1. Vorabentscheidungsverfahren – Zuständigkeit des Gerichtshofs – Polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen
(Art. 34 Abs. 2 Buchst. b EU und 35 Abs. 1 EU)
2. Europäische Union – Polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen – Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften im Bereich der justiziellen Zusammenarbeit
(Art. 34 Abs. 2 EU, Rahmenbeschluss 2002/584 des Rates, Art. 31 Abs. 1)
3. Europäische Union – Polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen – Rahmenbeschluss über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten
(Rahmenbeschluss 2002/584 des Rates, Art. 1 Abs. 3 und 2 Abs. 2)
4. Europäische Union – Polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen – Rahmenbeschluss über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten
(Rahmenbeschluss 2002/584 des Rates, Art. 2 Abs. 2)
1. Nach Art. 35 Abs. 1 EU entscheidet der Gerichtshof unter den in diesem Artikel festgelegten Bedingungen im Wege der Vorabentscheidung über die Auslegung und die Gültigkeit u. a. der Rahmenbeschlüsse; dies schließt notwendig ein, dass er sich, auch ohne entsprechende ausdrückliche Befugnis, zur Auslegung von Bestimmungen des Primärrechts wie Art. 34 Abs. 2 Buchst. b EU veranlasst sehen kann, wenn er beurteilen soll, ob der Rahmenbeschluss zu Recht auf der Grundlage dieser Bestimmung erlassen wurde.
(vgl. Randnr. 18)
2. Der Rahmenbeschluss 2002/584 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten, der die Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten im Bereich der justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen und insbesondere der Regeln vorsieht, denen die Voraussetzungen, die Verfahren und die Wirkungen der Übergabe zwischen nationalen Behörden von verurteilten oder verdächtigen Personen zur Vollstreckung strafrechtlicher Urteile oder zur Strafverfolgung unterliegen, wurde nicht unter Verstoß gegen Art. 34 Abs. 2 Buchst. b EU erlassen.
Art. 34 Abs. 2 EU kann nämlich als eine Bestimmung, in der die verschiedenen Arten von Rechtsinstrumenten aufgezählt und allgemein definiert sind, die zur Verwirklichung der in Titel VI des EU-Vertrags genannten „Ziele der Union“ herangezogen werden können, nicht so ausgelegt werden, dass er es ausschließt, dass sich die Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten durch Erlass eines Rahmenbeschlusses gemäß Abs. 2 Buchst. b auf andere als auf die in Art. 31 Abs. 1 Buchst. e EU genannten Bereiche beziehen kann, insbesondere auf die Materie des Europäischen Haftbefehls.
Zudem stellt Art. 34 Abs. 2 EU auch keine Rangfolge der in dieser Bestimmung aufgezählten unterschiedlichen Rechtsinstrumente auf. Der Europäische Haftbefehl hätte zwar auch Gegenstand eines Übereinkommens sein können, doch steht es im Ermessen des Rates, dem Rechtsinstrument des Rahmenbeschlusses den Vorzug zu geben, wenn die Voraussetzungen für den Erlass einer solchen Handlung vorliegen.
Diesem letztgenannten Ergebnis steht nicht entgegen, dass der Rahmenbeschluss nach seinem Art. 31 Abs. 1 am 1. Januar 2004 die entsprechenden Bestimmungen der dort angeführten früheren Auslieferungsübereinkommen nur in den Beziehungen zwischen den Mitgliedstaaten ersetzt. Bei jeder anderen Auslegung – die sich weder auf Art. 34 Abs. 2 EU noch eine sonstige Bestimmung des EU-Vertrags stützen lässt – bestünde die Gefahr, dass der dem Rat verliehenen Befugnis zum Erlass von Rahmenbeschlüssen in den vorher durch internationale Übereinkommen geregelten Bereichen der wesentliche Teil ihrer praktischen Wirksamkeit genommen wird.
(vgl. Randnrn. 28-29, 37-38, 41-43)
3. Der Grundsatz der Gesetzmäßigkeit im Zusammenhang mit Straftaten und Strafen ( nullum crimen, nulla poena sine lege ) gehört zu den allgemeinen Rechtsgrundsätzen, die den gemeinsamen Verfassungstraditionen der Mitgliedstaaten zugrunde liegen, und wird außerdem durch verschiedene völkerrechtliche Verträge, vor allem durch Art. 7 Abs. 1 der Europäischen Menschenrechtskonvention, gewährleistet. Aus diesem Grundsatz folgt, dass das Gesetz klar die Straftaten und die für sie angedrohten Strafen definieren muss. Diese Voraussetzung ist erfüllt, wenn der Rechtsunterworfene anhand des Wortlauts der einschlägigen Bestimmung und nötigenfalls mit Hilfe ihrer Auslegung durch die Gerichte erkennen kann, welche Handlungen und Unterlassungen seine strafrechtliche Verantwortung begründen.
Insoweit ist Art. 2 Abs. 2 des Rahmenbeschlusses 2002/584 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten, soweit danach die Überprüfung des Vorliegens der beiderseitigen Strafbarkeit für die dort aufgeführten Arten von Straftaten abgeschafft wird, nicht wegen Verstoßes gegen den genannten Grundsatz der Gesetzmäßigkeit im Zusammenhang mit Straftaten und Strafen ungültig. Der Rahmenbeschluss ist nämlich nicht auf eine Angleichung der fraglichen Straftaten hinsichtlich ihrer Tatbestandsmerkmale oder der angedrohten Strafen gerichtet. Zwar schafft Art. 2 Abs. 2 des Rahmenbeschlusses die Überprüfung des Vorliegens der beiderseitigen Strafbarkeit für die dort aufgeführten Arten von Straftaten ab, doch bleibt für die Definition dieser Straftaten und der für sie angedrohten Strafen weiterhin das Recht des Ausstellungsmitgliedstaats maßgeblich, der, wie im Übrigen Art. 1 Abs. 3 des Rahmenbeschlusses bestimmt, die Grundrechte und die allgemeinen Rechtsgrundsätze, wie sie in Art. 6 EU niedergelegt sind, und damit den Grundsatz der Gesetzmäßigkeit im Zusammenhang mit Straftaten und Strafen zu achten hat.
(vgl. Randnrn. 49-50, 52-54)
4. Art. 2 Abs. 2 des Rahmenbeschlusses 2002/584 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten ist, soweit danach die Überprüfung des Vorliegens der beiderseitigen Strafbarkeit für die dort aufgeführten Arten von Straftaten abgeschafft wird, nicht wegen Verstoßes gegen den Grundsatz der Gleichheit und Nichtdiskriminierung ungültig.
Der Rat durfte nämlich, was zum einen die Auswahl der in dieser Bestimmung aufgelisteten 32 Arten von Straftaten angeht, auf der Grundlage des Prinzips der gegenseitigen Anerkennung und angesichts des hohen Maßes an Vertrauen und Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten davon ausgehen, dass die betroffenen Arten von Straftaten entweder bereits aufgrund ihrer Natur oder aufgrund der angedrohten Freiheitsstrafe im Höchstmaß von mindestens drei Jahren zu den Straftaten gehören, bei denen es aufgrund der Schwere der Beeinträchtigung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung gerechtfertigt ist, nicht auf der Überprüfung des Vorliegens der beiderseitigen Strafbarkeit zu bestehen. Daher ist die Unterscheidung jedenfalls selbst dann objektiv gerechtfertigt, wenn die Lage von Personen, die der Begehung von Straftaten, die in der Liste des Art. 2 Abs. 2 des Rahmenbeschlusses aufgeführt sind, verdächtigt werden oder wegen solcher Straftaten verurteilt worden sind, mit der Lage von Personen vergleichbar sein sollte, die anderer als in dieser Liste aufgeführter Straftaten verdächtigt werden oder wegen solcher Straftaten verurteilt worden sind.
Was zum anderen den Umstand angeht, dass die mangelnde Bestimmtheit in der Definition der fraglichen Arten von Straftaten zu einer unterschiedlichen Durchführung des Rahmenbeschlusses in den einzelnen nationalen Rechtsordnungen führen könnte, genügt der Hinweis, dass der Rahmenbeschluss nicht die Angleichung des materiellen Strafrechts der Mitgliedstaaten zum Ziel hat und dass keine der Bestimmungen des Titels VI des EU-Vertrags die Anwendung des Europäischen Haftbefehls von der Angleichung der strafrechtlichen Bestimmungen der Mitgliedstaaten im Bereich der betroffenen Straftaten abhängig macht.
(vgl. Randnrn. 57-60)