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Leitsätze

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1. Vorabentscheidungsverfahren – Frage nach der Auslegung eines auf der Grundlage von Titel VI des EU-Vertrags erlassenen Rahmenbeschlusses

(Art. 234 EG, Art. 35 EU und 46 Buchst. b EU)

2. Vorabentscheidungsverfahren – Zuständigkeit des Gerichtshofs – Polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen

(Art. 234 EG, Art. 35 EU und 46 Buchst. b EU)

3. Handlungen der Organe – Zeitliche Geltung – Verfahrensvorschriften

4. Europäische Union – Polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen – Stellung des Opfers im Strafverfahren – Rahmenbeschluss 2001/220

(Rahmenbeschluss 2001/220 des Rates, Art. 1 Buchst. a, 2 Abs. 1 und 8 Abs. 1)

Leitsätze

1. Der Umstand allein, dass eine Vorlageentscheidung, in der nach der Auslegung eines auf der Grundlage von Titel VI des EU-Vertrags erlassenen Rahmenbeschlusses gefragt wird, Art. 35 EU nicht erwähnt, sondern sich auf Art. 234 EG bezieht, kann nicht zur Unzulässigkeit des Vorabentscheidungsersuchens führen. Das gilt umso mehr, als der EU-Vertrag weder ausdrücklich noch stillschweigend die Form vorschreibt, in der das nationale Gericht sein Ersuchen um Vorabentscheidung vorlegen muss.

(vgl. Randnr. 36)

2. Nach Art. 46 Buchst. b EU findet die Regelung des Art. 234 EG auf Art. 35 EU unter den dort genannten Voraussetzungen Anwendung. Art. 35 EU macht ebenso wie Art. 234 EG die Befassung des Gerichtshofs mit einem Vorabentscheidungsersuchen von der Voraussetzung abhängig, dass das nationale Gericht eine Entscheidung darüber zum Erlass seines Urteils für erforderlich hält, so dass die Rechtsprechung des Gerichtshofs zur Zulässigkeit der nach Art. 234 EG zur Vorabentscheidung vorgelegten Fragen grundsätzlich auf Ersuchen um Vorabentscheidung durch den Gerichtshof nach Art. 35 EU übertragbar ist.

Folglich kann die Vermutung der Erheblichkeit der von den nationalen Gerichten zur Vorabentscheidung vorgelegten Fragen nur in Ausnahmefällen ausgeräumt werden, und zwar dann, wenn die erbetene Auslegung der in diesen Fragen erwähnten Bestimmungen des Unionsrechts offensichtlich in keinem Zusammenhang mit der Realität oder dem Gegenstand des Ausgangsverfahrens steht, wenn das Problem hypothetischer Natur ist oder wenn der Gerichtshof nicht über die tatsächlichen oder rechtlichen Angaben verfügt, die für eine sachdienliche Beantwortung der ihm vorgelegten Fragen erforderlich sind. Abgesehen von solchen Fällen ist der Gerichtshof grundsätzlich verpflichtet, über die ihm vorgelegten Fragen nach der Auslegung von Rechtsakten im Sinne von Art. 35 Abs. 1 EU zu entscheiden.

(vgl. Randnrn. 34, 39-40)

3. Verfahrensvorschriften sind im Allgemeinen auf alle bei ihrem Inkrafttreten anhängigen Rechtsstreitigkeiten anwendbar, während materiell-rechtliche Vorschriften gewöhnlich so ausgelegt werden, dass sie nicht für vor ihrem Inkrafttreten entstandene Sachverhalte gelten.

Die Frage der gerichtlichen Zuständigkeit für eine Entscheidung über die Rückgabe von während des Strafverfahrens beschlagnahmten Gegenständen an das Opfer betrifft den Bereich der Verfahrensvorschriften. Es gibt daher kein auf den zeitlichen Anwendungsbereich des Gesetzes bezogenes Hindernis, das es ausschlösse, in einem Rechtsstreit über diese Frage die einschlägigen Bestimmungen des Rahmenbeschlusses 2001/220 über die Stellung des Opfers im Strafverfahren zu berücksichtigen, um das anwendbare nationale Recht im Einklang mit diesem Beschluss auszulegen.

(vgl. Randnrn. 48-49)

4. Der Rahmenbeschluss 2001/220 über die Stellung des Opfers im Strafverfahren ist dahin auszulegen, dass in einem Strafverfahren und spezieller in einem auf ein endgültiges Strafurteil folgenden Strafvollstreckungsverfahren der Opferbegriff des Rahmenbeschlusses nicht juristische Personen umfasst, die einen Schaden als direkte Folge von Handlungen oder Unterlassungen erlitten haben, die einen Verstoß gegen das Strafrecht eines Mitgliedstaats darstellen.

Eine Auslegung des Rahmenbeschlusses dahin, dass er auch juristische Personen erfasst, die geltend machen, sie hätten einen Schaden als direkte Folge einer Straftat erlitten, verstieße nämlich gegen den Wortlaut des Art. 1 Buchst. a dieses Rahmenbeschlusses, der nur natürliche Personen erfasst, die einen Schaden als direkte Folge eines Verhaltens erlitten haben, das gegen das Strafrecht eines Mitgliedstaats verstößt. Hinzu kommt, dass keine der übrigen Bestimmungen des Rahmenbeschlusses einen Hinweis darauf enthält, dass der Gesetzgeber der Europäischen Union beabsichtigt hätte, den Opferbegriff für die Zwecke der Anwendung dieses Beschlusses auf juristische Personen zu erstrecken. Ganz im Gegenteil bestätigen mehrere Bestimmungen des Beschlusses, insbesondere die Art. 2 Abs. 1 und 2 sowie 8 Abs. 1, dass der Gesetzgeber ausschließlich natürliche Personen erfassen wollte, die Opfer eines aus einer Straftat resultierenden Schadens sind.

Die Richtlinie 2004/80 zur Entschädigung der Opfer von Straftaten steht dieser Auslegung nicht entgegen. Selbst wenn angenommen würde, dass die Bestimmungen einer auf der Grundlage des EG-Vertrags erlassenen Richtlinie irgendeine Auswirkung auf die Auslegung der Bestimmungen eines auf den EU-Vertrag gestützten Rahmenbeschlusses haben können und der Opferbegriff der Richtlinie sich dahin auslegen lässt, dass er juristische Personen erfasst, stehen nämlich die Richtlinie und der Rahmenbeschluss auf keinen Fall in einem Verhältnis zueinander, das eine einheitliche Auslegung des Begriffs erforderlich macht.

(vgl. Randnrn. 53-55, 57-58, 60 und Tenor)