SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS

JÁN MAZÁK

vom 22. März 20071(1)

Rechtssache C‑195/05

Kommission der Europäischen Gemeinschaften

gegen

Italienische Republik

„Vertragsverletzung eines Mitgliedstaats – Umwelt – Richtlinie 75/442/EWG in der Fassung der Richtlinie 91/156/EG – Begriff ‚Abfall‘ – Nahrungsreste“





I –    Einführung

1.     Mit der vorliegenden Klage beantragt die Kommission festzustellen, dass die Italienische Republik dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus Art. 1 Buchst. a der Richtlinie 75/442/EWG des Rates vom 15. Juli 1975 über Abfälle(2) in der durch die Richtlinie 91/156/EWG des Rates vom 18. März 1991(3) geänderten Fassung (im Folgenden: Richtlinie 75/442) verstoßen hat, dass sie

–       für ihr gesamtes Hoheitsgebiet gültige Durchführungsanweisungen erlassen hat, die insbesondere im Runderlass des Umweltministeriums vom 28. Juni 1998 und im Runderlass des Gesundheitsministeriums vom 22. Juli 2002 ausführlich dargestellt sind, nach denen Nahrungsabfälle, die aus der landwirtschaftlichen Nahrungsmittelerzeugung stammen und für die Herstellung von Tierfutter bestimmt sind, von der Regelung über die Abfälle ausgenommen sind, und

–       durch Art. 23 des Gesetzes Nr. 179 vom 31. Juli 2002 die in Küchen jeglicher Art angefallenen Reste aus der Zubereitung fester, gekochter oder roher Nahrung, die noch nicht in den Vertrieb zur Auslieferung gelangt sind und für Haustierasyleinrichtungen bestimmt sind, von der Regelung über Abfälle ausgenommen hat.

2.     Wieder einmal liegt dem Gerichtshof hier eine Sache vor, in der es um den gemeinschaftlichen Abfallbegriff geht. Da es keine umfassende Definition des Ausdrucks „Abfall“ gibt und auch nicht geben kann und daher die Frage, ob ein bestimmter Stoff Abfall ist, unter Berücksichtigung aller Umstände des jeweiligen Einzelfalles zu entscheiden ist, wird der Gerichtshof sicherlich auch in Zukunft ausgiebig Gelegenheit haben, sich zur Bedeutung dieses Begriffs zu äußern.

3.     Die vorliegende Sache ist mit der Rechtssache C‑194/05, in der ich ebenfalls heute meine Schlussanträge stelle, insofern eng verknüpft, als sich in beiden Fällen die Frage stellt, inwieweit und unter welchen Voraussetzungen ein für bestimmte Zwecke wiederverwendeter Stoff nicht unter den Begriff „Abfall“ im Sinne der Richtlinie 75/442 zu subsumieren ist. In beiden Fällen geht es also um die Abgrenzung zwischen Abfallverwertung und üblicher industrieller Behandlung eines Produkts – genauer gesagt: Nebenprodukts –, das kein Abfall ist.

II – Rechtlicher Rahmen

A –    Richtlinie 75/442

4.     Gemäß Art. 1 Buchst. a der Richtlinie 75/442 bedeutet:

„a)      ‚Abfall‘: alle Stoffe oder Gegenstände, die unter die in Anhang I aufgeführten Gruppen fallen und deren sich ihr Besitzer entledigt, entledigen will oder entledigen muss.

Die Kommission erstellt nach dem Verfahren des Artikels 18 spätestens zum 1. April 1993 ein Verzeichnis der unter die Abfallgruppen in Anhang I fallenden Abfälle. Dieses Verzeichnis wird regelmäßig überprüft und erforderlichenfalls nach demselbem Verfahren überarbeitet“.

In Anhang I der Richtlinie 75/442 sind unter der Überschrift „Abfallgruppen“ als Gruppe Q 14 „Produkte, die vom Besitzer nicht oder nicht mehr verwendet werden (z. B. in der Landwirtschaft, den Haushaltungen, Büros, Verkaufsstellen, Werkstätten usw.)“, und als Gruppe Q 16 „Stoffe oder Produkte aller Art, die nicht einer der oben erwähnten Gruppen angehören“, aufgeführt.

5.     Das aktuelle Abfallverzeichnis, das die Kommission gemäß Art. 1 Buchst. a der Richtlinie 75/442 erstellt hat(4), nennt in Kapitel 02 (einem der Kapitel zur Bestimmung der Herkunft von Abfällen) „Abfälle aus der Landwirtschaft, dem Gartenbau, der Jagd, Fischerei und Teichwirtschaft, Herstellung und Verarbeitung von Nahrungsmitteln“.

B –    Nationale Regelung

6.     In Italien ist die Abfallbeseitigung in Decreto legislativo (Gesetzesdekret) Nr. 22 vom 5. Februar 1997(5) (im Folgenden: DL 22/97) geregelt.

7.     In Art. 6 Abs. 1 Buchst. a des DL 22/97 ist Abfall wie folgt definiert:

„Im Sinne dieses Dekrets bedeutet:

a)      ‚Abfall‘: alle Stoffe oder Gegenstände, die unter die in Anhang A aufgeführten Gruppen fallen und deren sich ihr Besitzer entledigt, entledigen will oder entledigen muss.“

8.     Nach Art. 8 Abs. 1 des DL 22/97 sind bestimmte Stoffe und Materialien vom Anwendungsbereich des Dekrets ausgenommen, sofern für sie besondere Rechtsvorschriften gelten; hierzu gehören unter Buchst. c „Tierkörper und folgende Abfälle aus der Landwirtschaft: Fäkalien und sonstige ungefährliche, natürliche Stoffe, die innerhalb der Landwirtschaft verwendet werden“.

9.     Durch Art. 23 des Gesetzes Nr. 179 vom 31. Juli 2002 (im Folgenden: Gesetz Nr. 179) wurde ein neuer Punkt (c-a) in Art. 8 Abs. 1 des DL 22/97 eingefügt. Danach fallen u. a. folgende Stoffe nicht in den Anwendungsbereich des Dekrets:

„die in Küchen jeglicher Art anfallenden Reste und Überschüsse aus der Zubereitung fester, gekochter oder roher Nahrung, die nicht in den Vertrieb gelangt und die in Einklang mit den geltenden Rechtsvorschriften für Haustierasyleinrichtungen im Sinne des Gesetzes Nr. 281 vom 14. August 1991 in der geänderten Fassung bestimmt sind“.

10.   Im Runderlass des Umweltministers Nr. 3402/V/IMIN vom 28. Juni 1999 (im Folgenden: Runderlass vom Juni 1999) ist der in Art. 6 des DL 22/97 verwendete Begriff „Abfall“ präzisiert; in Buchst. b des Schlussabsatzes heißt es:

„Die bei Herstellungs- oder Vorverbrauchszyklen anfallenden Materialien, Stoffe und Gegenstände, deren sich ihr Besitzer nicht entledigt, nicht entledigen muss und nicht entledigen will und die von ihrem Besitzer daher nicht zum Zwecke der Verwertung oder Beseitigung der Abfalleinsammlung, der Beförderung oder der Abfallbewirtschaftung zugeführt werden, unterliegen den Vorschriften über Rohstoffe und nicht den Abfallregelungen, wenn sie die Eigenschaften sekundärer Rohstoffe im Sinne des ministeriellen Dekrets vom 5. Februar 1998 aufweisen sowie objektiv und tatsächlich unmittelbar zur Verwendung in einem Herstellungszyklus bestimmt sind“.

11.   Darüber hinaus heißt es im Runderlass vom Juni 1999 unter Buchst. c des Schlussabsatzes:

„Konsumgüter, deren sich ihr Besitzer nicht entledigt, nicht entledigen muss und nicht entledigen will, unterliegen nicht der Abfallregelung, soweit sie für ihren ursprünglichen Zweck verwendet werden können und hiefür tatsächlich verwendet werden“.

12.   Mit Art. 14 des Decreto Legge Nr. 138 vom 8. Juli 2002, umgewandelt in Gesetz Nr. 178 vom 8. August 2002 (im Folgenden: Gesetz Nr. 178), wurden weitere Regeln zur Auslegung des Abfallbegriffs in DL 22/97 eingeführt. Darüber hinaus enthält der Runderlass des Gesundheitsministeriums vom 22. Juli 2002 (im Folgenden: Runderlass vom Juli 2002) einschlägige Leitlinien.

13.   Im Runderlass vom Juli 2002 ist u. a. bestimmt:

„Vorbehaltlich der Einhaltung der Gesundheits- und Hygienevorschriften sind Materialien und Nebenprodukte, die bei Bearbeitungsvorgängen in der landwirtschaftlichen Nahrungsmittelerzeugung anfallen, ‚Rohstoffe für Tierfutter‘, wenn der Erzeuger sie im tierzüchterischen Nahrungsmittelzyklus verwenden will.

In derartigen Fällen unterliegen diese Materialien nicht den abfallrechtlichen Vorschriften, sondern den Bestimmungen über die Erzeugung und Vermarktung von Tierfutter sowie, falls es sich um Erzeugnisse tierischen Ursprungs oder Erzeugnisse mit Inhaltsstoffen tierischen Ursprungs handelt, den einschlägigen geltenden Hygienevorschriften.

Liegen die [im vorstehenden Absatz] bezeichneten schriftlichen Nachweise über den tatsächlichen Verwendungszweck als Tierfutter nicht vor, müssen die im Produktions- und Wirtschaftskreislauf der Agrarnahrungsmittelindustrie anfallenden Materialien und Nebenprodukte den abfallrechtlichen Vorschriften unterworfen werden.“

III – Vorverfahren und gerichtliches Verfahren

14.   Mit Schreiben vom 11. und 19. Juni, 28. August und 6. November 2001 sowie 10. April 2002 beantworteten die italienischen Behörden ein Mahnschreiben der Kommission an Italien vom 22. Oktober 1999 und die mit Gründen versehene Stellungnahme vom 11. April 2001. In diesen Schriftstücken hatte die Kommission die Auffassung vertreten, die Italienische Republik habe dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus Richtlinie 75/442 verstoßen, dass sie verbindliche Durchführungsanweisungen über die Anwendung der italienischen Rechtsvorschriften über Abfall erlassen habe, nach denen bestimmte Nahrungsreste und -überschüsse, die aus der landwirtschaftlichen Nahrungsmittelerzeugung, aus Kantinen und Restaurants stammten und zur Verfütterung an Tiere bestimmt seien, nicht der nationalen Regelung über Abfälle unterlägen.

15.   Aufgrund der von den italienischen Behörden übermittelten Informationen gelangte die Kommission zu der Ansicht, dass es zur Anpassung der italienischen Vorschriften an die Anforderungen der mit Gründen versehenen Stellungnahme formaler Berichtigungen, nicht jedoch materiellrechtlicher Änderungen bedürfe.

16.   Auf dieser Grundlage übersandte die Kommission am 19. Dezember 2002 ein erneutes Mahnschreiben, zu dem sich die italienischen Behörden mit Schreiben vom 13. Februar 2002 äußerten. Die Kommission gab daraufhin am 11. Juli 2003 eine weitere mit Gründen versehene Stellungnahme ab und setzte Italien eine Frist von zwei Monaten, um seinen Verpflichtungen nachzukommen.

17.   Da die italienischen Behörden mit Schreiben vom 4. November 2003 die Argumentation der Kommission weiterhin anzweifelten, hat diese mit am 2. Mai 2005 bei der Kanzlei des Gerichtshofs eingegangener Klageschrift die vorliegende Klage erhoben.

IV – Analyse der behaupteten Vertragsverletzung

A –    Wesentliche Argumente der Verfahrensbeteiligten

18.   Mit ihrer Klage, die sich auf zwei Klagegründe stützt, macht die Kommission im Wesentlichen geltend, die streitigen italienischen Abfallvorschriften schlössen bestimmte Nahrungsabfälle auf der Grundlage gewisser gesetzlicher Vermutungen a priori von ihrem Anwendungsbereich aus. So gälten nach italienischem Recht bestimmte bei einem Herstellungsprozess anfallende Materialien nicht als Abfall, obwohl sie bei korrekter Anwendung des – weit zu verstehenden – Begriffs „Abfall“ in der Auslegung durch den Gerichtshof sehr wohl als solcher einzustufen seien.

19.   Gerügt wird zunächst die Tatsache, dass die zur Herstellung von Tierfutter vorgesehenen Nahrungsabfälle aus der landwirtschaftlichen Nahrungsmittelerzeugung durch bestimmte ministerielle Anweisungen praktisch von den abfallrechtlichen Vorschriften ausgenommen seien. Laut diesen Anweisungen sei für den dauerhaften Ausschluss der Abfallregelung lediglich erforderlich, dass solche Reste ausweislich der offenkundigen Absicht des Besitzers für die Herstellung von Tierfutter vorgesehen seien und dass sie bestimmte technische Eigenschaften aufwiesen.

20.   Allein das Bestehen der Möglichkeit, Produktionsreste ohne vorherige Bearbeitung wiederzuverwenden, schließt nach Auffassung der Kommission nicht zwangsläufig aus, dass der Erzeuger bzw. Besitzer sich ihrer entledigt, entledigen will oder entledigen muss.

21.   Die Kommission weist insbesondere darauf hin, dass nach ständiger Rechtsprechung Materialien oder Rohstoffe, die bei einem nicht hauptsächlich zu ihrer Gewinnung bestimmten Herstellungs- oder Abbauverfahren entstehen, nur unter der Voraussetzung, dass ihre Wiederverwendung ohne vorherige Bearbeitung und in Fortsetzung des Gewinnungsverfahrens gewiss ist, nicht Abfall, sondern ein Nebenprodukt darstellen können, dessen sich der Besitzer nicht im Sinne der Richtlinie 75/442 entledigen möchte(6).

22.   Deshalb müsse die Wahrscheinlichkeit, dass ein Stoff wiederverwendet wird, sowie vor allem die Frage beurteilt werden, ob die Wiederverwendung im gleichen Gewinnungsverfahren erfolgen solle. Der Übergang des Besitzes an den Nahrungsresten vom Nahrungsmittelerzeuger auf den Nutzer der Reste setze eine Reihe von Übertragungshandlungen voraus und beweise damit die Existenz verschiedener Vorgänge, die gerade mit der Richtlinie 75/442 geregelt werden sollten.

23.   In diesem Zusammenhang führt die Kommission aus, dass nach dem Gesetz Nr. 178 Produktionsrückstände auch dann nicht unter die italienische Regelung über Abfälle fielen, wenn sie im selben oder in einem anderen Herstellungszyklus wiederverwendet würden oder wiederverwendet werden könnten.

24.   Auf das Argument der italienischen Regierung, die streitigen Nahrungsmittel seien von einer Reihe italienischer Lebensmittelvorschriften erfasst, entgegnet die Kommission, dass keine dieser Vorschriften dem Umweltschutz diene, da darin lediglich vom Schutz der öffentlichen Gesundheit die Rede sei. Die Bestimmungen erfüllten auch nicht die Voraussetzungen, um als „andere Rechtsvorschriften“ im Sinne des Artikels 2 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 75/442 gelten zu können.

25.   Zweitens bemängelt die Kommission, Art. 23 des Gesetzes Nr. 179 habe zur Folge, dass die in Küchen jeglicher Art anfallenden Rückstände und Überschüsse aus der Zubereitung fester, gekochter oder roher Nahrung, die nicht in den Vertrieb gelangt und die für Haustierasyleinrichtungen bestimmt seien, vom Anwendungsbereich der in DL 22/97 enthaltenen italienischen Regelung über Abfälle ausgenommen seien. Die Kommission macht geltend, Art. 23 des Gesetzes Nr. 179 erweitere auf diese Weise die Ausschlusstatbestände auf Materialien, die nicht automatisch von dem in der Richtlinie 75/442 definierten Abfallbegriff ausgenommen werden dürften.

26.   Das Vorbringen der italienischen Regierung, dass es bei Zugrundelegung der von der Kommission befürworteten Auslegung zu einer vermehrten Erzeugung und Beseitigung von Nahrungsabfällen käme, weil die Wiederverwendung der fraglichen Nahrungsmittel verhindert würde, weist die Kommission zurück. Das Problem, dass die Nahrungsmittel mit einem für Abfall zugelassenen Fahrzeug befördert werden müssten, entstehe erst aufgrund italienischen Rechts.

27.   Die italienische Regierung führt an, dass vorbehaltlich der Einhaltung der relevanten Gesundheits- und Hygienevorschriften Materialien und Nebenprodukte, die bei Bearbeitungsvorgängen in der landwirtschaftlichen Nahrungsmittelindustrie anfielen, „Rohstoffe für Tierfutter“ seien, wenn der Erzeuger sie im tierzüchterischen Nahrungsmittelzyklus verwenden wolle. Eine derartige Absicht in Kombination mit der Gewissheit, dass für die Wiederverwendung der Nebenprodukte keine vorherige Bearbeitung erforderlich sei bzw. dass lediglich eine nach dem geltenden gemeinschaftlichen oder nationalen Recht zulässige Bearbeitung durchgeführt werde, sei hinreichender Beweis dafür, dass der Erzeuger oder Besitzer sich des fraglichen Materials nicht entledigen wolle.

28.   Nach Ansicht des italienischen Regierung handelt es sich hier keinesfalls um einen Ausschluss „a priori“, der Ausnahmetatbestand sei vielmehr an Voraussetzungen geknüpft; Vorbedingung sei nicht nur die offenkundige Absicht, die in Rede stehenden Rohstoffe im tierzüchterischen Nahrungsmittelzyklus zu verwenden, sondern auch die Gewissheit der Wiederverwendung der Nebenprodukte.

29.   Die italienische Regierung hebt hervor, dass die streitigen Materialien nicht den Vorschriften über Abfall, sondern vielmehr den Bestimmungen über Erzeugung und Vermarktung von Tierfutter unterlägen. Sie verweist insofern auf mehrere gemeinschaftliche und nationale Rechtsakte.(7) Diese lebensmittelrechtlichen Bestimmungen dienten ebenso wie die Richtlinie 75/442 zur Regelung der Lagerungs-, Bearbeitungs- und Beförderungsvorgänge und seien, indem sie angemessenen Gesundheitsschutz gewährleisteten, dazu geeignet, die Umwelt zu schützen. Insbesondere im Rahmen der nationalen Vorschriften über Lebensmittel und Futtermittel sei es möglich, Erzeugnisse und Rohstoffe für Futtermittel vom Erzeugerbetrieb durch alle Transportphasen hindurch zu verfolgen.

30.   Die italienische Regierung macht ferner geltend, entgegen der von der Kommission vorgetragenen Auslegung des Abfallbegriffs müsse die fragliche Produktionskette richtigerweise als ein einheitlicher Herstellungsprozess betrachtet werden. Insofern sei die jüngste Rechtsprechung des Gerichtshofs zu beachten, wonach die Einstufung eines Stoffes als Abfall im Sinne der Richtlinie 75/442 ausscheiden könne, wenn dieser Stoff mit Gewissheit für die Erfordernisse anderer Gewerbetreibender als des Erzeugers des Stoffes verwendet werde.(8)

31.   Der Ansatz der Kommission führe paradoxerweise zu dem Ergebnis, dass die Verwendung von Nahrungsnebenerzeugnissen bei der Herstellung von Futtermitteln verhindert werde, weil sie nämlich nach den italienischen Rechtsvorschriften gerade deshalb nicht bei dem Futtermittelherstellungsbetrieb angeliefert werden könnten, weil sie in zur Abfallbeförderung zugelassenen Fahrzeugen transportiert würden. Die Auslegung der Kommission hätte daher eine vermehrte Erzeugung und Beseitigung von Nahrungsabfällen zur Folge, weil deren Wiederverwendung als Futtermittel verhindert würde.

32.   Was den zweiten Klagegrund der Kommission anbetreffe, so müsse der Besitzer bzw. Erzeuger den Behörden – anhand von Belegen über den tatsächlichen Verwendungszweck, also etwa durch den Vertrag zwischen dem Besitzer und dem Nutzer der Materialien oder gegebenenfalls durch fiskalische Unterlagen – nachweisen, dass er nicht beabsichtige, sich der Teilrückstände oder Nahrungsmittelüberschüsse zu entledigen, sondern dass er diese vielmehr in einer nach den nationalen Rechtsvorschriften zulässigen Weise wiederverwenden wolle. Darüber hinaus sei der tatsächliche Bestimmungszweck der Nahrungsnebenerzeugnisse durch die Vorschriften über die Sicherheit von Lebensmitteln und von Futtermitteln garantiert.

33.   Schließlich weist die italienische Regierung darauf hin, dass es im vorliegenden Fall um Nahrungsmittelüberschüsse und nicht um „Produktionsrückstände“ gehe.

B –    Würdigung

34.   Die Kommission begründet ihre Einwände gegen die italienischen Abfallvorschriften, wie sie laut einer Reihe ministerieller Anweisungen auszulegen seien, im Wesentlichen damit, dass diese einen zu allgemeinen Ausnahmetatbestand für bestimmte Stoffe vorsähen, nämlich für Nahrungsabfälle aus der landwirtschaftlichen Nahrungsmittelerzeugung sowie für die in Küchen anfallenden Reste bzw. Überschüsse aus der Nahrungszubereitung, die nicht in den Vertrieb gelangt und die entweder zur Herstellung von Futtermitteln oder direkt zur Verfütterung an Haustiere in Tierheimen bestimmt seien.

35.    Die Meinungsverschiedenheit zwischen der Kommission und der italienischen Regierung betrifft sowohl die richtige Auslegung des Begriffs „Abfall“ in der Richtlinie 75/442 selbst als auch die Frage, ob die italienischen Rechtsvorschriften im Hinblick auf die im vorliegenden Fall streitigen Stoffe mit dieser Begriffsbestimmung zu vereinbaren sind. Dementsprechend werde ich mich zunächst mit der Auslegung des Abfallbegriffs im Allgemeinen befassen, um dann in einem zweiten Schritt zu untersuchen, ob die Klage der Kommission in diesem Verfahren über einen Verstoß gegen die Richtlinie 75/442 begründet ist.

1.      Vorbemerkungen zur Begriffsbestimmung „Abfall“ in der Richtlinie 75/442 nach Präzisierung durch die Rechtsprechung des Gerichtshofs

36.   Das Problem bei dem Versuch, den Begriff „Abfall“ zu definieren, wurzelt darin, dass es sich um ein äußerst relatives Konzept handelt. Gemeinhin verstehen wir unter „Abfall“ Stoffe oder Materialien, die wir nicht mehr haben wollen, weil sie unbrauchbar oder – noch allgemeiner ausgedrückt – wertlos geworden sind oder weil sie aus irgendeinem Grunde niemals wertvoll für uns waren. Ebenso, wie Materialien oder Gegenständen kein Wert an sich „innewohnt“, sondern dieser sozusagen erst in den Augen des Betrachters entsteht, gibt es jedenfalls praktisch keinen Stoff, der stets und unter allen Umständen als Abfall zu betrachten wäre.

37.   Dass es sich um einen subjektiven Begriff handelt, lässt sich auch an der Formulierung in der Richtlinie 75/442 erkennen, in der „Abfall“ definiert ist als „alle Stoffe oder Gegenstände, die unter die in Anhang I aufgeführten Gruppen fallen und deren sich ihr Besitzer entledigt, entledigen will oder entledigen muss“ (Hervorhebung nur hier).

38.   Danach ist davon auszugehen, dass kein Stoff von Natur aus Abfall ist, sondern erst dadurch zu Abfall wird, dass sich der Besitzer des Stoffes entledigt, entledigen will oder entledigen muss. Dementsprechend hat der Gerichtshof bereits entschieden, dass Anhang I der Richtlinie 75/442 wie auch der EAK diese Definition durch die Aufstellung von Verzeichnissen von Stoffen und Gegenständen, die als Abfälle eingestuft werden können, erläutern und verdeutlichen, dass diese Verzeichnisse jedoch nicht abschließend festlegen, ob ein bestimmter Stoff Abfall im Sinne der Richtlinie 75/442 ist(9).

39.   Auf der gleichen Linie liegt die Feststellung des Gerichtshofs, dass die Durchführung eines in Anhang II A oder Anhang II B der Richtlinie 75/442 aufgeführten Verfahrens für sich allein nicht erlaubt, einen Stoff oder einen Gegenstand als Abfall einzustufen, und dass umgekehrt der Begriff „Abfall“ auch Stoffe und Gegenstände erfasst, die einen Handelswert haben oder zur weiteren wirtschaftlichen Verwendung geeignet sind.(10)

40.   Daher hängt der Anwendungsbereich des Begriffs „Abfall“ letztlich stets von der Bedeutung des Ausdrucks „sich entledigen“ ab(11), der im Licht der Zielsetzung der Richtlinie 75/442, die im Schutz der menschlichen Gesundheit und der Umwelt gegen nachteilige Auswirkungen der Sammlung, Beförderung, Behandlung, Lagerung und Ablagerung von Abfällen besteht, und ferner im Licht von Art. 174 Abs. 2 EG auszulegen ist, wonach die Umweltpolitik der Gemeinschaft auf ein hohes Schutzniveau abzielt und namentlich auf den Grundsätzen der Vorsorge und Vorbeugung beruht. Aus diesen Zielsetzungen und Zwecken folgt darüber hinaus, dass der Begriff „Abfall“ nicht eng ausgelegt werden kann(12).

41.   Selbstverständlich kann die Feststellung, ob ein Sichentledigen oder eine Entledigungsabsicht auf Seiten des Besitzers vorliegt, rechtlich nicht nach dem „tatsächlichen Willen“ des Besitzers oder auf der Grundlage seiner Aussage hinsichtlich seiner Absichten getroffen werden.(13) Vielmehr ist die Frage, ob ein bestimmter Stoff Abfall ist, anhand sämtlicher Umstände zu beurteilen; dabei ist die vorstehend genannte Zielsetzung der Richtlinie 75/442 zu berücksichtigen und darauf zu achten, dass deren Wirksamkeit nicht beeinträchtigt wird(14).

42.   Für diese Beurteilung hat der Gerichtshof eine Reihe von Kriterien und Anhaltspunkten benannt, anhand deren sich der Wille des Besitzers auslegen lässt.(15) Dabei lässt der Gerichtshof jedoch einmal mehr den wahrhaft scholastischen Charakter des Begriffs „Abfall“ erkennen, denn obwohl die vom Gerichtshof bezeichneten Anhaltspunkte darauf hindeuten können, dass sich der Besitzer des Stoffes bzw. Gegenstandes im Sinne der Richtlinie 75/442 entledigt, entledigen will oder entledigen muss, sind diese Anhaltspunkte als solche doch nicht immer entscheidend(16).

43.   Die Einstufung eines Stoffes bzw. Gegenstands als Abfall ist daher letzten Endes eine Frage der Indizien. Dementsprechend hat der Gerichtshof in seiner Rechtsprechung versucht, die Umstände näher zu beschreiben, unter denen es zulässig ist, von einer Entledigungsabsicht des Besitzers auszugehen.

44.   Eine Entledigungsabsicht des Besitzers lässt sich besonders dann schwer feststellen, wenn die bei einem Herstellungs- oder Abbauverfahren anfallenden Gegenstände, Materialien oder Rohstoffe in der einen oder anderen Form in einem anschließenden Verfahren verwendet werden. Grundsätzlich können diese Materialien entweder als Produktionsrückstände betrachtet werden, die anschließend im Wege der Wiederverwendung im Sinne von Art. 3 Abs. 1 Buchst. b und Anhang II B der Richtlinie 75/442 als Abfall verwertet werden, oder als genuine Erzeugnisse, die kein Abfall sind und einer gewöhnlichen industriellen Behandlungen unterzogen werden(17).

45.   Wie der Gerichtshof entschieden hat, stellt insoweit der Umstand, dass der verwendete Stoff ein Produktionsrückstand ist, d. h. ein Erzeugnis, das der Erzeuger nicht als solches hauptsächlich zu gewinnen sucht oder anstrebt, grundsätzlich einen Anhaltspunkt dafür dar, dass der Besitzer sich dieses Stoffes entledigt oder entledigen will(18). Dies gilt ebenso für Verbrauchsrückstände(19).

46.   Andererseits ist es nach ständiger Rechtsprechung aber auch möglich, dass ein Gegenstand, ein Material oder ein Rohstoff, der oder das bei einem nicht hauptsächlich zu seiner Gewinnung bestimmten Herstellungsverfahren oder Abbau entsteht, keinen Rückstand, sondern ein Nebenerzeugnis darstellen kann, dessen sich das Unternehmen nicht im Sinne von Art. 1 Buchst. a Unterabs. 1 der Richtlinie 75/442 „entledigen“ will, sondern den oder das es unter Umständen, die für es vorteilhaft sind, in einem späteren Vorgang ohne vorherige Bearbeitung nutzen oder vermarkten will(20).

47.   Allerdings hat der Gerichtshof diese Argumentation in Anbetracht der Verpflichtung, den Begriff „Abfall“ weit auszulegen, in Bezug auf Nebenerzeugnisse, um die mit deren Wesen verbundenen Unzuträglichkeiten oder Beeinträchtigungen einzudämmen, auf die Sachverhalte begrenzt, bei denen die Wiederverwendung eines Gegenstands, eines Materials oder eines Rohstoffs nicht nur möglich, sondern ohne vorherige Bearbeitung in Fortsetzung des Gewinnungsverfahrens gewiss ist. Der Gerichtshof zieht daher den Grad der Wahrscheinlichkeit der Wiederverwendung des betreffenden Stoffes als ein maßgebliches Kriterium für die Beurteilung der Frage heran, ob es sich bei diesem Stoff um Abfall handelt(21).

48.   Zur Verdeutlichung der Konsequenzen dieses Ansatzes sei noch einmal an die relevantesten Rechtssachen zu diesem Thema erinnert.

49.   In der Rechtssache AvestaPolarit unterschied der Gerichtshof zwischen Bergbaurückständen, die ohne vorherige Bearbeitung im Gewinnungsverfahren zur erforderlichen Auffüllung der Grubenstollen verwendet werden, und sonstigen Rückständen. Der Gerichtshof stufte die erstgenannten Rückstände als Nebenprodukte ein, deren sich der Besitzer nicht entledigt oder entledigen will, und stellte dabei auf die Tatsache ab, dass das Auffüllen der Grubenstollen ein notwendiger Vorgang im eigentlichen Bergbau ist und der Besitzer dieser Rückstände sie daher für seine Haupttätigkeit braucht(22).

50.   Im Beschluss Saetti und Frediani führte der Gerichtshof aus, dass Petrolkoks, der absichtlich erzeugt wird oder aus der gleichzeitigen Erzeugung anderer brennbarer Erdölderivate in einer Erdölraffinerie stammt und mit Gewissheit als Brennstoff für den Energiebedarf der Raffinerie und anderer Gewerbetreibender verwendet wird, keinen Abfall im Sinne der Richtlinie 75/442 darstellt(23). Der Gerichtshof verwies darauf, dass die Erzeugung von Koks das Ergebnis einer technischen Entscheidung für die Verwendung eines bestimmten Brennstoffs ist(24).

51.   Schließlich entschied der Gerichtshof in den Rechtssachen C‑416/02 und C‑121/03, dass bei Dung eine Einstufung als Abfall ausscheiden kann, wenn er im Rahmen einer rechtmäßigen Ausbringungspraxis auf genau bestimmten Geländen als Dünger für die Böden verwendet wird und nur für die Erfordernisse dieser Ausbringungen gelagert wird(25). In den genannten Fällen zog der Gerichtshof aus der Tatsache, dass die Jauche ausweislich der Verfahrensunterlagen als landwirtschaftlicher Dünger verwendet wurde, den Rückschluss, dass sich der Betriebsleiter der Jauche nicht entledigen wollte(26).

52.   Diesen Fällen ist im Wesentlichen Folgendes gemeinsam: Die Begleitumstände deuten darauf hin, dass das betreffende Material für den Besitzer eher einen Vorteil oder wirtschaftlichen Wert darstellt als eine Last, deren er sich zu entledigen sucht, weil das Erzeugnis für die Haupttätigkeit notwendig oder zumindest brauchbar ist, sei es als Füllmaterial, als Dünger oder als Brennstoff zur Deckung des Energiebedarfs einer Raffinerie(27).

53.   Zu beachten ist in diesem Zusammenhang die von der Rechtsprechung aufgestellte Voraussetzung, dass Nebenerzeugnisse in Fortsetzung des Gewinnungs- oder Nutzungsverfahrens wiederverwendet werden müssen(28).

54.   Im Beschluss Saetti und Frediani sowie in den Urteilen C‑416/02 und C‑121/03 bestätigte der Gerichtshof zwar diese Voraussetzung, stellte allerdings auch fest, dass die Einstufung eines Stoffes als Abfall ausscheiden kann, wenn dieser Stoff mit Gewissheit für die Erfordernisse anderer Gewerbetreibender als des Erzeugers des Stoffes verwendet wird.(29) Für die erforderliche Gewissheit der Wiederverwendung kommt es daher offenbar maßgeblich darauf an, dass der Stoff von seinem Besitzer ohne vorherige Bearbeitung in Fortsetzung des Gewinnungsverfahrens wiederverwendet wird, jedoch ist – wie sich zum Beispiel aus der Rechtssache AvestaPolarit(30) ergibt – nicht unbedingt notwendig, dass die Wiederverwendung für die Erfordernisse des Erzeugers selbst erfolgt.

55.   Zugegebenermaßen mag es im konkreten Einzelfall schwierig sein, die Grenzen der „Fortsetzung“ des Gewinnungsverfahrens oder der Nutzung zu bestimmen. Ich wiederhole jedoch nochmals, dass hinter all diesen Begriffen die Frage steht, ob es Anhaltspunkte dafür gibt, dass der Besitzer den betreffenden Stoff unter Umständen, die für ihn vorteilhaft sind, in einem Vorgang, der sich an die Gewinnung anschließt, nutzen oder vermarkten will, so dass der Stoff einen wirtschaftlichen Wert darstellt und keine Last, deren der Besitzer sich zu entledigen sucht.

2.      Vorliegen des behaupteten Verstoßes

56.   Was die streitigen Materialien im vorliegenden Fall anbetrifft, so fällt mir zunächst auf, dass nicht alle fraglichen Nahrungsmittel bei näherer Betrachtung als „Produktionsrückstände“ gelten können. Nahrungsrückstände aus der landwirtschaftlichen Nahrungsmittelerzeugung, aus Kantinen oder Restaurants sind ganz eindeutig zumindest teilweise Verbrauchsrückstände, d. h. Rückstände, die nicht an sich aus einem Herstellungs- oder Gewinnungsverfahren, sondern deshalb entstehen, weil das Haupterzeugnis nicht zur Gänze verbraucht worden ist. Diese Überlegung gilt umso mehr, als in Art. 23 des Gesetzes Nr. 179 von „Überschüssen“ aus Zubereitungen in Küchen die Rede ist.

57.   Dieses Ergebnis bezüglich Nebenprodukten, deren sich ihr Besitzer nicht entledigen will, gilt nach den Ausführungen des Gerichtshofs im Urteil Niselli jedoch nicht „für Verbrauchsrückstände, die nicht als in Fortsetzung des Gewinnungsverfahrens wieder verwendbare Nebenprodukte eines Herstellungs- oder Abbauverfahrens angesehen werden können“(31).

58.   Ich habe daher schon von vornherein Schwierigkeiten, derartige Materialien als „Nebenprodukte“ eines Herstellungs- oder Abbauverfahrens zu betrachten.

59.   Gleichviel, ob die betreffenden Nahrungsreste nun Verbrauchsrückstände oder gegebenenfalls Küchenabfälle im klassischen Sinne sind: Tatsache bleibt, dass – wie sich aus den Verfahrensunterlagen ergibt – diese Reste aus der Zubereitung von Nahrung oder aus zubereiteter Nahrung stammen, die für den menschlichen Verzehr bestimmt ist. Diese Reste werden anschließend entweder zur Herstellung von Futtermitteln oder direkt zur Verfütterung an Haustiere in Tierheimen verwendet.

60.   Ich stimme der Kommission zu, dass diese Sachlage von den oben beschriebenen Fällen(32) abzugrenzen ist, in denen der Gerichtshof zu dem Ergebnis gekommen ist, dass ein aus einem Herstellungs- oder Abbauverfahren stammendes Material ein Nebenprodukt ist, dessen sich der Besitzer nicht entledigen will.

61.   Selbstverständlich kann man nicht generell behaupten, dass die fraglichen Nahrungsreste als solche – zumindest als nebenbei anfallende Erzeugnisse – angestrebt wären oder dass sie in irgendeiner Weise für die Haupttätigkeit, die offenkundig in der Herstellung und Zubereitung von Nahrung für den menschlichen Verzehr besteht, gebraucht würden oder nützlich wären.

62.   Aus der Tatsache, dass sich die nach den streitigen italienischen Rechtsvorschriften vorgesehenen Ausnahmetatbestände auf Nahrungsreste oder -überschüsse beziehen, die sogar auf vertraglicher Grundlage als Futtermittel oder zur Herstellung von Futtermitteln wiederverwendet werden sollen, folgt meiner Meinung nach auch nicht automatisch, dass der Besitzer diese Stoffe als „Rohstoffe für Futtermittel“ unter Umständen, die für ihn vorteilhaft sind, vermarktet. Tatsächlich geht weder aus diesen nationalen Bestimmungen noch aus den Verfahrensunterlagen klar hervor, dass bei der Wiederverwendung ein Vorteil entsteht, der über die bloße Möglichkeit für den Besitzer, sich auf diese Weise der betreffenden Stoffe zu entledigen, hinaus geht.

63.   Bei realistischerer Sicht der Dinge muss man meiner Meinung nach eher zu dem Ergebnis kommen, dass bei einem Sachverhalt wie dem vorliegenden der Besitzer der Nahrungsreste sich ihrer in der Regel entledigt oder entledigen will und dass sie später als Abfälle im Wege der Rückführung oder Wiederverwendung im Sinne von Art. 3 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 75/442 verwertet werden. Dem ist hinzuzufügen, dass in Anhang II B der Richtlinie 75/442, in dem die Verwertungsverfahren aufgeführt sind, u. a. auch die Verwertung und Rückgewinnung organischer Stoffe erwähnt ist.

64.   Dieses Ergebnis scheint auch eher im Einklang mit der Verpflichtung zu stehen, den Begriff „Abfall“ in der Richtlinie 75/442 weit auszulegen(33).

65.   Aber selbst wenn die Nahrungsreste, auf die sich die italienischen Ministerialanweisungen und Art. 23 des Gesetzes Nr. 179 beziehen, im Einzelfall nicht als Stoffe, deren sich ihr Besitzer entledigt oder entledigen will, sondern als Nebenprodukte einzustufen wären, so kann dies, wie die Kommission zutreffend ausführt, jedenfalls nicht generell und a priori angenommen werden.

66.   Im Endergebnis ist daher festzustellen, dass die italienische Regelung über Abfälle dazu führt, dass Produktions- oder Verbrauchsrückstände, die unter den Begriff „Abfall“ im Sinne der Richtlinie 75/442 fallen, nicht als Abfall eingestuft werden.

67.   Soweit die im italienischen Recht vorgesehenen Ausnahmetatbestände über zur Wiederverwendung bestimmte Nahrungsreste praktisch einer Vermutung gleichkommen, dass derartige Stoffe kein Abfall im Sinne der Richtlinie 75/442 sind, ist zu beachten, dass die Verwendung von Beweisformen wie gesetzlichen Vermutungen, die dazu führen würden, dass der Geltungsbereich der Richtlinie eingeschränkt würde und Stoffe oder Erzeugnisse, die der Bestimmung des Begriffs „Abfall“ im Sinne der Richtlinie entsprechen, nicht erfasst wären, die Wirksamkeit von Art. 174 des Vertrags und der Richtlinie beeinträchtigen würden(34).

68.   Die italienische Regierung macht darüber hinaus geltend, dass Nahrungsreste, die zur Herstellung oder Zubereitung von Futtermitteln bestimmt seien, bereits einer Reihe von nationalen und gemeinschaftlichen Rechtsvorschriften über Lebensmittelsicherheit sowie über Erzeugung und Vermarktung von Futtermitteln unterlägen(35).

69.   Hierzu ist zunächst zu bemerken, dass derartige Rückstände nur dann aus dem Anwendungsbereich der Richtlinie 75/442 ausscheiden könnten, wenn sie unter eine der in Art. 2 Abs. 1 der Richtlinie aufgeführten Abfallgruppen fielen.

70.   Das ist hier meiner Meinung nach nicht der Fall. Von den in der genannten Bestimmung aufgeführten Materialien kommen die in Buchst. b Punkt iii) genannten „Tierkörper“ den in Rede stehenden Rückständen noch am nächsten. Aber selbst soweit die fraglichen Nahrungsreste Stoffe tierischen Ursprungs enthalten, lässt sich nicht ernsthaft behaupten, es handele sich um „Tierkörper“ in Sinne dieser Vorschrift.

71.   Zweitens ist daran zu erinnern, dass nach ständiger Rechtsprechung unter den Begriff „andere Rechtsvorschriften“ im Sinne von Art. 2 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 75/442 andere gemeinschaftliche oder nationale Rechtsvorschriften fallen, sofern sie die Bewirtschaftung der Abfälle als solche betreffen und zu einem Umweltschutzniveau führen, das dem mit der Richtlinie angestrebten zumindest gleichwertig ist(36).

72.   Die einzelnen von der italienischen Regierung angeführten Regelungen zielen indessen eindeutig nicht auf die Bewirtschaftung von Abfällen als solchen ab, sondern vielmehr auf die Lebensmittelsicherheit und insbesondere auf die Gewährleistung bestimmter Gesundheits- und Hygienestandards bei der Erzeugung und Vermarktung von Futtermitteln. Die mit diesen Vorschriften verfolgten Ziele und geschützten Rechtsgüter mögen sich daher mit denen der Richtlinie 75/442 zwar teilweise überschneiden, unterscheiden sich von diesen jedoch erheblich.

73.   Aus genau diesem Grund schließen sich die in der Richtlinie 75/442 vorgesehenen Kontroll- und Schutzregelungen einerseits und die Rechtsvorschriften über Lebensmittelsicherheit und Futtermittel andererseits meiner Meinung nach im Allgemeinen auch nicht gegenseitig aus, sondern sie können ganz im Gegenteil grundsätzlich nebeneinander angewendet werden.

74.   Was die Argumentation der italienischen Regierung anbetrifft, dass die Wiederverwendung von Nahrungsresten als Tierfutter verhindert würde, weil die Rückstände in für die Beförderung von Abfällen zugelassenen Fahrzeugen transportiert werden müssten, die nicht den erforderlichen Hygieneanforderungen entsprächen, so weist die Kommission zu Recht darauf hin, dass Ursache dieses Problems die italienischen Rechtsvorschriften und nicht die Bestimmungen der Richtlinie 75/442 sind.

75.   Die Richtlinie 75/442 schreibt nicht vor, dass alle Abfälle mit den gleichen Fahrzeugen befördert werden müssen; vielmehr bedürfen die Anlagen oder Unternehmen, die Abfälle einsammeln und befördern, einer Genehmigung oder sie müssen gemeldet sein, und die Abfallbeseitigung und -verwertung muss gemäß der Richtlinie 75/442 erfolgen. Insbesondere können Nahrungsreste entweder von dem früheren Besitzer bzw. Erzeuger oder von dem Unternehmen befördert werden, das den Abfall verwertet, vorausgesetzt, der Beförderer ist gemeldet bzw. besitzt eine Genehmigung(37).

76.   Nach alldem komme ich daher zu dem Ergebnis, dass die Klage der Kommission begründet ist.

V –    Ergebnis

77.   Demgemäß schlage ich dem Gerichtshof vor,

1.      festzustellen, dass die Italienische Republik dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus Art. 1 Buchst. a der Richtlinie 75/442/EWG des Rates vom 15. Juli 1975 über Abfälle in der durch die Richtlinie 91/156/EWG des Rates vom 18. März 1991 geänderten Fassung verstoßen hat, dass sie für ihr gesamtes Hoheitsgebiet gültige Durchführungsanweisungen erlassen hat, die insbesondere im Runderlass des Umweltministeriums vom 28. Juni 1998 und im Runderlass des Gesundheitsministeriums vom 22. Juli 2002 ausführlich dargestellt sind, nach denen Nahrungsabfälle, die aus der landwirtschaftlichen Nahrungsmittelerzeugung stammen und für die Herstellung von Tierfutter bestimmt sind, von der Regelung über Abfälle ausgenommen sind, und durch Art. 23 des Gesetzes Nr. 179 vom 31. Juli 2002 die in Küchen jeglicher Art angefallenen Reste aus der Zubereitung fester, gekochter oder roher Nahrung, die noch nicht in den Vertrieb zur Auslieferung gelangt sind und für Haustierasyleinrichtungen bestimmt sind, von der Regelung über Abfälle ausgenommen hat;

2.      der Italienischen Republik die Kosten des Verfahrens aufzuerlegen.


1 – Originalsprache: Englisch.


2 – ABl. L 194, S. 39.


3 – ABl. L 78, S. 32.


4 – Entscheidung 2000/532/EG der Kommission vom 3. Mai 2000 zur Ersetzung der Entscheidung 94/3/EG über ein Abfallverzeichnis gemäß Art. 1 Buchst. a) der Richtlinie 75/442/EWG des Rates über Abfälle und der Entscheidung 94/904/EG des Rates über ein Verzeichnis gefährlicher Abfälle im Sinne von Art. 1 Abs. 4 der Richtlinie 91/689/EWG über gefährliche Abfälle (ABl. L 226, S. 3) (im Folgenden: Europäischer Abfallkatalog oder EAK).


5 – GURI Nr. 38 vom 15. Februar 1997, Supplemente ordinario Nr. 33.


6 – Insbesondere Urteile des Gerichtshofs vom 18. April 2002, Palin Granit (C‑9/00, Slg. 2002, I‑3533), und vom 11. November 2004, Niselli (C‑457/02, Slg. 2004, I‑10853).


7 – Insbesondere Verordnung (EG) Nr. 178/2002 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 28. Januar 2002 zur Festlegung der allgemeinen Grundsätze und Anforderungen des Lebensmittelrechts, zur Errichtung der Europäischen Behörde für Lebensmittelsicherheit und zur Festlegung von Verfahren zur Lebensmittelsicherheit (ABl. L 31, S. 1), Verordnung (EG) Nr. 1774/2002 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 3. Oktober 2002 mit Hygienevorschriften für nicht für den menschlichen Verzehr bestimmte tierische Nebenprodukte (ABl. L 273, S. 1) sowie die Vorschriften über Gefahrenanalyse und Bestimmung der kritischen Kontrollpunkte (HACCP) in der Verordnung (EG) Nr. 852/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 über Lebensmittelhygiene (ABl. L 139, S. 1), der Verordnung (EG) Nr. 853/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 mit spezifischen Hygienevorschriften für Lebensmittel tierischen Ursprungs (ABl. L 139, S. 55) und der Verordnung (EG) Nr. 854/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 mit besonderen Verfahrensvorschriften für die amtliche Überwachung von zum menschlichen Verzehr bestimmten Erzeugnissen tierischen Ursprungs (ABl. L 139, S. 206), Verordnung (EG) Nr. 183/2005 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12. Januar 2005 mit Vorschriften für die Futtermittelhygiene (ABl. L 35, S. 1) sowie Verordnung (EG) Nr. 882/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 über amtliche Kontrollen zur Überprüfung der Einhaltung des Lebensmittel- und Futtermittelrechts sowie der Bestimmungen über Tiergesundheit und Tierschutz (ABl. L 165, S. 1).


8 – Urteile vom 8. September 2005, Kommission/Spanien (C‑416/02, Slg. 2005, I‑7487), und vom 8. September 2005, Kommission/Spanien (C‑121/03, Slg. 2005, I‑7569).


9 – Vgl. u. a. Urteil Palin Granit, in Fn. 6 angeführt, Randnr. 22.


10 – Ebd., Randnrn. 27 und 29.


11 – Ebd., Randnr. 22, und Urteil Kommission/Spanien (C‑121/03, in Fn. 8 angeführt, Randnr. 57).


12 – Vgl. u. a. die in Fußnote 6 angeführten Urteile Palin Granit, Randnrn. 22 und 23, und Niselli, Randnr. 33.


13 – Vgl. in diesem Sinne die Schlussanträge von Generalanwalt Alber vom 8. Juni 1999 in den verbundenen Rechtssachen ARCO Chemie Nederland u. a. (C‑418/97 und C‑419/97, Slg. 2000, I‑4475, Nr. 59).


14 – Vgl. u. a. Urteil Palin Granit, in Fn. 6 angeführt, Randnr. 24.


15 – Ebd., Randnr. 25.


16 – Vgl. in diesem Sinne u. a. Beschluss des Gerichtshofs vom 15. Januar 2004, Saetti und Frediani (C‑235/02, Slg. 2004, I‑1005, Randnr. 40).


17 – Vgl. in diesem Sinne bereits Urteil des Gerichtshofs vom 18. Dezember 1997, Inter-Environnement Wallonie (C‑129/96, Slg. 1997, I‑7411, Randnr. 33).


18 – U. a. Urteil des Gerichtshofs vom 15. Juni 2000, ARCO Chemie (C‑418/97 und C‑419/97, Slg. 2000, I‑4475, Randnrn. 83 und 84) sowie Urteil Palin Granit, in Fn. 6 angeführt, Randnr. 32.


19 – Vgl. Urteil Niselli, in Fn. 6 angeführt, Randnr. 43.


20 – U. a. Urteil Kommission/Spanien (C‑121/03, in Fn. 8 angeführt, Randnr. 58).


21 – Vgl. u. a. Beschluss Saetti und Frediani, in Fn. 16 angeführt, Randnr. 37, und Urteil Niselli, in Fn. 6 angeführt, Randnrn. 45 und 46.


22 – Urteil vom 11. September 2003 (C‑114/01, Slg. 2003, I‑8725, Randnrn. 35 bis 37).


23 – Beschluss Saetti und Frediani, in Fn. 16 angeführt, Randnr. 47.


24 – Ebd., Randnr. 45.


25 – In Fn. 8 angeführte Urteile Kommission/Spanien (C‑416/02, Randnr. 89) und Kommission/Spanien (C‑121/03, Randnr. 60).


26 – In Fn. 8 angeführte Urteile Kommission/Spanien (C‑416/02, Randnr. 94) und Kommission/Spanien (C‑121/03, Randnr. 65).


27 – Anders gelagert war der Fall hingegen in der Rechtssache Palin Granit, in der der Gerichtshof aus dem Betrieb eines Steinbruchs stammendes Bruchgestein als bei der Förderung anfallende Rückstände und daher als Abfall betrachtete; dabei wies der Gerichtshof darauf hin, dass die dauerhaften Lagerungen eine Belastung für den Besitzer darstellen und möglicherweise Umweltschäden verursachen können, die die Richtlinie 75/442 gerade begrenzen soll. Vgl. Urteil Palin Granit, in Fn. 6 angeführt, Randnrn. 38 und 39.


28 – Vgl. insoweit Urteil Niselli, in Fn. 6 angeführt, Randnrn. 47 und 52, und Urteil Kommission/Spanien (C‑416/02, in Fn. 8 angeführt, Randnr. 87).


29 – Beschluss Saetti und Frediani, in Fn. 16 angeführt; in Fn. 8 angeführte Urteile Kommission/Spanien (C‑416/02, Randnr. 90) und Kommission/Spanien (C‑121/03, Randnr. 61). In der Rechtssache Saetti und Frediani wurde der Koks als Brennstoff zur Energieerzeugung im Gewinnungsverfahren verwendet und die dabei entstehende überschüssige Strommenge an andere Gewerbetreibende oder an eine Elektrizitätsgesellschaft verkauft. In den beiden letztgenannten Fällen wurde der Dung auf einem Gelände ausgebracht, das nicht zu dem landwirtschaftlichen Betrieb gehörte, der den Dung produziert hatte.


30 – In Fn. 22 angeführt.


31 – Vgl. Urteil Niselli, in Fn. 6 angeführt, Randnr. 48.


32 – Siehe oben, Nrn. 49 bis 52.


33 – Vgl. u. a. Urteil Niselli, in Fn. 6 angeführt, Randnr. 45.


34 – Vgl. in diesem Sinne Urteil ARCO Chemie, in Fn. 13 angeführt, Randnr. 42.


35 – Siehe oben, Nr. 29 und Fn. 7.


36 – U. a. Urteil AvestaPolarit, in Fn. 22 angeführt, Randnr. 61. Vgl. zudem für eine enge Auslegung des Begriffs der Tierkörper im Sinne von Art. 2 Abs. 1 Buchst. b Ziff. ii der Richtlinie Urteil vom 13. März 2007, KVZ retec (C‑176/05, Slg. 2007, I‑0000, insbesondere Randnr. 46).


37 – Zur Meldepflicht siehe das Urteil des Gerichtshofs vom 9. Juni 2005, Kommission/Italien (C‑270/03, Slg. 2005, I‑5233).