hat, befindet bzw. befand.“

B – Sachverhalt

8. Herr Rouard, der Kassationsbeschwerdegegner, wurde 1977 von der Firma Laboratoires Beecham Sévigné eingestellt, die zur Firma Laboratoires Glaxosmithkline mit Gesellschaftssitz in Frankreich wurde. Er führte für Rechnung dieser Firma verschiedene Tätigkeiten in Drittländern aus. 1984 wurde er in Marokko gemäß einem neuen Arbeitsvertrag mit der Firma Beecham Research UK mit Sitz im Vereinigten Königreich eingesetzt, die zum selben Konzern wie die Firma Laboratoires Beecham Sévigné gehört. In diesem Vertrag verpflichtete sich der zweite Arbeitgeber, bestimmte vertragliche Rechte, die Herr Rouard im Rahmen seines ursprünglichen Arbeitsvertrags erworben hatte (insbesondere seine Ruhegehalts‑ und Abfindungsansprüche im Fall einer Kündigung), aufrechtzuerhalten.

9. Am 9. März 2001 wurde Herr Rouard von Beecham Research UK, die zu Glaxosmithkline geworden war, entlassen. Daraufhin erhob er am 4. Juni 2002 beim Conseil de prud’hommes de Saint-Germain-en-Laye (Frankreich) Klage sowohl gegen Laboratoires Glaxosmithkline als auch gegen Glaxosmithkline, die in die Rechte der Laboratoires Beecham Sévigné bzw. der Beecham Research UK eingetreten waren. Er begehrt, diese Gesellschaften wegen Nichteinhaltung des Kündigungsverfahrens, Fehlens eines wirklichen und ernsthaften Kündigungsgrundes und willkürlicher Kündigung als Gesamtschuldner zur Zahlung verschiedener Vergütungen und zu Schadensersatz zuzüglich Zinsen zu verurteilen.

10. Herr Rouard macht geltend, dass die beiden Gesellschaften als seine gemeinsamen Arbeitgeber anzusehen seien, weil die Klausel des zweiten Vertrags, der die Aufrechterhaltung bestimmter, ursprünglich im Rahmen des ersten Arbeitsvertrags erworbener vertraglicher Rechte vorsehe, bestätige, dass er ein einziges und ununterbrochenes Beschäftigungsverhältnis mit beiden Gesellschaften gehabt habe, die überdies zum selben Konzern gehörten. Da außerdem für die in Frankreich ansässige Laboratoires Glaxosmithkline die französischen Gerichte zuständig seien, seien sie gemäß Art. 6 Nr. 1 der Verordnung Nr. 44/2001 auch für Glaxosmithkline zuständig, obwohl deren Sitz im Vereinigten Königreich sei.

11. Der Conseil de prud’hommes erklärte sich jedoch entsprechend dem Verteidigungsvorbringen der beiden Arbeitgeber für unzuständig, da die Arbeitsverträge zum Zeitpunkt der Kündigung dem englischen und dem marokkanischen Recht unterlegen hätten. Folglich sei Herr Rouard seither gegenüber der französischen Gesellschaft Laboratoires Glaxosmithkline nicht mehr weisungsgebunden gewesen. Die Cour d’appel de Versailles hob diese Entscheidung auf und verwies die Sache an den Conseil de prud’hommes zurück. Die beklagten Gesellschaften legten dagegen Rechtsmittel bei der französischen Cour de cassation ein.

12. Unter diesen Umständen hat die Cour de cassation beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:

Gilt die in Art. 6 Nr. 1 der Verordnung Nr. 44/2001 enthaltene besondere Zuständigkeitsregel – nach der eine Person, die ihren Wohnsitz im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats hat, verklagt werden kann, „wenn mehrere Personen zusammen verklagt werden, vor dem Gericht des Ortes, an dem einer der Beklagten seinen Wohnsitz hat, sofern zwischen den Klagen eine so enge Beziehung gegeben ist, dass eine gemeinsame Verhandlung und Entscheidung geboten erscheint, um zu vermeiden, dass in getrennten Verfahren widersprechende Entscheidungen ergehen könnten“ – für eine Klage, die ein Arbeitnehmer vor dem Gericht eines Mitgliedstaats gegen zwei Gesellschaften erhoben hat, die zum selben Konzern gehören und von denen die eine, die diesen Arbeitnehmer für den Konzern eingestellt und es dann abgelehnt hat, ihn wieder einzustellen, ihren Sitz in diesem Mitgliedstaat hat und die andere, für deren Rechnung der Betroffene zuletzt in Drittstaaten gearbeitet hat und von der ihm gekündigt worden ist, ihren Sitz in einem anderen Mitgliedstaat hat, wenn dieser Kläger sich auf eine Klausel des Arbeitsvertrags beruft, um darzutun, dass die beiden Gesellschaften seine gemeinsamen Arbeitgeber waren, von denen er eine Kündigungsabfindung verlangt, oder schließt Art. 18 Abs. 1 der Verordnung Nr. 44/2001, wonach sich die Zuständigkeit bei individuellen Arbeitsverträgen nach Kapitel II Abschnitt 5 der Verordnung bestimmt, die Anwendung von Art. 6 Nr. 1 der Verordnung aus, so dass jede der beiden Gesellschaften vor dem Gericht des Mitgliedstaats zu verklagen ist, wo sie ihren Sitz hat?

II – Rechtliche Würdigung

13. Die Vorlagefrage gliedert sich in zwei Teile. Die Antwort auf diese Frage verlangt nämlich, dass zunächst festgestellt wird, ob die in Art. 6 Nr. 1 der Verordnung Nr. 44/2001 genannte besondere Zuständigkeitsregel im Rahmen von individuellen Arbeitsverträgen angewandt werden kann, obwohl es in der Verordnung einen Abschnitt gibt, in dem die Zuständigkeitsregeln für rechtliche Streitigkeiten über solche Arbeitsverträge ausdrücklich geregelt sind, und dass danach, falls die Anwendbarkeit zu bejahen ist, die Voraussetzungen für die Anwendung von Art. 6 Nr. 1 der Verordnung Nr. 44/2001 in diesem Bereich dargelegt und erläutert werden.

A – Zur Anwendbarkeit von Art. 6 Nr. 1 der Verordnung Nr. 44/2001 auf individuelle Arbeitsverträge

14. Bei der dem Gerichtshof vorgelegten Frage geht es im Wesentlichen darum, festzustellen, ob die gerichtlichen Zuständigkeiten für individuelle Arbeitsverträge im Gegensatz zu allen sonstigen in der Verordnung Nr. 44/2001 enthaltenen Zuständigkeitsregeln in Abschnitt 5 abschließend und ausschließlich geregelt sind oder ob Abschnitt 5 so ausgelegt werden kann, dass er die Anwendung der besonderen Zuständigkeitsregel nicht ausschließt, wenn dies aufgrund der Besonderheit des Einzelfalls geboten ist, namentlich wenn zusammenhängende Klagen, die mehrere Beklagte betreffen, vor das Gericht des Ortes gebracht werden, an dem einer von ihnen seinen Sitz hat.

15. Im Vorgriff auf die folgenden Ausführungen möchte ich schon jetzt darauf hinweisen, dass die Anwendbarkeit der in Art. 6 Nr. 1 der Verordnung Nr. 44/2001 vorgesehenen besonderen Zuständigkeitsregel auf einen Rechtsstreit über einen individuellen Arbeitsvertrag, wonach mehrere Beklagte vor dem Gericht des Ortes, an dem einer der Beklagten seinen Wohnsitz hat, verklagt werden können, wenn die Klagen miteinander zusammenhängen, meiner Ansicht nach zu bejahen ist, obwohl die grammatikalische Auslegung von Abschnitt 5 über Arbeitsverträge dem anscheinend entgegensteht. Zum besseren Verständnis des Ergebnisses, das ich dem Gerichtshof vorschlagen möchte, will ich zunächst die Argumente vortragen, die einer Anwendbarkeit von Art. 6 Nr. 1 der Verordnung im Rahmen von Rechtsstreitigkeiten über individuelle Arbeitsverträge offenbar entgegenstehen, und anschließend darlegen, weshalb der Gerichtshof einer solchen Auslegung meiner Ansicht nach nicht folgen sollte.

16. Art. 18 Abs. 1 der Verordnung Nr. 44/2001, wonach sich bei „Ansprüche[n] aus einem individuellen Arbeitsvertrag … die Zuständigkeit unbeschadet des Artikels 4 und des Artikels 5 Nummer 5 [nach] Abschnitt [5 bestimmt]“, scheint für sich allein gesehen zwar für die Auslegung zu sprechen, dass jegliche Zuständigkeitsregel, die nicht in Abschnitt 5 genannt oder ausdrücklich für zulässig erklärt wird, unanwendbar ist, wenn sich der Rechtsstreit auf einen Arbeitsvertrag bezieht.

17. Aus dieser Vorschrift ergibt sich zum einen, dass jeder Rechtsstreit, der einen individuellen Arbeitsvertrag betrifft, nach den in Abschnitt 5 der Verordnung Nr. 44/2001 vorgesehenen Zuständigkeitsregeln (Art. 18 bis 21) vor Gericht gemacht werden muss und dass Ausnahmen von der Anwendung der in Abschnitt 5 genannten Grundsätze nur bestehen, soweit sie in der Verordnung ausdrücklich genannt sind. Da Art. 6 Nr. 1 nicht zu Abschnitt 5 gehört und nicht wie die Art. 4 und 5 Nr. 5 als Ausnahme von der Anwendung der in diesem Abschnitt vorgesehenen Regeln vorgesehen ist, würde die besondere Zuständigkeit nach Art. 6 Nr. 1 folglich nicht für Rechtsstreitigkeiten über Arbeitsverträge gelten.

18. Da Abschnitt 5 außerdem eine Ausnahme von der nach Art. 2 der Verordnung Nr. 44/2001 geltenden grundsätzlichen Zuständigkeit darstellt(4), wonach das Gericht am Wohnsitz des Beklagten zuständig sein muss, wären die in den Art. 18 bis 21 des Abschnitts 5 genannten Regeln eng auszulegen, so dass allein die in diesem Abschnitt ausdrücklich genannten Ausnahmen von der Anwendung des Grundsatzes der Zuständigkeit des Gerichts am Wohnsitz des Beklagten zulässig wären.

19. Diese Auslegung kann jedoch nicht durchgreifen, weil sie nicht nur die teleologische und kontextuelle Bedeutung der Verordnung Nr. 44/2001, sondern auch den Sinn der in diesem Fall einschlägigen Vorschriften außer Acht lässt. Sie geht insbesondere von der unzutreffenden Annahme aus, dass Art. 6 Nr. 1 eine Ausnahme von den in dem Abschnitt über individuelle Arbeitsverträge genannten Zuständigkeitsregeln sei. Die besondere Zuständigkeitsregel nach Art. 6 Nr. 1 der Verordnung Nr. 44/2001 stellt nämlich, wie ich im Folgenden dartun werde, keine Ausnahme von den Zuständigkeitsregeln über individuelle Arbeitsverträge dar, sondern eine Ergänzung der für diese geltenden Bestimmungen, und diese Ergänzung stellt den Grundsatz dieser Bestimmungen nicht in Frage.

20. Zunächst ist daran zu erinnern, dass das Brüsseler Übereinkommen keinen spezifischen Abschnitt über Arbeitsverträge vorsah. Diese wurden jedoch von den in ihm festgelegten Zuständigkeitsregeln erfasst. Außerdem galt Art. 6 Nr. 1, wonach mehrere Beklagte vor dem Gericht des Ortes verklagt werden können, an dem einer der Beklagten seinen Wohnsitz hat, wie die Kommission der Europäischen Gemeinschaften einräumt, im Rahmen des Übereinkommens durchaus auch für Arbeitsverträge. Die auf das Brüsseler Übereinkommen folgende Verordnung Nr. 44/2001 sieht gemäß ihrem fünften Erwägungsgrund die Wahrung der erzielten Ergebnisse und keine Aufhebung der im Übereinkommen genannten Regeln vor. Die Verordnung Nr. 44/2001 bezweckt also keine wesentliche Änderung der Regeln über die gerichtliche Zuständigkeit, so dass anzunehmen ist, dass die Urheber dieser Verordnung nicht die Absicht hatten, die Anwendung ihres Art. 6 Nr. 1 auf dem hier in Rede stehenden Gebiet auszuschließen.

21. Die Urheber der Verordnung Nr. 44/2001 wollten vielmehr für die gerichtliche Zuständigkeit auf dem Gebiet der Arbeitsverträge einen spezifischen Abschnitt schaffen, indem sie feststellten, dass „die schwächere Partei durch Zuständigkeitsvorschriften geschützt werden [sollte], die für sie günstiger sind als die allgemeine Regelung“(5) . Unter diesen Umständen wäre es überraschend, wenn die Verordnungsgeber mit dem Erlass der Verordnung Nr. 44/2001 den Arbeitnehmern den Vorteil der Anwendung von für sie günstigeren Regeln, die sie bis zum Inkrafttreten der Verordnung im Rahmen des Brüsseler Übereinkommens genossen, hätten entziehen wollen. Im Übrigen ist das Übereinkommen nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs auf dem Gebiet von Arbeitsverträgen „unter Berücksichtigung der Zielsetzung auszulegen, der sozial schwächeren Vertragspartei, d. h. in diesem Fall dem Arbeitnehmer, einen angemessenen Schutz zu gewährleisten“(6) . Die Auslegung, wonach der Arbeitnehmer selbst bei gegen mehrere Beklagte gerichteten zusammenhängenden Klagen jeden von ihnen einzeln vor dem in jedem Mitgliedstaat jeweils zuständigen Gericht verklagen müsste, würde nicht nur dem Interesse einer geordneten Rechtspflege zuwiderlaufen(7), sondern auch den Schutz der schwächeren Vertragspartei vernachlässigen und ihr überdies eine Möglichkeit nehmen, die ihr früher zur Verfügung stand.

22. Unter diesen Umständen ist festzustellen, dass zwar die Verordnung Nr. 44/2001 bei Arbeitsverträgen zum Schutz der schwächeren Vertragspartei eine Ausnahme von der Regel vorsieht, dass der Beklagte an seinem Wohnsitz zu verklagen ist, dass aber die im Rahmen des Abschnitts 5 fehlende Berücksichtigung des Falls mehrerer zusammenhängender Klagen gegen mehrere Beklagte als eine Lücke in diesem Text anzusehen ist. Diese Lücke wird durch Art. 6 Nr. 1 der Verordnung behoben, wonach die für Arbeitsverträge geltenden Regeln ergänzt werden können, ohne dass jedoch ihre Grundsätze, d. h. insbesondere der Schutz der schwächeren Vertragspartei und ganz allgemein der Wille, eine Häufung der Gerichtsstände zu verhindern, in Frage gestellt werden. Durch die Anwendbarkeit von Art. 6 Nr. 1 der Verordnung wird nämlich der fehlenden Berücksichtigung einer verfahrensmäßigen Besonderheit Rechnung getragen, die sich bei miteinander zusammenhängenden Klagen auf dem Gebiet von Arbeitsverträgen ergibt, ohne dass jedoch die für diese geltenden Regeln über die gerichtliche Zuständigkeit beeinträchtigt würden.

23. Nach alledem schlage ich dem Gerichtshof vor, festzustellen, dass Art. 6 Nr. 1 der Verordnung Nr. 44/2001 im Rahmen von individuellen Arbeitsverträgen anwendbar ist.

B – Zu den Voraussetzungen für die Anwendung von Art. 6 Nr. 1 der Verordnung Nr. 44/2001 im Rahmen von individuellen Arbeitsverträgen

24. Nach ständiger Rechtsprechung ist es im Rahmen des durch Art. 234 EG eingeführten Verfahrens der Zusammenarbeit mit den nationalen Gerichten Aufgabe des Gerichtshofs, dem vorlegenden Gericht eine für die Entscheidung des bei diesem anhängigen Verfahrens sachdienliche Antwort zu geben. Deshalb und aufgrund der komplexen und manchmal widersprüchlichen Umstände dieses Rechtsstreits ist es wichtig, die vom vorlegenden Gericht zu prüfenden Voraussetzungen dafür klarzustellen, dass Art. 6 Nr. 1 der Verordnung Nr. 44/2001 im Ausgangsverfahren herangezogen werden kann.

25. Die Verordnung Nr. 44/2001 stellt, wie gesagt, keine Aufhebung der im Brüsseler Übereinkommen aufgestellten Regeln dar, sondern bezweckt die Wahrung der mit dem Übereinkommen erzielten Ergebnisse. Außerdem sind die Präzisierungen, die der Gerichtshof in seiner Rechtsprechung zu Art. 6 Nr. 1 des Übereinkommens vorgenommen hat, im Rahmen der Anwendung von Art. 6 Nr. 1 der Verordnung Nr. 44/2001 nach wie vor einschlägig.

26. Art. 6 Nr. 1 der Verordnung Nr. 44/2001 ist gemäß seinem Wortlaut unter der Voraussetzung anwendbar, dass „zwischen den Klagen eine so enge Beziehung gegeben ist, dass eine gemeinsame Verhandlung und Entscheidung geboten erscheint, um zu vermeiden, dass in getrennten Verfahren widersprechende Entscheidungen ergehen könnten“.

27. Diese Voraussetzung, die in der ursprünglichen Fassung der entsprechenden Vorschrift des Brüsseler Übereinkommens nicht genannt war, beruht unmittelbar auf Art. 22 dieses Übereinkommens, wonach Klagen im Zusammenhang stehen, wenn zwischen ihnen eine so enge Beziehung gegeben ist, dass eine gemeinsame Verhandlung und Entscheidung geboten erscheint, um zu vermeiden, dass in getrennten Verfahren widersprechende Entscheidungen ergehen könnten.

28. Der Gerichtshof hat es im Urteil Kalfelis für erforderlich gehalten, die Voraussetzung einer Konnexität zwischen den Klagen im Wege der Auslegung in Art. 6 Nr. 1 des Übereinkommens zu übernehmen – eine Voraussetzung, die in der Folge in Art. 6 Nr. 1 der Verordnung Nr. 44/2001 übernommen wurde –, um zu vermeiden, dass die grundsätzliche Zuständigkeit des Gerichts am Wohnort des Beklagten durch den Rückgriff auf diese besondere Zuständigkeit in Frage gestellt wird. Gemäß dem Gerichtshof „könnte [dies] dann der Fall sein, wenn es einem Kläger freistünde, eine Klage gegen mehrere Beklagte allein zu dem Zweck zu erheben, einen dieser Beklagten der Zuständigkeit der Gerichte seines Wohnsitzstaats zu entziehen“(8) .

29. Der Begriff „einander widersprechende Entscheidungen“, eine der Voraussetzungen für die Anwendung von Art. 6 Nr. 1 der Verordnung Nr. 44/2001, kann auf verschiedene Weise ausgelegt werden. Nach einer engen Auslegung setzt die Annahme der besonderen gerichtlichen Zuständigkeit bei mehreren Beklagten voraus, dass bei getrennter Verhandlung und Entscheidung die Gefahr einander widersprechender Entscheidungen besteht. Nach der weiten Auslegung des Begriffs „einander widersprechende Entscheidungen“ reicht es dagegen aus, wenn bei getrennter Verhandlung und Entscheidung die Gefahr einander widersprechender Entscheidungen besteht, ohne dass es erforderlich wäre, dass die Gefahr sich gegenseitig ausschließender Rechtsfolgen besteht(9) . Der Gerichtshof hat außerdem, ohne sich auf die eine oder die andere Auslegung festzulegen, klargestellt, dass „Entscheidungen nicht schon deswegen als einander widersprechend betrachtet werden [können], weil es zu einer abweichenden Entscheidung des Rechtsstreits kommt, [und dass] diese Abweichung außerdem bei derselben Sach- und Rechtslage auftreten [muss …]“(10) .

30. In Wirklichkeit bedarf dies keiner weiteren Erörterung. Aus der Verordnung Nr. 44/2001 und der genannten Rechtsprechung ergibt sich nämlich eindeutig, dass das entscheidende Kriterium für die Anwendung von Art. 6 Nr. 1 der Verordnung vor allem darin zu sehen ist, dass zwischen den Klagen ein besonders enger Zusammenhang besteht. Dieser Zusammenhang lässt sich jedoch wahrscheinlich nur in jedem Einzelfall und insbesondere im Hinblick auf jeden Bereich beurteilen, in dem diese besondere Zuständigkeitsregel zur Anwendung kommen soll.

31. Es ist allerdings erstens zu berücksichtigen, dass das Hauptziel des Art. 6 Nr. 1 der Verordnung Nr. 44/2001 darin besteht, unabhängig von dem Rahmen, in dem er zur Anwendung kommt, für eine geordnete Rechtspflege zu sorgen. Insofern wäre jedes Vorbringen, das auf den Schutz der schwächeren Vertragspartei abstellt, unbeachtlich und kann daher nicht zur Auslegung der Voraussetzungen für die Anwendung von Art. 6 Nr. 1 der Verordnung Nr. 44/2001 herangezogen werden. Um dieses Ziel zu erreichen und eine missbräuchliche Inanspruchnahme der besonderen Zuständigkeit zu vermeiden, impliziert die Konnexität zwangsläufig, dass ein besonders enger Zusammenhang zwischen der Streitigkeit und dem angerufenen Gericht besteht(11) . Das Erfordernis eines Zusammenhangs zwischen der Streitigkeit und dem Gericht, bei dem die Klage erhoben wird, verlangt jedoch entgegen der vom Vereinigten Königreich vertretenen Auffassung keineswegs eine Hierarchisierung der Gerichte derart, dass die Klage vor dem Gericht zu erheben wäre, zu dem der engste Zusammenhang bestünde. Diese Auslegung liefe darauf hinaus, eine zusätzliche Voraussetzung für die Anwendung von Art. 6 Nr. 1 aufzustellen, der als Ausnahme von der grundsätzlichen Zuständigkeitsregel nur eng ausgelegt werden darf(12) . Im Ergebnis bedarf es für die Konnexität, die eine Voraussetzung für die Anwendung von Art. 6 Nr. 1 ist, eines Zusammenhangs der Klagen. Dieser Zusammenhang muss bestehen, um unabhängig davon, welches Gericht befasst ist, zu gewährleisten, dass dieses in einer engen Beziehung zu der Rechtssache steht, so dass diese besondere Zuständigkeit sinnvoll und nicht zweckentfremdet genutzt wird.

32. Bei der Prüfung dieser Konnexität im Rahmen von Arbeitsverträgen sind zweitens unter Berücksichtigung des jeweiligen Sachverhalts bestimmte Kriterien in Betracht zu ziehen, die auf das Bestehen eines engen Zusammenhangs zwischen den auf diesem bestimmten Gebiet erhobenen Klagen schließen lassen.

33. Der Kassationsbeschwerdegegner meint hierzu, dass das Erfordernis der Konnexität zwischen den beiden Klagen erfüllt sei, weil zum einen „derselbe Arbeitsvertrag oder zumindest dasselbe ununterbrochene Beschäftigungsverhältnis“(13) mit seinen beiden Arbeitgebern bestehe und weil zum anderen die beiden Gesellschaften zum selben Konzern gehörten.

34. Die Lösung dieses Problems ist, wie die Kommission und die Regierung des Vereinigten Königreichs erklärt haben, dem Urteil Pugliese zu entnehmen. Der Gerichtshof hat nämlich, als er aufgerufen war, sich zur Auslegung des Begriffs „Ort, an dem der Arbeitnehmer gewöhnlich seine Arbeit verrichtet“ zu äußern, inzident Ausführungen gemacht, die es ermöglichen, den Grad des Zusammenhangs zwischen zwei mit verschiedenen Arbeitgebern geschlossenen Arbeitsverträgen zu bestimmen. Ich halte diese Rechtsprechung für besonders einschlägig im Hinblick auf die Kriterien, die das nationale Gericht prüfen kann, um die Konnexität zwischen Arbeitsverträge betreffenden Klagen festzustellen, die es ermöglicht, mehrere Beklagte vor dem Gericht am Wohnsitz eines von ihnen zu verklagen(14) .

35. Der Gerichtshof hat somit für Recht erklärt: „Ist ein Arbeitnehmer an zwei verschiedene Arbeitgeber gebunden, so kann der erste Arbeitgeber nur dann vor dem Gericht des Ortes verklagt werden, an dem der Arbeitnehmer seine Tätigkeit für den zweiten Arbeitgeber ausübt, wenn der erste Arbeitgeber zum Zeitpunkt des Abschlusses des zweiten Vertrags selbst ein Interesse an der Erfüllung der Leistung hatte, die der Arbeitnehmer für den zweiten Arbeitgeber an einem von diesem bestimmten Ort erbringt. … [D]as Vorliegen dieses Interesses darf nicht streng anhand von formalen und ausschließlichen Kriterien geprüft werden, sondern ist umfassend unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls zu beurteilen.“(15) Der Gerichtshof betont, dass zu den relevanten Faktoren insbesondere folgende gehören können: „die Tatsache, dass beim Abschluss des ersten Vertrags der Abschluss des zweiten Vertrags beabsichtigt war; die Tatsache, dass der erste Vertrag im Hinblick auf den Abschluss des zweiten Vertrags geändert wurde; die Tatsache, dass eine organisatorische oder wirtschaftliche Verbindung zwischen den beiden Arbeitgebern besteht; die Tatsache, dass es eine Vereinbarung zwischen den beiden Arbeitgebern gibt, die einen Rahmen für das Nebeneinanderbestehen der beiden Verträge vorsieht; die Tatsache, dass der erste Arbeitgeber weisungsbefugt gegenüber dem Arbeitnehmer bleibt; die Tatsache, dass der erste Arbeitgeber über die Dauer der Tätigkeit des Arbeitnehmers beim zweiten Arbeitgeber bestimmen kann“(16) . Das nationale Gericht muss demzufolge anhand all dieser nicht abschließenden Kriterien beurteilen, ob es eine ausreichende Konnexität zwischen den beiden Klagen gibt, die den Kassationsbeschwerdegegner berechtigt, die beiden Gesellschaften vor der französischen Gerichtsbarkeit zu verklagen.

36. Nach alledem könnte der Gerichtshof feststellen, dass die Anwendung von Art. 6 Nr. 1 der Verordnung Nr. 44/2001 voraussetzt, dass eine Konnexität zwischen den Klagen besteht, die, unabhängig davon, welches Gericht befasst ist, gewährleistet, dass dieses in einer engen Beziehung zu der Rechtssache steht. Zur Beurteilung der genannten Konnexität im Rahmen von individuellen Arbeitsverträgen kann insbesondere die Tatsache berücksichtigt werden, dass beim Abschluss des ersten Vertrags der Abschluss des zweiten Vertrags beabsichtigt war; die Tatsache, dass der erste Vertrag im Hinblick auf den Abschluss des zweiten Vertrags geändert wurde; die Tatsache, dass eine organisatorische oder wirtschaftliche Verbindung zwischen den beiden Arbeitgebern besteht; die Tatsache, dass es eine Vereinbarung zwischen den beiden Arbeitgebern gibt, die einen Rahmen für das Nebeneinanderbestehen der beiden Verträge vorsieht; die Tatsache, dass der erste Arbeitgeber weisungsbefugt gegenüber dem Arbeitnehmer bleibt, und die Tatsache, dass der erste Arbeitgeber über die Dauer der Tätigkeit des Arbeitnehmers beim zweiten Arbeitgeber bestimmen kann.

III – Ergebnis

37. Im Ergebnis schlage ich dem Gerichtshof vor, auf die Vorlagefrage folgendermaßen zu antworten:

Die in Art. 6 Nr. 1 der Verordnung (EG) Nr. 44/2001 des Rates vom 22. Dezember 2000 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen genannte besondere Zuständigkeitsregel kann im Rahmen von Abschnitt 5 betreffend die Zuständigkeit für individuelle Arbeitsverträge zur Anwendung kommen.

Die Anwendung von Art. 6 Nr. 1 der Verordnung Nr. 44/2001 setzt voraus, dass eine Konnexität zwischen den Klagen besteht, die, unabhängig davon, welches Gericht befasst ist, gewährleistet, dass dieses in einem engen Zusammenhang mit der Rechtssache steht. Zur Beurteilung der genannten Konnexität im Rahmen von individuellen Arbeitsverträgen kann insbesondere die Tatsache berücksichtigt werden, dass beim Abschluss des ersten Vertrags der Abschluss des zweiten Vertrags beabsichtigt war; die Tatsache, dass der erste Vertrag im Hinblick auf den Abschluss des zweiten Vertrags geändert wurde; die Tatsache, dass eine organisatorische oder wirtschaftliche Verbindung zwischen den beiden Arbeitgebern besteht; die Tatsache, dass es eine Vereinbarung zwischen den beiden Arbeitgebern gibt, die einen Rahmen für das Nebeneinanderbestehen der beiden Verträge vorsieht; die Tatsache, dass der erste Arbeitgeber weisungsbefugt gegenüber dem Arbeitnehmer bleibt, und die Tatsache, dass der erste Arbeitgeber über die Dauer der Tätigkeit des Arbeitnehmers beim zweiten Arbeitgeber bestimmen kann.

(1) .

(2)  – ABl. L 12, S. 1.

(3)  – Übereinkommen vom 27. September 1968 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil‑ und Handelssachen (konsolidierte Fassung), ABl. 1998, C 27, S. 1.

(4)  – Vgl. u. a. Urteile vom 27. September 1988, Kalfelis (189/87, Slg. 1988, 5565, Randnrn. 8 und 9), vom 15. Februar 1989, Six Constructions (32/88, Slg. 1989, 341, Randnr. 18), vom 27. Oktober 1998, Réunion européenne u. a. (C‑51/97, Slg. 1998, I‑6511, Randnr. 47), und vom 13. Juli 2006, Roche Nederland u. a. (C‑539/03, Slg. 2006, I‑6535, Randnrn. 19 bis 23).

(5)  – 13. Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 44/2001.

(6)  – Urteil vom 13. Juli 1993, Mulox IBC (C‑125/92, Slg. 1993, I‑4075, Randnr. 18). Diese Klarstellung ergab sich bereits aus dem Urteil vom 26. Mai 1982, Ivenel (133/81, Slg. 1982, 1891, Randnrn. 14 und 16). Vgl. auch die nachfolgende Bestätigung in den Urteilen vom 9. Januar 1997, Rutten (C‑383/95, Slg. 1997, I‑57, Randnr. 17), und vom 10. April 2003, Pugliese (C‑437/00, Slg. 2003, I‑3573, Randnr. 18).

(7)  – Der Gerichtshof hat nämlich festgestellt, dass in dem Fall, dass die Arbeit in mehr als einem Mitgliedstaat ausgeübt wird, eine Häufung der Gerichtsstände verhindert werden muss, um der Gefahr einander widersprechender Entscheidungen zu begegnen und die Anerkennung und Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen außerhalb des Mitgliedstaats zu erleichtern, in dem diese Entscheidungen erlassen wurden: Urteile vom 11. Januar 1990, Dumez France und Tracoba (C‑220/88, Slg. 1990, I‑49, Randnr. 18), und vom 27. Februar 2002, Weber (C‑37/00, Slg. 2002, I‑2013, Randnr. 42).

(8)  – Urteil Kalfelis (Randnr. 9).

(9)  – Zur Untersuchung dieser Frage vgl. die Schlussanträge von Generalanwalt Léger in der Rechtssache Roche Nederland u. a. sowie Bomhoff, J ., Judicial Discretion in European Law on Conflicts of Jurisdiction, Sdu, Den Haag, 2005.

(10)  – Urteile Roche Nederland u. a. (Randnr. 26), und vom 11. Oktober 2007, Freeport (C‑98/06, Slg. 2007, I‑0000, Randnr. 40).

(11)  – Vgl. u. a. die Urteile Ivenel (Randnr. 11) und Pugliese (Randnr. 17).

(12)  – Der Gerichtshof hat es nämlich stets abgelehnt, der insbesondere von den niederländischen Gerichten zur Auslegung von Art. 6 Nr. 1 entwickelten Theorie vom „spider in the web“ zu folgen. Im Urteil Roche Nederland u. a. hat er sich eindeutig gegen diese Theorie ausgesprochen.

(13)  – Vgl. die von Herrn Rouard vorgelegten Erklärungen (S. 7).

(14)  – In der Rechtslehre wurde eine solche Verwendung dieses Urteils bereits vorausgeahnt: siehe insbesondere Moizard, N., RJS , 10/03, S. 756, wo es heißt: „Es ist sehr wahrscheinlich, dass die Kriterien des Urteils Pugliese für die Ermittlung des zuständigen Gerichts bei einem Rechtsstreit im Zusammenhang mit der internationalen Mobilität innerhalb eines Konzerns sehr nützlich sein werden.“

(15)  – Urteil Pugliese, Randnrn. 23 und 24.

(16)  – Ebd. (Randnr. 24).