7.6.2008   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 142/3


Urteil des Gerichtshofs (Vierte Kammer) vom 24. April 2008 (Vorabentscheidungsersuchen des Verwaltungsgerichts Köln — Deutschland) — Arcor AG & Co. KG/Bundesrepublik Deutschland

(Rechtssache C-55/06) (1)

(Telekommunikation - Verordnung (EG) Nr. 2887/2000 - Zugang zum Teilnehmeranschluss - Grundsatz der Kostenorientierung der Preise - Kosten - Zinsen für das eingesetzte Kapital - Abschreibung von Anlagegütern - Bewertung der lokalen Telekommunikationsinfrastrukturen - Aktuelle und historische Kosten - Berechnungsgrundlage - Tatsächliche Kosten - Historische Kosten und voraussichtliche Kosten - Kostennachweis - Analytisches Bottom-up- und Top-down-Modell - Eingehende nationale Regelung - Ermessen der nationalen Regulierungsbehörden - Richterliche Kontrolle - Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten - Grundsätze der Äquivalenz und der Effektivität - Gerichtliche Anfechtung von Entscheidungen, mit denen die Entgelte des gemeldeten Betreibers genehmigt werden, durch die Begünstigten - Beweislast - Aufsichtsverfahren und gerichtliches Verfahren)

(2008/C 142/03)

Verfahrenssprache: Deutsch

Vorlegendes Gericht

Verwaltungsgericht Köln

Parteien des Ausgangsverfahrens

Klägerin: Arcor AG & Co. KG

Beklagte: Bundesrepublik Deutschland

Beteiligte: Deutsche Telekom AG

Gegenstand

Vorabentscheidungsersuchen — Verwaltungsgericht Köln — Auslegung von Art. 1 Abs. 4, Art. 3 Abs. 3 und Art. 4 der Verordnung (EG) Nr. 2887/2000 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 18. Dezember 2000 über den entbündelten Zugang zum Teilnehmeranschluss (ABl. L 336, S. 4)

Tenor

1.

Die Zinsen für das eingesetzte Kapital und die Abschreibungen der Anlagegüter, die zur Herstellung des Teilnehmeranschlusses verwendet wurden, gehören zu den Kosten, die nach dem in Art. 3 Abs. 3 der Verordnung (EG) Nr. 2887/2000 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 18. Dezember 2000 über den entbündelten Zugang zum Teilnehmeranschluss verankerten Grundsatz der Kostenorientierung der Preise für den entbündelten Zugang zum Teilnehmeranschluss zu berücksichtigen sind.

2.

Im Rahmen der Anwendung des Grundsatzes der Kostenorientierung der Preise für den entbündelten Zugang zum Teilnehmeranschluss nach Art. 3 Abs. 3 der Verordnung Nr. 2887/2000 müssen die nationalen Regulierungsbehörden bei der Ermittlung der Grundlage für die Berechnung der Kosten des gemeldeten Betreibers die tatsächlichen Kosten berücksichtigen, d. h. die historischen Kosten des gemeldeten Betreibers sowie die voraussichtlichen Kosten, wobei Letztere gegebenenfalls aufgrund des Wiederbeschaffungswerts des Netzes oder bestimmter Teile davon zu kalkulieren sind.

3.

Nach Art. 4 Abs. 2 Buchst. b der Verordnung Nr. 2887/2000 kann die nationale Regulierungsbehörde vom gemeldeten Betreiber aussagekräftige Informationen über die Belege für die im Rahmen der Anwendung des Grundsatzes der Kostenorientierung der Preise für den entbündelten Zugang zum Teilnehmeranschluss berücksichtigten Kosten anfordern. Da das Gemeinschaftsrecht keine Bestimmung über die zu prüfenden Kostenunterlagen enthält, ist es allein Sache der nationalen Regulierungsbehörden, auf der Grundlage des anwendbaren Rechts zu prüfen, ob die vorgelegten Unterlagen die für die Zwecke der Kostenrechnung am besten geeigneten sind.

4.

Das Gemeinschaftsrecht schließt es nicht aus, dass die nationalen Regulierungsbehörden im Rahmen der Anwendung des Grundsatzes der Kostenorientierung der Preise für den entbündelten Zugang zum Teilnehmeranschluss die Kosten mangels vollständiger und nachvollziehbarer Kostenunterlagen auf der Grundlage eines analytischen Top-down- oder Bottom-up-Kostenmodells bestimmen.

5.

Die den Mitgliedstaaten durch Art. 1 Abs. 4 der Verordnung Nr. 2887/2000 eingeräumte Möglichkeit, eingehende innerstaatliche Vorschriften zu erlassen, kann nicht zur Folge haben, dass der in Art. 3 Abs. 3 der Verordnung verankerte Grundsatz der Kostenorientierung der Preise für den entbündelten Zugang zum Teilnehmeranschluss unanwendbar wird.

6.

Aus den Bestimmungen von Art. 4 Abs. 1 und 2 der Verordnung Nr. 2887/2000 geht hervor, dass die nationalen Regulierungsbehörden bei der Prüfung der von den gemeldeten Betreibern für die Bereitstellung eines entbündelten Zugangs zu ihren Teilnehmeranschlüssen in Rechnung gestellten Preise anhand des in Art. 3 Abs. 3 der Verordnung verankerten Preisbildungsgrundsatzes über eine weit reichende Befugnis verfügen, die die Beurteilung der verschiedenen Aspekte dieser Preise umfasst, und zwar bis hin zur Änderung der Preise, d. h. der vorgeschlagenen Entgelte. Diese weit reichende Befugnis bezieht sich auch auf die den gemeldeten Betreibern entstandenen Kosten, wie z. B. die Zinsen für das eingesetzte Kapital und die Abschreibungen der Anlagegüter, die Berechnungsgrundlage dieser Kosten und die Kostenrechnungsmodelle.

7.

Es ist allein Sache der Mitgliedstaaten, im Rahmen ihrer Verfahrensautonomie unter Wahrung der Grundsätze der Äquivalenz und der Effektivität des gerichtlichen Rechtsschutzes das zuständige Gericht, die Verfahrensart und damit die Art und Weise der richterlichen Kontrolle von Entscheidungen der nationalen Regulierungsbehörden über die Genehmigung der Preise der gemeldeten Betreiber für den entbündelten Zugang zu ihren Teilnehmeranschlüssen zu bestimmen. Unter diesen Umständen hat das nationale Gericht sicherzustellen, dass die sich aus der Verordnung Nr. 2887/2000 hinsichtlich des entbündelten Zugangs zum Teilnehmeranschluss ergebenden Verpflichtungen in einer dem Preisbildungsgrundsatz des Art. 3 Abs. 3 der Verordnung entsprechenden Art und Weise tatsächlich eingehalten werden, und zwar unter transparenten, fairen und nicht diskriminierenden Bedingungen.

8.

Nach Art. 4 Abs. 1 der Verordnung Nr. 2887/2000 in Verbindung mit Art. 5a Abs. 3 der Richtlinie 90/387/EWG des Rates vom 28. Juni 1990 zur Verwirklichung des Binnenmarktes für Telekommunikationsdienste durch Einführung eines offenen Netzzugangs (Open Network Provision — ONP) in der durch die Richtlinie 97/51/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 6. Oktober 1997 geänderten Fassung müssen die nationalen Gerichte die innerstaatlichen Verfahrensvorschriften über die Einlegung von Rechtsbehelfen so auslegen und anwenden, dass eine Entscheidung der nationalen Regulierungsbehörde über die Genehmigung der Preise für den entbündelten Zugang zum Teilnehmeranschluss gerichtlich angefochten werden kann, und zwar nicht nur von dem Unternehmen, an das eine solche Entscheidung gerichtet ist, sondern auch von den Begünstigten im Sinne dieser Verordnung, deren Rechte von der Entscheidung potenziell betroffen sind.

9.

Die Verordnung Nr. 2887/2000 ist dahin auszulegen, dass es in einem die Preisgestaltung für den entbündelten Zugang zum Teilnehmeranschluss betreffenden Aufsichtsverfahren, das eine nationale Regulierungsbehörde nach Art. 4 dieser Verordnung durchführt, dem gemeldeten Betreiber obliegt, den Nachweis dafür zu erbringen, dass seine Entgelte dem Grundsatz der Kostenorientierung entsprechen. Hingegen ist es Sache der Mitgliedstaaten, die Verteilung der Beweislast zwischen der nationalen Regulierungsbehörde, die die Entscheidung über die Genehmigung der Entgelte des gemeldeten Betreibers erlassen hat, und dem Begünstigten, der diese Entscheidung anficht, zu regeln. Es ist auch Sache der Mitgliedstaaten, in Einklang mit ihren Verfahrensvorschriften und unter Wahrung der gemeinschaftsrechtlichen Grundsätze der Effektivität und der Äquivalenz des gerichtlichen Rechtsschutzes die Modalitäten dieser Beweislastverteilung für den Fall einer gerichtlichen Anfechtung einer Entscheidung der nationalen Regulierungsbehörde über die Genehmigung der Entgelte eines gemeldeten Betreibers für den entbündelten Zugang zu seinen Teilnehmeranschlüssen zu regeln.


(1)  ABl. C 96 vom 22.4.2006.