SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS

PAOLO MENGOZZI

vom 18. Januar 20071(1)

Rechtssache C‑127/05

Kommission der Europäischen Gemeinschaften

gegen

Vereinigtes Königreich Großbritannien und Nordirland

„Richtlinie 89/391/EWG – Sicherheit und Gesundheitsschutz der Arbeitnehmer – Pflichten der Arbeitgeber, für Sicherheit und Gesundheitsschutz der Arbeitnehmer in Bezug auf alle Aspekte, die die Arbeit betreffen, zu sorgen – Haftung des Arbeitgebers“





I –    Einleitung

1.        Im vorliegenden Verfahren klagt die Kommission der Europäischen Gemeinschaften beim Gerichtshof auf Feststellung, dass das Vereinigte Königreich gegen seine Pflichten gemäß Art. 5 Abs. 1 und 4 der Richtlinie 89/391/EWG des Rates vom 12. Juni 1989 über die Durchführung von Maßnahmen zur Verbesserung der Sicherheit und des Gesundheitsschutzes der Arbeitnehmer bei der Arbeit(2) verstoßen hat, indem es die Pflicht des Arbeitgebers, für die Sicherheit und den Gesundheitsschutz der Arbeitnehmer in Bezug auf alle Aspekte, die die Arbeit betreffen, zu sorgen, auf die Pflicht begrenzt hat, dies zu tun, soweit es in der Praxis vertretbar ist.

II – Rechtlicher Rahmen der Vorabentscheidung

A –    Die Richtlinie 89/391

2.        Die Richtlinie 89/391, auch „Rahmenrichtlinie“ genannt, die zur Durchführung des Dritten Aktionsprogramms der Kommission für Sicherheit, Arbeitshygiene und Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz vom 21. Dezember 1987(3) auf der Grundlage des Art. 118a EG-Vertrag (die Art. 117 bis 120 EG-Vertrag sind durch die Art. 136 bis 143 EG ersetzt worden) erlassen worden ist, legt allgemeine Grundsätze für die Verhütung berufsbedingter Gefahren und für die Sicherheit und den Gesundheitsschutz der Arbeitnehmer, darunter den Plan der technischen Harmonisierung der Sicherheitsvorschriften innerhalb der Gemeinschaft, fest (im Folgenden: Rahmenrichtlinie). Der allgemeine Geltungsbereich der Rahmenrichtlinie ergibt sich neben Art. 1 Abs. 2, der ihren Inhalt festlegt, aus ihrem Art. 16: Dieser sieht zunächst in Abs. 1 vor, dass der Rat auf der Grundlage eines auf Art. 118a des Vertrags beruhenden Vorschlags der Kommission Richtlinien für einzelne Bereiche (sog. „Einzelrichtlinien“)(4) erlässt, um dann in Abs. 3 festzulegen, dass „[d]ie Bestimmungen dieser Richtlinie … uneingeschränkt für alle Bereichen [gelten], die unter die Einzelrichtlinie fallen [und] gegebenenfalls bestehende strengere bzw. spezifische Bestimmungen in diesen Einzelrichtlinien … unberührt [bleiben]“.

3.        Dies vorausgeschickt sind nunmehr vor allem der Wortlaut des Art. 188a EG, dann die Vorschriften der Rahmenrichtlinie, die im Rahmen des vorliegenden Verfahrens von Bedeutung sind, sowie in großen Zügen dessen Entstehung in Erinnerung zu rufen.

4.        Art. 118a EG-Vertrag, der durch Art. 21 der Einheitlichen Europäische Akte in den Vertrag eingefügt wurde, weist dem Bereich der Sicherheit bei der Arbeit im Rahmen der Sozialpolitik der Gemeinschaft besondere und eigenständige Bedeutung zu. Er bot die Rechtsgrundlage für den Erlass der sogenannten Richtlinien „der zweiten Generation“, die nicht mehr wie die voraufgegangenen auf die Art. 100 oder 100a des EG-Vertrags gestützt waren, die für eine extensive Regelung des Bereichs wegen der Zweckbindung – Eignung für die Verwirklichung und das Funktionieren des Binnenmarktes –, die sie für die Akte vorschrieben, die auf ihrer Grundlage erlassen wurden(5), schlecht geeignet waren.

5.        Gemäß Art. 118a Abs. 1 EG-Vertrag bemühen sich „[d]ie Mitgliedstaaten …, die Verbesserung insbesondere der Arbeitsumwelt zu fördern, um die Sicherheit und die Gesundheit der Arbeitnehmer zu schützen, und setzten sich die Harmonisierung der in diesem Bereich bestehenden Bedingungen bei gleichzeitigem Fortschritt zum Ziel“. Als Beitrag zur Verwirklichung dieses Ziels legt Abs. 2 dieses Artikels fest, dass der Rat gemäß dem in der Vorschrift angegebenen Verfahren „unter Berücksichtigung der in den einzelnen Mitgliedstaaten bestehenden Bedingungen und technischen Regelungen durch Richtlinie Mindestvorschriften [erlässt], die schrittweise anzuwenden sind“ und die „keine verwaltungsmäßigen, finanziellen oder rechtlichen Auflagen vorschreiben [sollen], die der Gründung und Entwicklung von Klein- und Mittelbetrieben entgegenstehen“. Abs. 3 stellt schließlich klar, dass „[d]ie aufgrund dieses Artikels erlassenen Bestimmungen … die einzelnen Mitgliedstaaten nicht daran [hindern], Maßnahmen zum verstärkten Schutz der Arbeitsbedingungen beizubehalten oder zu treffen, die mit diesem Vertrag vereinbar sind“.

6.        Die Rahmenrichtlinie gliedert sich in vier Abschnitte. Abschnitt 1 mit der Überschrift „Allgemeine Bestimmungen“ weist vier Artikel auf. Die Art. 1 und 2 grenzen jeweils Ziel und Anwendungsbereich der Richtlinie ab, während Art. 3 die Begriffe Arbeitnehmer, Arbeitgeber, Arbeitnehmervertreter und Gefahrenverhütung definiert. Art. 3 Buchst. b definiert insbesondere als Arbeitgeber „jede natürliche oder juristische Person, die als Vertragspartei des Beschäftigungsverhältnisses mit dem Arbeitnehmer die Verantwortung für das Unternehmen bzw. den Betrieb trägt“. Art. 4 Abs. 1 bestimmt, dass „[d]ie Mitgliedstaaten … die erforderlichen Vorkehrungen treffen, um zu gewährleisten, dass die Arbeitgeber, die Arbeitnehmer und die Arbeitnehmervertreter den für die Anwendung dieser Richtlinie erforderlichen Rechtsvorschriften unterliegen“.

7.        Abschnitt 2 mit der Überschrift „Pflichten des Arbeitgebers“ besteht aus acht Artikeln. Art. 5 regelt als „Allgemeine Vorschrift“ in Abs. 1 die Pflicht des Arbeitgebers wie folgt:

„Der Arbeitgeber ist verpflichtet, für die Sicherheit und den Gesundheitsschutz der Arbeitnehmer in Bezug auf alle Aspekte, die die Arbeit betreffen, zu sorgen.“

8.        Abs. 2 und 3 des Art. 5 lauten:

„(2) Zieht ein Arbeitgeber in Anwendung von Art. 7 Abs. 3 außerbetriebliche Fachleute (Personen oder Dienste) hinzu, so enthebt ihn dies nicht seiner diesbezüglichen Verantwortung.

(3) Die Pflichten der Arbeitnehmer in Fragen der Sicherheit und des Gesundheitsschutzes am Arbeitsplatz berühren nicht den Grundsatz der Verantwortung des Arbeitgebers.“

9.        Art. 5 Abs. 4 bestimmt schließlich, dass die Richtlinie „nicht der Befugnis der Mitgliedstaaten entgegen[steht], den Ausschluss oder die Einschränkung der Verantwortung des Arbeitgebers bei Vorkommnissen vorzusehen, die auf nicht von diesem zu vertretende anormale und unvorhersehbare Umstände oder auf außergewöhnliche Ereignisse zurückzuführen sind, deren Folgen trotz aller Sorgfalt nicht hätten vermieden werden können“. Unterabs. 2 des Art. 5 Abs. 4 stellt klar, dass „[d]ie Mitgliedstaaten … nicht verpflichtet [sind], von der in Unterabs. 1 genannten Möglichkeit Gebrauch zu machen“.

10.      Der Inhalt der Sicherheitspflicht des Arbeitgebers wird in den folgenden Art. 6 bis 12 der Rahmenrichtlinie näher bestimmt.

11.      Für die Untersuchung in der vorliegenden Rechtssache sind insbesondere von Bedeutung die Bestimmungen des Art. 6 mit der Überschrift „Allgemeine Pflichten des Arbeitgebers“, der wie folgt lautet:

„(1) Im Rahmen seiner Verpflichtungen trifft der Arbeitgeber die für die Sicherheit und den Gesundheitsschutz der Arbeitnehmer erforderlichen Maßnahmen, einschließlich der Maßnahmen zur Verhütung berufsbedingter Gefahren, zur Information und zur Unterweisung sowie der Bereitstellung einer geeigneten Organisation und der erforderlichen Mittel.

Der Arbeitgeber muss darauf achten, dass diese Maßnahmen entsprechend den sich ändernden Gegebenheiten angepasst werden, und er muss eine Verbesserung der bestehenden Arbeitsbedingungen anstreben.

(2) Der Arbeitgeber setzt die Maßnahmen nach Abs. 1 Unterabs. 1 ausgehend von folgenden allgemeinen Grundsätzen der Gefahrenverhütung um:

a)      Vermeidung von Risiken;

b)      Abschätzung nichtvermeidbarer Risiken;

c)      Gefahrenbekämpfung an der Quelle;

d)      Berücksichtigung des Faktors ‚Mensch’ bei der Arbeit, insbesondere bei der Gestaltung von Arbeitsplätzen sowie bei der Auswahl von Arbeitsmitteln und Arbeits- und Fertigungsverfahren, vor allem im Hinblick auf eine Erleichterung bei eintöniger Arbeit und bei maschinenbestimmtem Arbeitsrhythmus sowie auf eine Abschwächung ihrer gesundheitsschädigenden Auswirkungen;

e)      Berücksichtigung des Stands der Technik;

f)      Ausschaltung oder Verringerung von Gefahrenmomenten;

g)      Planung der Gefahrenverhütung mit dem Ziel einer kohärenten Verknüpfung von Technik, Arbeitsorganisation, Arbeitsbedingungen, sozialen Beziehungen und Einfluss der Umwelt auf den Arbeitsplatz;

h)      Vorrang des kollektiven Gefahrenschutzes vor individuellem Gefahrenschutz;

i)      Erteilung geeigneter Anweisungen an die Arbeitnehmer.

(3) Unbeschadet der anderen Bestimmungen dieser Richtlinie hat der Arbeitgeber je nach Art der Tätigkeiten des Unternehmens bzw. Betriebs folgende Verpflichtungen:

a)      Beurteilung von Gefahren für Sicherheit und Gesundheit der Arbeitnehmer, unter anderem bei der Auswahl von Arbeitsmitteln, chemischen Stoffen oder Zubereitungen und bei der Gestaltung der Arbeitsplätze.

Die vom Arbeitgeber aufgrund dieser Beurteilung getroffenen Maßnahmen zur Gefahrenverhütung sowie die von ihm angewendeten Arbeits- und Produktionsverfahren müssen erforderlichenfalls

–      einen höheren Grad an Sicherheit und einen besseren Gesundheitsschutz der Arbeitnehmer gewährleisten;

–      in alle Tätigkeiten des Unternehmens bzw. des Betriebes und auf allen Führungsebenen einbezogen werden;

b)      bei Übertragung von Aufgaben an einen Arbeitnehmer Berücksichtigung der Eignung dieses Arbeitnehmers in Bezug auf Sicherheit und Gesundheit;

c)      bei der Planung und Einführung neuer Technologien sind die Arbeitnehmer bzw. ihre Vertreter zu den Auswirkungen zu hören, die die Auswahl der Arbeitsmittel, die Gestaltung der Arbeitsbedingungen und die Einwirkung der Umwelt auf den Arbeitsplatz für die Sicherheit und Gesundheit der Arbeitnehmer haben;

d)      es ist durch geeignete Maßnahmen dafür zu sorgen, dass nur die Arbeitnehmer, die ausreichende Anweisungen erhalten haben, Zugang zu den Bereichen mit ernsten und spezifischen Gefahren haben.

(4) Unbeschadet der übrigen Bestimmungen dieser Richtlinie müssen die Arbeitgeber für den Fall, dass an einem Arbeitsplatz Arbeitnehmer mehrerer Unternehmen anwesend sind, bei der Durchführung der Sicherheits-, Hygiene- und Gesundheitsschutzbestimmungen zusammenarbeiten, je nach Art der Tätigkeiten beim Gefahrenschutz und bei der Verhütung berufsbedingter Gefahren ihre Tätigkeiten koordinieren und sich gegenseitig sowie ihre jeweiligen Arbeitnehmer bzw. deren Vertreter über diese Gefahren informieren.

(5) Die Kosten für die Sicherheits-, Hygiene- und Gesundheitsschutzmaßnahmen dürfen auf keinen Fall zu Lasten der Arbeitnehmer gehen.“

12.      Die Art. 7 ff. legen dem Arbeitgeber spezifischere Pflichten auf wie die Einrichtung von mit Schutzmaßnahmen und Maßnahmen zur Gefahrenverhütung beauftragten Diensten (Art. 7), Maßnahmen der Ersten Hilfe, Brandbekämpfung, Evakuierung der Arbeitnehmer und der Vorbeugung bei ernsten und unmittelbare Gefahren (Art. 8), Evaluierung der Gefahren für die Sicherheit und die Gesundheit am Arbeitsplatz und Festlegung der durchzuführenden Schutzmaßnahmen und der zu verwendenden Schutzmittel (Art. 9) sowie Pflichten der Unterrichtung, der Anhörung und Beteiligung sowie der Unterweisung der Arbeitnehmer (Art. 10, 11 und 12).

13.      Abschnitt 3 der Rahmenrichtlinie besteht aus einem einzigen Artikel, der die Pflichten der Arbeitnehmer bei der Sorge für die Sicherheit regelt (Art. 13).

14.      Abschnitt 4 der Richtlinie schließlich enthält „Sonstige Bestimmungen“, darunter den bereits genannten Art. 16(6). Gemäß Art. 18 erlassen „[d]ie Mitgliedstaaten … die erforderlichen Rechts- und Verwaltungsvorschriften, um dieser Richtlinie spätestens am 31. Dezember 1992 nachzukommen“.

B –    Die nationalen Rechtsvorschriften

15.      Das Vereinigte Königreich ist das erste Industrieland, das Gesetze über Sicherheit und Gesundheitsschutz der Arbeitnehmer erlassen hat. Der erste Factory Act, mit dem die Minderjährigenarbeit geregelt werden sollte, geht auf 1802 zurück; ihm folgten zahlreiche Maßnahmen des Gesetzgebers, die zunächst auf besondere Gruppen von Arbeitnehmern und bestimmte Wirtschaftsbereiche beschränkt waren und später mit dem Factory and Workshop Act 1878 auf den gesamten Industriebereich ausgedehnt wurden.

16.      In der Absicht der Vereinheitlichung der Normsetzung im Bereich der Unfallbekämpfung, die durch Fragmentarismus und einen von Pragmatismus geprägten Gesetzgebungsstil gekennzeichnet war, wurde 1970 eine Kommission unter dem Vorsitz von Lord Robens gebildet, die 1972 einen Bericht mit mehreren Empfehlungen vorlegte, auf deren Grundlage der Health and Safety at Work Act 1974 (im Folgenden: HSW Act) verabschiedet wurde.

17.      Der HSW Act bildet den Eckpfeiler des gesamten britischen Systems der Sicherheit am Arbeitsplatz. Es handelt sich im Kern um ein im Lauf der Jahre mehrfach geändertes Rahmengesetz, das Mindestvorschriften für alle Arbeitnehmer unabhängig vom Tätigkeitsbereich festlegt. Auf der Grundlage des HSW Act sind im Verordnungswege verschiedene Akte zur Ergänzung der durch ihn vorgegebenen Regelungsbereichs erlassen worden.

18.      An dieser Stelle ist darauf hinzuweisen, dass die Umsetzung der Richtlinie 89/391 im britischen Recht zu begrenzten Eingriffen der Gesetzgebung geführt hat, und zwar entweder, weil das geltende System grosso modo als im Einklang mit den Vorschriften der Richtlinie stehend angesehen wurde, oder wegen des ausdrücklichen politischen Willens der damaligen konservativen Regierung, die Auswirkung der Richtlinie – und ganz allgemein der Gemeinschaftseingriffe im Bereich der Sozialpolitik – auf die innerstaatliche Rechtsordnung auf ein Minimum zu begrenzen.

19.      Bezüglich der Vorschriften, durch die im britischen Recht die Anpassung an die Vorschriften des Art. 5 Abs. 1 der Rahmenrichtlinie vollzogen wurde, verweist die beklagte Regierung auf Section 2 des HSW Act mit der Überschrift „General duties of employers to their employees“, deren Abs. 1 wie folgt lautet:

„It shall be the duty of every employer to ensure, so far as is reasonably practicable, the health, safety and welfare at work of all his employees.“

20.      Abs. 2 dieser Section führt in nicht abschließender Weise einige besondere Pflichten an, die dem Arbeitgeber auf Grund seiner Pflicht zur Wahrung der Sicherheit obliegen, wie sie in dem vorgenannten Absatz allgemein festgelegt ist. Er lautet:

„Without prejudice to the generality of an employer’s duty under the preceding subsection, the matters to which that duty extends include in particular:

a)      the provision and maintenance of plant and systems of work that are, so far as is reasonably practicable, safe and without risks to health;

b)      arrangements for ensuring, so far as is reasonably practicable, safety and absence of risk to health in connection with the use, handling, storage and transport of articles and substances;

c)      the provision of such information, instruction, training and supervision as is necessary to ensure, so far as is reasonably practicable, the health and safety at work of his employees;

d)      so far as is reasonably practicable as regards any place of work under the employer’s control, the maintenance of it in a condition that is safe and without risks to health and the provision and maintenance of means of access to and egress from it that are safe and without such risks;

e)      the provision and maintenance of a working environment for his employees that is, so far as is reasonably practicable, safe, without risks to health, and adequate as regards facilities and arrangements for their welfare at work.“

21.      Verletzungen der dem Arbeitgeber durch Section 2 auferlegten Pflichten werden gemäß Section 33 (1) (a) und Section 47 (1) (a) des HSW Act strafrechtlich geahndet.

22.      Bei Arbeitsunfällen oder Berufskrankheiten werden die Opfer aufgrund der Vorschriften des Industrial Injury Act entschädigt, der aus allgemeinen Steuern und daher beitragsfrei finanziert wird.

23.      Wenn auch ferner gemäß Section 47 (1) HSW Act die Verletzung der Pflichten aus Section 2 HSW Act keine zivilrechtliche Haftung des Arbeitgebers auslöst, ist diese doch in verschiedenen Vorschriften der Management of Health and Safety Regulations 1999 vorgesehen, mit denen einige Bestimmungen der Rahmenrichtlinie und der Tochterrichtlinien(7) umgesetzt worden sind.

24.      Schließlich entspricht die Pflicht des Arbeitgebers zum Ersatz der Schäden infolge der Verletzung seiner Sorgfaltspflicht gegenüber den Arbeitnehmern einem Grundsatz des Common Law.

25.      Seit 1972 sind kraft des Employer’s Liability (compulsory insurance) Act 1969 die Arbeitgeber größtenteils verpflichtet, für ihre zivilrechtliche Haftung zur Deckung der Schäden aus Arbeitsunfällen und Berufskrankheiten eine Pflichtversicherung abzuschließen,

26.      Ein ähnliches System wie das vorstehend dargestellte gilt in Nordirland(8).

III – Vorverfahren

27.      Am 29. September 1997 übersandte die Kommission dem Vereinigten Königreich ein Mahnschreiben, in dem sie gegenüber diesem Mitgliedstaat eine Reihe von Beanstandungen bezüglich der Umsetzung der Rahmenrichtlinie in das britische Recht äußerte. Dazu gehörte die fehlerhafte Umsetzung des Art. 5 dieser Richtlinie wegen u. a. der Einfügung der Klausel „so far as is reasonably practicable“ („soweit dies in der Praxis vertretbar ist“, im Folgenden: SFAIRP-Klausel) in die maßgeblichen innerstaatlichen Rechtsvorschriften, die nach Auffassung der Kommission entgegen Art. 5 Abs. 1 dieser Richtlinie den Umfang der Pflicht des Arbeitgebers nach dieser Vorschrift beschränkte.

28.      In Bezug auf diese Beanstandung antwortete das Vereinigte Königreich in zwei Schreiben vom 30. Dezember 1997 und 23. Oktober 2001 auf das Mahnschreiben und übersandte mehrere Urteile nationaler Gerichte, aus denen sich nach Meinung dieses Mitgliedstaats die Übereinstimmung der besagten Klausel mit Art. 5 der Rahmenrichtlinie ergab.

29.      Da sie von den Argumenten des Vereinigten Königreichs nicht überzeugt war, übersandte die Kommission diesem Mitgliedstaat am 25. Juli 2003 eine mit Gründen versehene Stellungnahme, in der, soweit es für das vorliegende Verfahren von Bedeutung ist, die Verletzung des Art. 5 der Rahmenrichtlinie aus den bereits im Mahnschreiben genannten Gründen beanstandet wurde. Die Kommission forderte das Vereinigte Königreich auf, dieser Stellungnahme binnen zwei Monaten nachzukommen. Auf Antrag des Vereinigten Königreichs wurde diese Frist auf vier Monate verlängert.

30.      Das Vereinigte Königreich antwortete mit Schreiben vom 24. November 2003 auf die mit Gründen versehene Stellungnahme und bestritt die angebliche Verletzung des Art. 5 der Rahmenrichtlinie.

IV – Anträge der Parteien

31.      Mit Klageschrift, die am 21. März 2005 bei der Kanzlei des Gerichtshofs eingegangen ist, hat die Kommission gemäß Art. 226 EG die Klage erhoben, um die es im vorliegenden Verfahren geht.

32.      Die Kommission beantragt,

–        festzustellen, dass das Vereinigte Königreich dadurch gegen seine Pflichten gemäß Art. 5 Abs. 1 und 4 der Rahmenrichtlinie verstoßen hat, dass es die Pflicht des Arbeitgebers, für die Sicherheit und den Gesundheitsschutz der Arbeitnehmer in Bezug auf alle Aspekte, die die Arbeit betreffen, zu sorgen, auf das vernünftigerweise Praktikable begrenzt hat,

–        dem Vereinigten Königreich die Kosten des Verfahrens aufzuerlegen.

33.      Das Vereinigte Königreich beantragt,

–        die Klage abzuweisen,

–        der Kommission die Kosten des Verfahrens aufzuerlegen.

V –    Untersuchung

A –    Vorbringen der Parteien

34.      Für die Kommission stellt Art. 5 Abs. 1 der Rahmenrichtlinie, der den Grundsatz festlegt, dass der Arbeitgeber verpflichtet ist, Sicherheit und Gesundheitsschutz der Arbeitnehmer in Bezug auf alle Aspekte, die die Arbeit betreffen, sicherzustellen, den Angelpunkt des in dieser Richtlinie verankerten Schutzsystems dar. Nach ihrem Verständnis dieser Vorschrift ist der Arbeitgeber für jedes Ereignis innerhalb seines Unternehmens, das der Gesundheit und der Sicherheit der Arbeitnehmer abträglich ist, verantwortlich; eine Ausnahme hiervon sei einzig in den Fällen denkbar, die in Art. 5 Abs. 4 der Rahmenrichtlinie ausdrücklich angeführt seien. Die letztgenannte Vorschrift müsse als Ausnahme vom allgemeinen Grundsatz der Haftung des Arbeitgebers eng ausgelegt werden.

35.      Die Kommission macht geltend, die von ihr vertretene Auslegung des Art. 5 der Rahmenrichtlinie werde durch die vorbereitenden Arbeiten bestätigt, denen die klare Absicht des Gemeinschaftsgesetzgebers zu entnehmen sei, den Arbeitgeber einer verschuldensunabhängigen Haftung zu unterstellen, die nur unter den in Abs. 4 dieses Artikels geregelten außergewöhnlichen Umständen ausgeschlossen oder beschränkt sein könne. Diese Auslegung werde ferner dadurch bestätigt, dass im Gegensatz zu den vor der Einfügung des Art. 118a in den EG-Vertrag erlassenen Richtlinien im Bereich der Sicherheit und Gesundheit der Arbeitnehmer, die bei der Festlegung der Pflichten des Arbeitgebers die SFAIRP-Klausel berücksichtigt hätten, die Richtlinien der „neuen Generation“, darunter die Rahmenrichtlinie, die auf der Grundlage dieses Artikels erlassen worden seien, diese Klausel endgültig aufgegeben hätten.

36.      Zwar stimme sie mit dem Vereinigten Königreich darin überein, dass Art. 5 Abs. 1 der Rahmenrichtlinie den Arbeitgebern nicht vorschreibe, ein absolut sicheres Arbeitsumfeld sicherzustellen, doch unterscheide sich ihr Denkansatz von dem des Vereinigten Königreichs in den Folgen, die an die Feststellung der Unmöglichkeit geknüpft seien, ein solches Ergebnis zu erzielen. Die Festlegung der Sicherheitspflicht des Arbeitgebers in Worten, die keine Ausnahme zuließen, bedeute, dass dieser, wann immer Vorbeugemaßnahmen fehlschlügen, auf jeden Fall für die entsprechenden Auswirkungen auf die Gesundheit der Arbeitnehmer objektiv verantwortlich sei.

37.      Nach Auffassung der Kommission ist das hilfsweise Vorbringen des Vereinigten Königreichs, die SFAIRP-Klausel sei mit der Gesamtregelung der Abs. 1 und 4 des Art. 5 der Rahmenrichtlinie vereinbar, zurückzuweisen.

38.      Die Kommission weist hierzu darauf hin, dass Art. 5 Abs. 4 entgegen dem Vorbringen des Vereinigten Königreichs keine Ausnahme vom Grundsatz der Haftung des Arbeitgebers aufgrund des Kriteriums der Vertretbarkeit einführe, sondern sich darauf beschränke, Fälle festzulegen, in denen dieser ausnahmsweise von der Haftung befreit werde; diese Fälle könnten leicht auf den Haftungsausschlussgrund der höheren Gewalt zurückgeführt werden.

39.      Der Rechtsprechung der britischen Gerichte sei zu entnehmen, dass der Ausgleich der Interessen, den die Gerichte bei Anwendung der SFAIRP-Klausel vornehmen müssten, in allen Fällen stattzufinden habe, in denen es um die Haftung des Arbeitgebers gehe, selbst wenn die der Gesundheit der Arbeitnehmer abträglichen Ereignisse durch den Eintritt von Umständen verursacht worden seien, die vollkommen vorhersehbar gewesen seien. Da es keinerlei Definition der streitigen Klausel gebe, die den Rückgriff auf sie einzig den Fallgestaltungen vorbehalte, in denen die Schäden für die Gesundheit der Arbeitnehmer durch unvorhersehbare Umstände und außergewöhnliche Ereignisse verursacht worden seien, noch eine Rechtsprechung, der entnommen werden könne, dass diese Klausel vom Arbeitgeber als Verteidigungsmittel nur bei Vorliegen solcher Umstände oder Ereignisse geltend gemacht werden könne, sei sie der Auffassung, dass ihre Anwendung in der britischen Rechtsordnung nicht erlaube, zu dem von der Gesamtregelung der Abs. 1 und 4 von Art. 5 der Rahmenrichtlinie geforderten Ergebnis zu gelangen.

40.      Die Kommission stellt ebenfalls heraus, dass die Bewertung, die auf der Grundlage der SFAIRP-Klausel vorgenommen werden müsse, die Berücksichtigung der Kosten der Vorbeugemaßnahmen erforderlich mache, was in offenkundigem Widerspruch zur Aussage des dreizehnten Erwägungsgrundes der Rahmenrichtlinie stehe, wonach „[d]ie Verbesserung von Sicherheit, Arbeitshygiene und Gesundheitsschutz der Arbeitnehmer am Arbeitsplatz … Zielsetzungen dar[stellen], die keinen rein wirtschaftlichen Überlegungen untergeordnet werden dürfen“.

41.      Nach Auffassung des Vereinigten Königreichs legt zwar Art. 5 Abs. 1 der Rahmenrichtlinie auf der einen Seite den Arbeitgeber als das Rechtssubjekt fest, dem in erster Linie die Pflicht zur Sicherstellung der Sicherheit und des Gesundheitsschutzes der Arbeitnehmer bei der Arbeit obliegt, und definiert gemeinsam mit den Art. 6 bis 12 dieser Richtlinie und entsprechend dem allgemeinen Grundsatz der Verhältnismäßigkeit den Umfang dieser Pflicht, sagt aber auf der anderen Seite nichts zur Natur der Verantwortlichkeit des Arbeitgebers aus, wenn er dieser nicht nachkommt. Diese Frage sei den Mitgliedstaaten wegen ihrer Pflicht überlassen, die Maßnahmen zu erlassen, die erforderlich sind, um die Anwendung und Wirksamkeit des Gemeinschaftsrechts sicherzustellen; Art. 4 der Rahmenrichtlinie bringe dies besonders zum Ausdruck.

42.      Zum Umfang der Pflicht des Arbeitgebers nach Art. 5 Abs. 1 der Rahmenrichtlinie legt das Vereinigte Königreich dar, diese Pflicht sei zwar einschränkungslos formuliert, lege aber dem Arbeitgeber keine Ergebnispflicht auf, eine von jedem Risiko freie Arbeitsumwelt sicherzustellen.

43.      Diese Auslegung stimme nicht nur mit den Vorschriften der Rahmenrichtlinie überein, die die in diesem Artikel festgelegte Pflicht konkretisieren sollten, insbesondere mit Art. 6 Abs. 2, der dem Arbeitgeber die Pflicht zur „Vermeidung oder Beschränkung von Risiken“ oder zur „Ausschaltung oder Verringerung von Gefahrenmomenten“(9) auferlege, sondern auch mit verschiedenen Vorschriften der „Tochterrichtlinien“, die, wenn sie die zu ergreifenden Vorbeugungsmaßnahmen für besondere Produktionsbereiche festlegten, auf Erwägungen der „Praktikabilität“ oder der „Angemessenheit“ solcher Maßnahmen abstellten. Diese Auslegung sei gleichfalls mit dem allgemeinen Grundsatz der Verhältnismäßigkeit und mit Art. 118a EG‑Vertrag vereinbar, der die Rechtsgrundlage der Rahmenrichtlinie sei und dem zufolge die auf seiner Grundlage erlassenen Richtlinien „Mindestvorschriften“ enthalten sollten, „die schrittweise anzuwenden sind“.

44.      Zur Haftung des Arbeitgebers weist das Vereinigte Königreich darauf hin, dass nichts in der Rahmenrichtlinie und zumal in Art. 5 Abs. 1 die Annahme nahe lege, dass der Arbeitgeber einer verschuldensunabhängigen Haftung unterworfen sein müsse. Erstens sehe dieser Artikel lediglich die Pflicht vor, die Sicherheit und den Gesundheitsschutz der Arbeitnehmer sicherzustellen, und nicht auch die Pflicht, die Schäden auszugleichen, die bei Unfällen an der Arbeitsstätte entstünden. Zweitens überlasse die Rahmenrichtlinie den Mitgliedstaaten die Entscheidung, welche Form der Verantwortlichkeit, die zivil- oder die strafrechtliche, dem Arbeitgeber aufzuerlegen sei. Drittens bleibe den Mitgliedstaaten ebenfalls die Frage überlassen, wer – der einzelne Arbeitgeber, die Gruppe der Arbeitgeber insgesamt oder die Gesellschaft – die Folgekosten von Arbeitsunfällen zu tragen habe.

45.      Was die Anpassung des britischen Rechts an die Rahmenrichtlinie und die von der Kommission vorgebrachten Beanstandungen betrifft, macht das Vereinigte Königreich vor allem geltend, dass dieses Recht durch die Entscheidung des Gesetzgebers für eine strafrechtliche Sanktion der Nichteinhaltung der Vorschriften zum Schutz der Sicherheit und der Gesundheit der Arbeitnehmer und damit auch der allgemeinen Sicherheitspflicht gekennzeichnet sei, wie sie in Section 2 (1) des HSW Act sanktioniert sei.

46.      Nach Meinung dieses Mitgliedstaats stellt diese Entscheidung ein wirksameres System sicher, da die Abschreckungswirkung einer Strafandrohung größer sei als die einer zivilen Schadensersatzhaftung, gegen die sich die Arbeitgeber versichern könnten. Außerdem vertrage sich der Rückgriff auf ein System von Strafandrohungen besser mit einem Schutzsystem wie dem britischen, das auf Vorbeugung setze. Die Wirksamkeit des britischen Systems werde übrigens durch die Statistiken belegt, denen zu entnehmen sei, dass das Vereinigte Königreich seit langem einer der Mitgliedstaaten mit der geringsten Zahl von Arbeitsunfällen sei.

47.      Das Vereinigte Königreich unterstreicht, dass Section 2 des HSW Act eine „automatische“ strafrechtliche Verantwortlichkeit festlege, der sich der Arbeiteber nur durch den Nachweis entziehen könne, dass er alles getan habe, was in der Praxis vertretbar gewesen sei, um die Entstehung von Gefahren für die Sicherheit und die Gesundheit der Arbeitnehmer zu verhindern. Der Arbeitgeber entledige sich der ihn treffenden Beweislast nur durch den Nachweis, dass ein grobes Missverhältnis („gross disproportion“) zwischen der Gefahr für die Sicherheit und Gesundheit der Arbeitnehmer und dem Opfer an Kosten, Zeit und Schwierigkeiten („sacrifice, whether in money, time and trouble“) bestanden habe, das mit dem Ergreifen der erforderlichen Maßnahmen zur Vermeidung der Entstehung dieser Gefahr verbunden gewesen wäre, und dass die Gefahr im Verhältnis zu diesem Opfer unbedeutend gewesen sei. Die bei der Anwendung der SFAIRP-Klausel durchgeführte Prüfung sei eine rein objektive Bewertung, bei der jede Erwägung in Zusammenhang mit der Finanzkraft des Arbeitgebers ausgeschlossen sei.

48.      Der beklagte Mitgliedstaat legt weiter dar, dass die Entscheidung, Art. 5 Abs. 1 durch die Festlegung von Pflichten umzusetzen, deren Nichterfüllung strafrechtlich geahndet werde, nicht bedeute, dass die Opfer bei Arbeitsunfällen keine Entschädigung erhalten könnten.

49.      Im britischen Recht sei diese Entschädigung durch ein Sozialversicherungssystem sichergestellt.

50.      Das Vereinigte Königreich macht ferner geltend, dass der Arbeitgeber für die Schäden hafte, die aus der Verletzung seiner Sorgfaltspflicht nach dem Common Law gegenüber Arbeitnehmern entstünden.

51.      Aufgrund der dargelegten Argumente vertritt der Mitgliedstaat die Auffassung, er habe Art. 5 Abs. 1 der Rahmenrichtlinie ordnungsgemäß umgesetzt.

52.      Hilfsweise macht das Vereinigte Königreich geltend, dass die SFAIRP-Klausel, wie sie von den britischen Gerichten angewandt werde, einen Anwendungsbereich habe, der mit dem des Art. 5 Abs. 4 der Rahmenrichtlinie übereinstimme.

B –    Würdigung

1.      Vorbemerkungen

53.      Auch wenn es schwierig oder gekünstelt erscheinen mag, die Untersuchung des Inhalts und des Geltungsbereichs der Pflichten, die den Arbeitgebern aufgrund der Rechtsvorschriften über die Sicherheit am Arbeitsplatz obliegen, von der Untersuchung der Formen der Verantwortlichkeit – verwaltungs-, zivil- und strafrechtlicher Art – zu trennen, die sich bei deren Nichteinhaltung einstellen, scheint es mir doch möglich, zwei verschiedene Ebenen der möglichen Wirksamkeit der SFAIRP-Klausel zu unterscheiden, deren Vereinbarkeit mit Art. 5 Abs. 1 und 4 der Rahmenrichtlinie von der Kommission im vorliegenden Verfahren in Abrede gestellt wird.

54.      Diese Klausel ist zunächst geeignet, als Begrenzung für die allgemeine Sicherheitspflicht des Arbeitgebers gemäß Art. 5 Abs. 1 der Rahmenrichtlinie zu wirken. In diesem Sinne kann sie bei der Ermittlung des Umfangs und der Grenzen der Vorbeugetätigkeit ins Spiel kommen.

55.      Zweitens kann die streitige Klausel mittelbar auch zur Begrenzung der Möglichkeit dienen, die Haftung, die sich bei Nichteinhaltung dieser Pflicht ergibt, dem Arbeitgeber zuzuweisen

56.      Die Frage der Vereinbarkeit der zu prüfenden Klausel mit den Vorschriften der Rahmenrichtlinie stellt sich denkgesetzlich bei beiden ihrer vorstehend angeführten Wirkungskreise.

57.      Es ist daher vorab zu ermitteln, welches die Rechtswidrigkeitsaspekte der besagten Klausel sind, die die Kommission mit ihrer Klage im vorliegenden Verfahren aufgreifen möchte.

58.      Bei Durchsicht der von der Kommission eingereichten Schriftsätze treten die Konturen des Standpunkts der Klägerin hinreichend klar hervor. Ihr zufolge legt Art. 5 Abs. 1 der Rahmenrichtlinie nicht nur einschränkungslos die Pflicht des Arbeitgebers fest, für Sicherheit und Gesundheitsschutz der Arbeitnehmer in Bezug auf alle Aspekte, die die Arbeit betreffen, zu sorgen, sondern auch – als Ergänzung dieser Pflicht – die Haftung des Arbeitgebers für jedes der Gesundheit der Arbeitnehmer abträgliche Ereignis, das in seinem Unternehmen eintritt. Aus der Gesamtregelung der Abs. 1 und 4 von Art. 5 der Rahmenrichtlinie leitet die Kommission die Rechtsnatur dieser Haftung ab und stuft sie als verschuldensunabhängige Haftung ein. Ihrer Meinung nach bleibt der Arbeitgeber für die Folgen jedes der Gesundheit der Arbeitnehmer abträglichen Ereignisses, das in seinem Unternehmen eintritt, verantwortlich, und zwar unabhängig von den Vorbeugemaßnahmen, die er konkret getroffen hat oder hätte treffen können – mit der einzigen Ausnahme der Fälle, die in Art. 5 Abs. 4 der Rahmenrichtlinie ausdrücklich genannt sind. Da sich aus den Bestimmungen des HSW Act und namentlich aus Section 2 (1) in Verbindung mit Section 33 und Section 47 ergeben soll, dass der Arbeitgeber nicht für die auftretenden Risiken oder die Folgen von Ereignissen verantwortlich ist, die in seinem Unternehmen eintreten, wenn er nachweisen kann, dass er alle in der Praxis vertretbaren Maßnahmen getroffen hat, um die Sicherheit und die Gesundheit seiner Arbeitnehmer sicherzustellen, steht für die Kommission fest, dass die Vorschriften des Vereinigten Königreichs nicht mit Art. 5 Abs. 1 und 4 der Rahmenrichtlinie vereinbar sind.

59.      Trotz der Wendungen in den Anträgen der Klageschrift ergibt sich klar aus den Schriftsätzen der Kommission sowie aus der gesamten Auseinandersetzung während des schriftlichen Verfahrens und in der mündlichen Verhandlung, dass das Organ die Rechtmäßigkeit der streitigen Klausel nicht unter dem Blickwinkel ihrer Eignung, Einfluss auf den Umfang der Sicherheitspflicht des Arbeitgebers zu nehmen, sondern unter dem anderen Blickwinkel ihrer Eignung zur Begrenzung der Haftung des Arbeitgebers für die der Gesundheit der Arbeitnehmer abträglichen Ereignisse, die in seinem Unternehmen eintreten, in Frage stellt.

60.      Die beiden Gesichtspunkte möglicher Rechtswidrigkeit sind eindeutig nicht voneinander zu trennen, wenn man davon ausgeht, dass Art. 5 Abs. 4 der Rahmenrichtlinie, für sich genommen oder gemeinsam mit Abs. 1, den Umfang der Haftung des Arbeitgebers bei Nichtbeachtung seiner Sicherheitspflicht festlegt, während sie getrennt bleiben, wenn man voraussetzt, dass diese Vorschrift die Umrisse einer weitergehenden Haftung des Arbeitgebers habe abstecken sollen.

61.      Es ist mithin zu prüfen, ob, wie das Vereinigte Königreich meint, Übereinstimmung zwischen dem Umfang der Sicherheitspflicht des Arbeitgebers und dem Umfang der Haftung, wie sie sich aus den einschlägigen Vorschriften der Rahmenrichtlinie ergibt, besteht oder ob diese Haftung, wie die Kommission zu verstehen gibt, die Folgen jedes der Gesundheit der Arbeitnehmer abträglichen Ereignisses –ausgenommen lediglich die in Art. 5 Abs. 4 vorgesehenen Fälle – abdeckt, und zwar unabhängig von der Möglichkeit, dieses Ereignis oder diese Folgen auf irgendeine Nachlässigkeit des Arbeitgebers beim Erlass vorbeugender Maßnahmen zurückzuführen.

2.      Zur Auslegung des Art. 5 Abs. 1 und 4 der Rahmenrichtlinie

62.      Die Kommission und das Vereinigte Königreich gehen von zwei unterschiedlichen Auslegungen des Art. 5 Abs. 1 der Rahmenrichtlinie aus. Der Standpunkt der Kommission stützt sich auf ein Verständnis dieser Vorschrift, das in erster Linie der Haftung des Arbeitgebers für die Beschädigung der Gesundheit der Arbeitnehmer gilt, während das Vereinigte Königreich von einer Auslegung dieser Vorschrift ausgeht, bei der im Wesentlichen die Pflichten angesprochen sind, die dem Arbeitgeber beim Erlass vorbeugender Maßnahmen obliegen.

63.      Die Auslegungsthese, wie sie das Vereinigte Königreich vertritt, beruht auf einem wörtlichen Verständnis des Art. 5 Abs. 1 der Rahmenrichtlinie. Die Kommission geht dagegen im Kern von einem systematischen Verständnis dieser Vorschrift aus und hebt insbesondere die Querverbindungen zwischen den Regelungen der Abs. 1 und 4 von Art. 5 hervor.

64.      Zweifelsfrei ist es in einer erster Phase der Auslegung des Art. 5 Abs. 1, die sich auf den Wortlaut stützt, nicht möglich, dieser Vorschrift eine andere Funktion zuzubilligen als die, ein Rechtssubjekt zu bestimmen und diesem die Pflicht mit dem Inhalt aufzuerlegen, den Schutz eines ebenfalls festgelegten Rechtsguts sicherzustellen.

65.      Unter diesem Blickwinkel macht diese Vorschrift ein Konzept sichtbar, das traditionell die Rolle als Angelpunkt im Bereich der Rechtsvorschriften des Arbeitsschutzes spielt: die Festlegung des Arbeitgebers in seiner Doppelrolle als Partei des Arbeitsvertrags und Organisator der Produktionsfaktoren (vgl. Art. 3 Buchst. b der Rahmenrichtlinie) als Hauptschuldner der Sicherheitspflicht.

66.      Geht man indessen von einer Auslegung, die lediglich auf den Wortlaut der zu prüfenden Vorschrift abstellt, dazu über, diese in dem Zusammenhang zu betrachten, in dem sie steht, so scheint es schwierig, die Regelung des Art. 5 Abs. 1 nicht so zu verstehen, dass nicht nur die allgemeine Sicherheitspflicht des Arbeitgebers bejaht werden soll, sondern auch die Grenzen der Regelung der Mindesthaftung abgesteckt werden sollen, der dieser in seiner Rolle als Schuldner der Sicherheitspflicht unterworfen sein muss, wenn der Gesundheit der Arbeitnehmer abträgliche Ereignisse eintreten.

67.      Entscheidend in diesem Sinne dürften weniger die Vorschriften der beiden folgenden Abs. 2 und 3 von Art. 5 als vielmehr die Regelung von Abs. 4 Unterabs. 1 desselben Artikels sein.

68.      Die Vorschriften der Abs. 2 und 3 von Art. 5 können nämlich, soweit sie ausdrücklich auf den Begriff der Verantwortung abstellen, als Regeln ausgelegt werden, die darauf gerichtet sind, Rechtsnatur und Geltungsbereich der in Abs. 1 verankerten Pflicht klarzustellen und die fehlende Übertragbarkeit auf andere Personen als den Arbeitgeber anzuordnen, auf dem bei Hinzuziehung anderer Personen (Art. 5 Abs. 2) oder bei ausdrücklicher Anordnung des Gesetzes (Art. 5 Abs. 3) besondere Lasten bei der Organisation von Schutz- und Vorbeugemaßnahmen oder allgemein bei der Sicherstellung von Sicherheit und Gesundheit am Arbeitsplatz ruhen. Diese Vorschriften beschränken sich allerdings darauf, die Haftung (oder besser die Pflichten) des Arbeitgebers mit Bezug lediglich auf die Verhütung von Ereignissen zu nennen, die geeignet sind, das rechtlich geschützte Gut zu verletzen.

69.      Demgegenüber bezieht sich Art. 5 Abs. 4 ausdrücklich auf das System der Haftung des Arbeitgebers für die Folgen von Vorkommnissen, die der Gesundheit der Arbeitnehmer abträglich sind.

70.      Wendet man die Regelung des Art. 5 Abs. 4 Unterabs. 1 der Rahmenrichtlinie e contrario an, so führt dies notwendig zur Bestätigung des Grundsatzes, dass die Mitgliedstaaten nicht befugt sind, die Haftung des Arbeitgebers für Schäden aus Vorkommnissen oder Ereignissen auszuschließen oder einzuschränken, die in der Kasuistik dieser Vorschrift nicht vorkommen.

71.      Aus Art. 5 Abs. 4 Unterabs. 1 der Rahmenrichtlinie scheint in der Tat die Absicht des Gesetzgebers zu folgen, die Grundzüge eines allgemeinen Modells der Zurechnung von Gesundheitsschäden der Arbeitnehmer anzubieten, eines Modells freilich, das auf den ersten Blick vom Kriterium der Schuld abzusehen und sich eher dem einer Haftung anzunähern scheint, die objektive Merkmale nutzt.

72.      Es bleibt allerdings näher zu prüfen, ob diese Auslegung, die von der Kommission mit Nachdruck vertreten wird, tatsächlich zutrifft.

73.      Insoweit halte ich vorab die Klarstellung für angezeigt, dass ein Verständnis der Bestimmungen der Rahmenrichtlinie im Sinne einer Bevorzugung der verschuldensunabhängigen Haftung des Arbeitgebers als Teil des Gemeinschaftssystems zum Schutz der Sicherheit und der Gesundheit der Arbeitnehmer meines Erachtens nur aufgrund einer entsprechenden Auslegung des Art. 5 Abs. 4 gerechtfertigt werden könnte.

74.      Den Standpunkt der Kommission, dass ein solches Verständnis bereits auf der Grundlage des Art. 5 Abs. 1 der Rahmenrichtlinie möglich sei, kann ich hingegen nicht teilen.

75.      Die letztgenannte Vorschrift beschränkt sich nämlich, wie bereits angedeutet, darauf, die Garantiepflicht des Arbeitgebers festzulegen, die in erster Linie als Pflicht zur Vorbeugung zu verstehen ist, sagt indessen nichts zur Haftung des Rechtssubjekts in dem Fall, dass ein Ereignis eintritt, das das mit der Begründung dieser Pflicht geschützte Gut schädigt.

76.      Es trifft gewiss zu, dass diese Bestimmung implizit auch eine Regelung der Haftung enthält, da die Auferlegung einer Pflicht ohne Festlegung irgendeiner Form der Haftung für den Fall, dass diese nicht erfüllt wird, unweigerlich die Vorschriften, die diese Pflicht festlegen, zu bloß programmatischen Erklärungen herabstufen müsste, während doch die Normativität der in der Rahmenrichtlinie vorgesehenen Pflichten eindeutig aus Art. 4 Abs. 1 folgt, der den Mitgliedstaaten vorschreibt, „die erforderlichen Vorkehrungen [zu treffen], um zu gewährleisten, dass die Arbeitgeber … den für die Anwendung dieser Richtlinie erforderlichen Rechtsvorschriften unterliegen“.

77.      Dennoch scheint es mir, auch wenn man vom Wortlaut dieser Vorschrift absieht, um sie im Lichte des Kontextes auszulegen, in dem sie steht, schwierig zu postulieren, dass Art. 5 Abs. 1 der Rahmenrichtlinie, wenn er einem Rechtssubjekt ausdrücklich eine Rechtspflicht auferlegt, dem gleichen Subjekt implizit auch eine Haftung habe auferlegen wollen, die weiter ginge als die, die mit der etwaigen Nichterfüllung dieser Pflicht in Verbindung gebracht werden könnte. Ich halte es mit anderen Worten nicht für vertretbar, allein aus der Regelung einer solchen Vorschrift die Unterwerfung des Arbeitgebers unter eine Pflicht im Wesentlichen vorbeugender Natur und zur gleichen Zeit unter eine verschuldensunabhängige Haftungsregelung – und damit unabhängig davon, ob dem verpflichteten Subjekt irgendeine Schuld oder Fahrlässigkeit beim Erlass der Vorbeugemaßnahmen zuzurechnen ist – abzuleiten.

78.      Es bleibt also zu prüfen, ob der Standpunkt der Kommission, wonach die Vorschriften der Rahmenrichtlinie die Mitgliedstaaten verpflichten, den Arbeitgeber für der Gesundheit der Arbeitnehmer abträgliche Vorkommnisse einer verschuldensunabhängigen Haftung zu unterwerfen, allein auf Art. 5 Abs. 4 Unterabs. 1 dieser Richtlinie gestützt werden kann.

79.      Nach dieser Vorschrift steht die Rahmenrichtlinie „nicht der Befugnis der Mitgliedstaaten entgegen, den Ausschluss oder die Einschränkung der Verantwortung des Arbeitgebers“ bei bestimmten Umstände oder Ereignissen vorzusehen.

80.      Meines Erachtens sprechen mehrere Gesichtspunkte, die sowohl der Wortlaut als auch ein historisches Verständnis der zu prüfenden Vorschrift sichtbar machen, gegen eine Auslegung im Sinne des Standpunkts der Kommission.

81.      Erstens scheint mir die Formulierung der Vorschrift schwerlich mit der Bedeutung und der Funktion vereinbar zu sein, die mit deren Aussage zu verknüpfen wäre, wenn man sie in dem Sinne auslegen würde, den die Kommission befürwortet.

82.      Unter diesem Blickwinkel sind die Worte „[d]iese Richtlinie steht nicht der Befugnis der Mitgliedstaaten entgegen“ wegen der mit dem Ausdruck „steht nicht entgegen“ umschriebenen Bedeutung wohl eher dazu bestimmt, den Geltungsbereich der Richtlinie – und gleichzeitig den Bewegungsspielraum der Mitgliedstaaten bei deren Umsetzung in nationales Recht – klarzustellen als auf der Grundlage einer Auslegung e contrario der hier geprüften Vorschrift eine – weder ausdrücklich noch stillschweigend in anderen Vorschritten dieser Richtlinie berücksichtigte – Pflicht dieser Staaten zu begründen, in ihren jeweiligen Rechtsordnungen eine verschuldensunabhängige Haftung des Arbeitgebers vorzusehen.

83.      Zweitens lässt die Möglichkeit, die Vorschrift des Art. 5 Abs. 4 Unterabs. 1 in dem von der Kommission befürworteten Sinn auszulegen, Zweifel auch unter dem Gesichtspunkt der Gesetzgebungstechnik entstehen, auf die der Gemeinschaftsgesetzgeber hier zurückgegriffen haben soll.

84.      Es ist in der Tat unwahrscheinlich, dass die Entscheidung zugunsten des Grundsatzes der verschuldensunabhängigen Haftung des Arbeitgebers im Rahmen des Gemeinschaftssystems für den Schutz von Gesundheit und Sicherheit der Arbeitnehmer sowie die Harmonisierung der nationalen Haftungssysteme, die sich im Gefolge dieser Entscheidung ergäbe, einer Vorschrift e contrario entnommen werden müsste, die sich ausdrücklich darauf beschränkt, die Befugnis der Mitgliedstaaten zu bilanzieren, die Verantwortung des Arbeitgebers bei besonderen Vorkommnissen auszuschließen oder einzuschränken. Eine solche Vorgehensweise des Gemeinschaftsgesetzgebers erscheint noch unwahrscheinlicher, wenn man bedenkt, dass einige Mitgliedstaaten wie etwa das Vereinigte Königreich mit Formen der verschuldensunabhängigen Haftung wenig vertraut sind.

85.      Drittens wird der Geltungsbereich von Art. 5 Abs. 4 Unterabs. 1 der Rahmenrichtlinie durch Auslegungsargumente, die der Entstehungsgeschichte dieser Vorschrift entnommen sind, beträchtlich verkleinert.

86.      Insoweit geht aus den Akten hervor, dass Abs. 4 von Art. 5 in die Richtlinie aufgenommen worden ist, um auf Anregungen der britischen und der irischen Delegation während der im Rat entstandenen Debatte über den Entwurf der Rahmenrichtlinie einzugehen.

87.      Aus der vom Vereinigten Königreich vorgelegten Dokumentation zur Sitzung der Arbeitsgruppe Soziale Fragen vom 21. und 22. Juni 1998 geht insbesondere hervor, dass die britische und die irische Delegation bei dieser Gelegenheit die Probleme angesprochen haben, die die Umsetzung der Richtlinie in den betreffenden Ländern geschaffen hätte, wenn deren Vorschriften bei der Regelung der Arbeitgeberpflichten die von der Kommission vorgeschlagene strenge Formulierung beibehalten hätten.

88.      Im Wesentlichen machten diese Mitgliedstaaten geltend, die britischen und irischen Gerichte hätten im Bereich der Sicherheit und des Gesundheitsschutzes der Arbeitnehmer anders als die Gerichte der Civil-Law-Systeme keinerlei Spielraum bei der Auslegung geschriebenen Rechts. Demzufolge würde die im Richtlinienentwurf vorgesehene Formulierung eines Großteils der dem Arbeitgeber auferlegten Pflichten in einschränkungslosen Wendungen die Anwendung der Vorschriften der Rahmenrichtlinie in den Ländern des Common Law ungebührlich erschweren. Sie schlugen daher vor, in die einschlägigen Vorschriften des Richtlinienwurfs eine flexible Klausel von der Art der SFAIRP aufzunehmen, die bereits in den so genannten Richtlinien der „ersten Generation“ enthalten war.

89.      Unter den möglichen Lösungen, die in Erwägung gezogen wurden(10), um den von der britischen und irischen Delegation vorgebrachten Bedürfnissen zu entsprechen, entschied man sich für die Einführung einer Generalklausel, die die Form des Art. 5 Abs. 4 annahm.

90.      Die Kommission erinnert in ihrer Klageschrift daran, dass in einer Gemeinsamen Erklärung des Rates und der Kommission, festgehalten im Protokoll der Tagung des Rates vom 12. Juni 1989, klargestellt worden sei, dass Art. 5 Abs. 4 der Rahmenrichtlinie das Ziel verfolge, „zur Lösung der Rechtsprobleme der Länder angelsächsischen Rechts beizutragen“, und dass dies bei der Umsetzung der Richtlinie in die nationalen Rechtsordnungen „Abweichungen vom Gemeinschaftsniveau des Schutzes der Sicherheit und der Gesundheit der Arbeitnehmer“ nicht zulasse.

91.      Art. 5 Abs. 4 ist daher in die Rahmenrichtlinie aus Anlass der Debatte im Rat über die Art und Weise der Lösung der Probleme, die die Formulierung der Sicherheitspflicht des Arbeitgebers in einschränkungslosen Wendungen in den Systemen des Common Law verursacht hätte, wenn man die Pflicht der Gerichte in diesen Systemen berücksichtige, geschriebenes Recht wörtlich auszulegen.

92.      Mithin bleibt es auch angesichts der Argumente aus der Entstehungsgeschichte der Rahmenrichtlinie schwierig, der Regelung in Art. 5 Abs. 4 den von der Kommission befürworteten Sinn zu geben.

93.      Schließlich ist am Rande darauf hinzuweisen, dass der Standpunkt des klagenden Organs Grenzen auch in der Rechtsgrundlage der Rahmenrichtlinie zu finden scheint, da es nämlich nicht offenkundig ist, dass der Gemeinschaftsgesetzgeber auf der Grundlage des Art. 118a EG – der sich darauf beschränkt, den Erlass von „Mindestvorschriften, die schrittweise anzuwenden sind“ durch Richtlinien vorzusehen – berechtigt wäre, eine Harmonisierung der geltenden Haftungssysteme in den Mitgliedstaaten vorzunehmen.

94.      Die vorstehend in den Nrn. 80 bis 92 behandelten Gesichtspunkte führen einerseits dazu, die Auslegungsthese der Kommission abzulehnen, erlauben es aber andererseits, eine abweichende Auslegung des Art. 5 Abs. 4 Unterabs. 1 der Rahmenrichtlinie vorzuschlagen und zu empfehlen.

95.      Die Entstehungsgeschichte der zu prüfenden Vorschrift erlaubt es insbesondere, zu begreifen, in welcher Weise sich diese Vorschrift in den Kontext von Art. 5 einfügt und welche Querverbindungen sie namentlich zu Abs. 1 dieses Artikels aufweist.

96.      Meines Erachtens lässt sich diesen Ausführungen zum Gesetzgebungsweg der Rahmenrichtlinie entnehmen, dass Art. 5 Abs. 4 Unterabs. 1 in diese Richtlinie aufgenommen worden ist, um den Geltungsbereich der in Art. 5 Abs. 1 festgelegten Sicherheitspflicht des Arbeitgebers klarzustellen(11) – und damit folgerichtig den Umfang der Haftung bei einer etwaigen Verletzung dieser Pflicht.

97.      So verstanden wäre Art. 5 Abs. 4 Unterabs. 1 eine Art Auslegungsklausel für Art. 5 Abs. 1.

98.      Geht man von der Notwendigkeit aus, die zu prüfende Vorschrift im Zusammenhang mit der Funktion auszulegen, die ihr, wie aus den Vorarbeiten zur Rahmenrichtlinie hervorgeht, vom Gemeinschaftsgesetzgeber zugewiesen wurde, so wird die soeben vorgeschlagene Auslegungsthese durch bereits in Nr. 82 dargelegte Gesichtspunkte bestätigt, die dem Wortbestand dieser Vorschrift entnommen sind.

99.      An dieser Stelle ist zu prüfen, ob diese Auffassung durch die systematische Auslegung des Art. 5 Abs. 1 gestützt wird.

100. Es wurde bereits gesagt, dass diese Vorschrift die Verpflichtung des Arbeitgebers festlegt, Sicherheit und Gesundheit der Arbeitnehmer sicherzustellen. An dieser Stelle müssen Inhalt und Geltungsbereich dieser Verpflichtung, die, wie wir gesehen haben, ohne Einschränkungen formuliert ist, konkret definiert werden.

101. Insoweit stimme ich mit den Beteiligten in der Annahme überein, dass diese Definition im Lichte sämtlicher Vorschriften der Rahmenrichtlinie und hauptsächlich ihres Art. 6, der die allgemeinen Pflichten des Arbeitgebers definiert, vorgenommen werden muss, obwohl einige Hinweise in dieser Richtung meines Erachtens bereits beim Betrachten des Wortlauts von Art. 5 Abs. 1 gewonnen werden können.

102. Erstens scheint mir klar zu sein, dass diese Vorschrift vom Verpflichteten ein positives Handeln verlangt, das im Ergreifen von Maßnahmen besteht, die dazu dienen sollen, das Ziel des Schutzes des Rechtsguts anzustreben, das normativ mit der Sicherheit und der Gesundheit der Arbeitnehmer umschrieben ist.

103. Zweitens müssen diese Maßnahmen, da die betreffende Pflicht in der „Sicherstellung“ des Schutzes dieses Gutes besteht, angemessen und für ein solches Ziel ausreichend sein. Die von dieser Vorschrift zu Lasten des Arbeitgebers festgelegte Pflicht schließt mit anderen Worten angesichts der Formulierung der Regelung des Art. 5 Abs. 1 der Rahmenrichtlinie das Ergreifen jeder Maßnahme ein, die sich als notwendig erweist, um die Sicherheit und die Gesundheit der Arbeitnehmer in jedem mit der Arbeit zusammenhängenden Aspekt sicherzustellen.

104. Dieses Ergebnis wird übrigens durch Art. 6 Abs. 1 der Rahmenrichtlinie bestätigt, wonach der Arbeitgeber „[i]m Rahmen seiner Verpflichtungen … die für die Sicherheit und den Gesundheitsschutz der Arbeitnehmer erforderlichen Maßnahmen trifft …“

105. Drittens schreibt das mit Art. 5 Abs. 1 der Rahmenrichtlinie verfolgte Schutzziel vor, die dem Arbeitgeber auferlegte Pflicht unter im Wesentlichen präventiven Aspekten auszulegen. Diese Pflicht äußert sich daher einerseits in der Prognose und der Evaluierung von Risiken für Sicherheit und Gesundheit der Arbeitnehmer, wie sie die Unternehmenstätigkeit mit sich bringt, und andererseits in der Festlegung und Vorbereitung der erforderlichen präventiven Maßnahmen.

106. Art. 9 Abs. 1 der Rahmenrichtlinie macht den Inhalt der Präventivpflichten deutlich, die den Arbeitgeber in dem eben gezeigten Sinne treffen. Nach dieser Vorschrift muss der Arbeitgeber „über eine Evaluierung der am Arbeitsplatz bestehenden Gefahren für die Sicherheit und die Gesundheit auch hinsichtlich der besonders gefährdeten Arbeitnehmergruppen verfügen“ (Art. 9 Abs. 1 Buchst. a) und „die durchzuführenden Schutzmaßnahmen und, falls notwendig, die zu verwendenden Schutzmittel festlegen“ (Art. 9 Abs. 1 Buchst. b).

107. In gleicher Weise bestimmt Art. 6 Abs. 2 der Rahmenrichtlinie bei der Aufzählung der allgemeinen Präventionsgrundsätze, mit deren Hilfe die Sicherheitspflicht des Arbeitgebers konkretisiert wird, dass der Arbeitgeber die Präventivmaßnahmen umsetzt zur „Vermeidung von Risiken“ (Buchst. a), „Abschätzung nichtvermeidbarer Risiken“ (Buchst. b), „Gefahrenbekämpfung an der Quelle“ (Buchst. c) und „Planung der Gefahrenverhütung …“ (Buchst. g).

108. Viertens muss die Sicherheitspflicht des Arbeitgebers, da der technische Fortschritt und die Entwicklung der Produktionssysteme sowohl zur Schaffung neuer Risiken für Sicherheit und Gesundheit der Arbeitnehmer als auch zur Diversifikation und zur Perfektionierung der Schutzmaßnahmen führen können, dynamisch ausgelegt werden; sie bringt eine ständige Anpassung an die Umstände, die sich möglicherweise auf Menge und Umfang der Risiken, denen die Arbeitnehmer ausgesetzt sind, sowie auf die Wirksamkeit der Maßnahmen auswirken, die erforderlich sind, um solche Risiken zu vermeiden oder zu begrenzen.

109. In diesem Sinne bestimmt Art. 6 Abs. 2 der Rahmenrichtlinie, dass der Arbeitgeber bei Umsetzung der Präventivmaßnahmen nach Abs. 1 Unterabs. 1 auf die „Berücksichtigung des Stands der Technik“ (Buchst. e) achtet.

110. Aus den allgemeinen Präventionsmerkmalen, wie sie in Art. 6 Abs. 2 Buchst. b – der bekanntlich dem Arbeitgeber die „Abschätzung nichtvermeidbarer Risiken“ vorschreibt – und Buchst. f der Rahmenrichtlinie – wonach der Arbeitgeber zur „Ausschaltung oder Verringerung von Gefahrenmomenten“ verpflichtet ist – aufgeführt werden, ergibt sich, dass die allgemeine Sicherheitspflicht, wie sie in Art. 5 Abs. 1 festgelegt ist, nicht so weit geht, dass dem Arbeitgeber die Vorhaltung einer Arbeitsumwelt vorgeschrieben würde, die frei von jeglichem Risiko wäre.

111. Die vorstehend in den Nrn. 102 bis 110 dargelegten Gesichtspunkte der Untersuchung lassen den Schluss zu, dass der Arbeitgeber aufgrund der in Art. 5 Abs. 1 der Rahmenrichtlinie festgelegten Sicherheitspflicht gehalten ist, im Rahmen des Möglichen und unter Berücksichtigung des Entwicklungsstands der Technik alle konkret vorhersehbaren Risiken für Sicherheit und Gesundheit der Arbeitnehmer zu vermeiden oder zu begrenzen.

112. Das vorstehend Gesagte bedeutet, wenn man es in den Haftungsbereich überträgt, dass dem Arbeitgeber sowohl das Auftreten vorhersehbarer und vermeidbarer Risiken für die Sicherheit der Arbeitnehmer als auch die Folgen von Ereignissen, die die Konkretisierung solcher Risiken darstellen, zugerechnet werden können, weil es sich in beiden Fällen um das Ergebnis einer Verletzung der allgemeinen Sicherheitspflicht handelt, wie sie vorstehend definiert wurde.

113. Umgekehrt sind dem Arbeitgeber weder das Auftreten unvorhersehbarer und/oder nicht vermeidbarer Risiken noch die Folgen von Ereignissen zuzurechnen, die die Verwirklichung solcher Risiken darstellen.

114. Die vorstehend dargestellten Fälle fehlender Zurechenbarkeit decken die in Art. 5 Abs. 4 Unterabs. 1 der Rahmenrichtlinie aufgestellte Kasuistik ab, während die vorstehend in Nr. 112 beschriebenen Fälle der Zurechenbarkeit den Fallgestaltungen entsprechen, für die diese Vorschrift, wenn man sie e contrario auslegte, die Befugnis der Mitgliedstaaten ausschließen würde, den Ausschluss oder die Begrenzung der Haftung des Arbeitgebers festzulegen.

115. Die vorstehend in Nr. 96 vorgetragene Auffassung wird daher durch eine systematische Auslegung des Art. 5 Abs. 1 der Rahmenrichtlinie bestätigt.

116. Aus allen vorstehenden Erwägungen folgt, dass Art. 5 Abs. 4 Unterabs. 1 der Rahmenrichtlinie dahin auszulegen ist, dass er den Geltungsbereich der Haftung des Arbeitgebers infolge der Nichtbeachtung der allgemeinen Sicherheitspflicht nach Abs. 1 dieses Artikels definiert.

117. Entgegen dem Vorbringen der Kommission lässt daher diese Vorschrift – isoliert betrachtet oder zusammen mit Abs. 1 des Art. 5 – nicht die Aussage zu, die Rahmenrichtlinie habe die verschuldensunabhängige Haftung des Arbeitgebers einführen wollen.

118. Die in Art. 5 Abs. 1 und 4 der Rahmenrichtlinie definierte Haftung des Arbeitgebers ist, mag sie auch einen besonders weiten Ausdruck gefunden haben, eine Verschuldenshaftung, die aus der Nichterfüllung der dem Arbeitgeber auferlegten Sicherheitspflicht folgt.

119. Dieser Schluss wird nicht durch die Formulierung von Art. 5 Abs. 4 Unterabs. 1 entkräftet, die von einer bloßen Befugnis der Mitgliedstaaten ausgeht, die Haftung des Arbeitgebers bei den in der Vorschrift genannten Vorkommnissen auszuschließen oder einzuschränken. Die Entscheidung des Gemeinschaftsgesetzgebers für eine solche Formulierung erklärt sich durch den Entschluss, es den Mitgliedstaaten zu überlassen, den Arbeitgeber einer weitergehenden Haftung zu unterwerfen als der, die aus Art. 5 Abs. 1 und 4 Unterabs. 1 der Rahmenrichtlinie folgt, d. h. einer Haftung, die sich auf jedes die Gesundheit der Arbeitnehmer schädigende Ereignis erstreckt, auch wenn den Arbeitgeber keinerlei Fahrlässigkeit bei der Anwendung der Vorbeugemaßnahmen trifft. In diesem Sinn muss meines Erachtens die weitere Klarstellung in Art. 5 Abs. 4 Unterabs. 2 der Rahmenrichtlinie verstanden werden, wonach „[d]ie Mitgliedstaaten … nicht verpflichtet sind, von der in Unterabsatz 1 genannten Möglichkeit Gebrauch zu machen“.

120. Auf der Grundlage meiner bisherigen Schlussfolgerungen zur Auslegung von Art. 5 Abs. 1 und 4 der Rahmenrichtlinie gehe ich nunmehr zur Prüfung der Rügen der Kommission im vorliegenden Verfahren über.

3.      Zur Rüge der Verletzung des Art. 5 Abs. 1 und 4 der Rahmenrichtlinie durch das Vereinigte Königreich

121. Im Licht des bisher Dargelegten bin ich der Meinung, dass das Vorbringen der Kommission von einer unrichtigen Auslegung der Vorschriften der Rahmenrichtlinie ausgeht.

122. Obwohl diese Feststellung meines Erachtens schon an sich genügen würde, um die Klage abzuweisen, scheint es mir doch nützlich zu sein, für den Fall, dass es der Gerichtshof, auch wenn er die von mir vorgeschlagene Auslegung der besagten Vorschriften teilt, für sinnvoll halten sollte, die Prüfung der Klage fortzusetzen und im Licht dieser Auslegung das Vorliegen der Vertragsverletzung zu würdigen, die das Vereinigte Königreich bestreitet, einige weitere Überlegungen anzustellen.

123. In seinen Schriftsätzen hat der beklagte Mitgliedstaat mehrfach betont, dass die Nichterfüllung der Verpflichtungen, die Section 2 des HSW Act dem Arbeitgeber auferlegt, strafrechtlich geahndet werde. Die Entscheidung des britischen Gesetzgebers für eine strafrechtliche Verantwortlichkeit bei Verletzung der präventiven Pflichten, die dem Arbeitgeber oblägen, stelle ein wirksameres Schutzsystem sicher und stehe vollkommen mit den Vorschriften der Richtlinie im Einklang, da diese den Mitgliedstaaten nicht die Einführung einer bestimmten Form der Verantwortlichkeit als Sanktion solcher Verstöße vorschrieben. Trotzdem würde die von der Kommission vorgeschlagene Auslegung von Art. 5 Abs. 1 und 4 dieser Richtlinie, wenn sie vom Gerichtshof bestätigt würde, den britischen Gesetzgeber zur Aufgabe dieser Option zwingen, da eine strafrechtliche Verantwortlichkeit ohne Schuld nicht vorstellbar sei.

124. Insoweit muss ich klarstellen, dass die Rahmenrichtlinie nicht nur den Mitgliedstaaten keine Festlegung einer bestimmten Form der Verantwortlichkeit vorschreibt, wie das Vereinigte Königreich zutreffend ausgeführt hat, sondern auch keine Gleichförmigkeit der Ausweitung der verschiedenen Formen der zivil-, strafrechtlichen oder sonstigen Verantwortlichkeit voraussetzt, die von einer bestimmten nationalen Rechtsordnung ins Auge gefasst würde.

125. Wenn mit anderen Worten dank der Rahmenrichtlinie die Mitgliedstaaten verpflichtet sind, eine Regelung der Verantwortlichkeit des Arbeitgebers entsprechend dem Modell festzulegen, das sich aus den Vorschriften dieser Richtlinie ergibt, so sind sie auch befugt, entweder die Form dieser Verantwortlichkeit zu wählen oder zusätzliche Formen der Verantwortlichkeit festzulegen, die möglicherweise weniger weit gehen als diejenigen, die in diesen Vorschriften vorgesehen sind. So wäre etwa meines Erachtens die Entscheidung eines Mitgliedstaats, die zivilrechtliche Haftung eines Arbeitgebers bei Nichterfüllung der allgemeinen Sicherheitspflicht, wie vorstehend ausgelegt, und zugleich eine Form strafrechtlicher Verantwortlichkeit vorzusehen, die z. B. allein auf den Verstoß gegen mehr punktuelle Vorschriften der Unfallverhütung beschränkt wäre, nicht zu beanstanden.

126. Daraus folgt, dass die im vorliegenden Verfahren streitige Bestimmung nicht zu beanstanden wäre, wenn man zu dem Schluss gelangen müsste, dass sie zwar eine Verantwortlichkeit des Arbeitgebers festlegt, die weniger weit geht als die, die von der Rahmenrichtlinie als vorgegeben anzusehen ist, dass sie jedoch diese Verantwortlichkeit nur strafrechtlich umreißt und das britische Recht eine Form der zivilrechtlichen Haftung des Arbeitgebers einsetzt, deren Ausweitung wiederum vollkommen dem von der Richtlinie angestrebten System der Verantwortlichkeit entspricht.

127. Zwar ist im britischen System die zivilrechtliche Haftung des Arbeitgebers nur bei der Verletzung punktueller Verpflichtungen festgelegt, die in besonderen Gesetzesvorschriften zu Lasten des Arbeitgebers vorgesehen sind, nicht aber bei Nichterfüllung der allgemeinen Sicherheitspflicht nach Section 2 (1) des HSW Act(12), jedoch geht aus den Akten hervor, dass im Common Law eine Form der zivilrechtlichen Haftung des Arbeitgebers wegen Nichtbeachtung der Sorgfaltspflicht gegenüber seinen Arbeitnehmern gilt.

128. In Übereinstimmung mit dem Sachverhalt, auf den sich die Kommission für eine von der Rahmenrichtlinie vorgeschriebene verschuldensunabhängige Haftung des Arbeitgebers gestützt hat, ist diese Form der Haftung in der Klage nicht untersucht worden.

129. Für den Fall, dass der Gerichtshof zwar die Auslegung des Art. 5 Abs. 1 und 4 dieser Richtlinie, zu der ich in meiner Untersuchung gelangt bin, teilen sollte, die bloße Feststellung der fehlerhaften Auslegung, von der die Kommission ausgeht, aber nicht für ausreichend hält, um die Klage abzuweisen, und es mithin als erforderlich ansieht, die Prüfung der Klage fortzusetzen, kann eine ordnungsgemäße Würdigung des Standpunkts des Vereinigten Königreichs meines Erachtens nicht von der Überlegung absehen, ob die zivilrechtliche Haftung, der der Arbeitgeber nach dem Common Law unterliegt, mindestens so weit geht wie die nach den Vorschriften der Rahmenrichtlinie. Sollte dies zu bejahen sein, läge nämlich die von der Kommission beanstandete Vertragsverletzung nicht vor.

130. Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs erfordert nämlich die Umsetzung einer Richtlinie nicht unbedingt eine förmliche und wörtliche Übernahme ihrer Bestimmungen in eine ausdrückliche spezifische Rechtsvorschrift, sondern es kann ihr durch einen allgemeinen rechtlichen Kontext Genüge getan werden, wenn dieser tatsächlich die vollständige Anwendung der Richtlinie hinreichend klar und bestimmt gewährleistet(13).

131. Sodann ist daran zu erinnern, dass es im Rahmen eines Vertragsverletzungsverfahrens gemäß Art. 226 EG nach ständiger Rechtsprechung Sache der Kommission ist, das Vorliegen der behaupteten Vertragsverletzung nachzuweisen und dem Gerichtshof die erforderlichen Anhaltspunkte zu liefern, die es diesem ermöglichen, das Vorliegen der Vertragsverletzung zu prüfen, ohne dass sich die Kommission hierfür auf irgendeine Vermutung stützen kann(14).

132. Aus allen diesen Gründen stehe ich auf dem Standpunkt, dass, falls der Gerichtshof zwar die von mir vorgeschlagene Auslegung des Art. 5 Abs. 1 und 4 dieser Richtlinie teilen sollte, die bloße Feststellung der fehlerhaften Auslegung, von der die Kommission ausgeht, aber nicht für ausreichend hält, um die Klage abzuweisen, diese gleichwohl abzuweisen ist, weil sie auf einer unzureichenden Untersuchung des britischen Systems bei der Prüfung der Frage gestützt ist, ob dieses mit den Vorschriften der Rahmenrichtlinie vereinbar ist.

133. Meine bisherigen Ergebnisse gehen von der oben in den Nrn. 57 bis 59 dargestellten Prämisse aus, dass die Klage die Rechtmäßigkeit der SFAIRP-Klausel lediglich unter dem Blickwinkel ihrer Eignung angreifen will, den Umfang der Haftung des Arbeitgebers für die Folgen von Ereignissen, die die Gesundheit der Arbeitnehmer schädigen, entgegen der Regelung des Art. 5 Abs. 1 und 4 der Rahmenrichtlinie zu umschreiben.

134. Nur höchsthilfsweise und nur für den Fall, dass der Gerichtshof die Klage so verstehen sollte, dass mit ihr die Rechtswidrigkeit der besagten Klausel auch insoweit geltend gemacht werden soll, als sie geeignet ist, den Umfang der Verpflichtung des Arbeitgebers, wie sie in Art. 5 Abs. 1 festgelegt ist, einzuschränken, werde ich im Folgenden die Begründetheit dieser Beanstandung in knappen Zügen prüfen.

135. Meine Erwägungen in den Nrn. 102 bis 110 haben die Konturen der allgemeinen Sicherheitsverpflichtung sichtbar werden lassen, wie sie sich aus Art. 5 Abs. 1 und den Vorschriften der Rahmenrichtlinie ergeben, die zur Konkretisierung dieser Verpflichtung beitragen.

136. In Nr. 111 dieser Schlussanträge habe ich ausgeführt, dass der Arbeitgeber aufgrund der in Art. 5 Abs. 1 der Rahmenrichtlinie festgelegten Sicherheitspflicht gehalten ist, im Rahmen des Möglichen und unter Berücksichtigung des Entwicklungsstands der Technik alle konkret vorhersehbaren Risiken für Sicherheit und Gesundheit der Arbeitnehmer zu vermeiden oder zu begrenzen.

137. Das bedeutet insbesondere, dass die objektive technische Möglichkeit des Ausschlusses oder der Reduzierung eines Risikos für die Sicherheit und die Gesundheit der Arbeitnehmer den Parameter darstellt, auf dessen Grundlage konkret die Übereinstimmung des Verhaltens des Arbeitgebers mit den der Rahmenrichtlinie zu entnehmenden Vorschriften zu bewerten ist.

138. Die Verweisung in Section 2 (1) des HSW Act auf den Begriff des „in der Praxis Vertretbaren“ ist nun meines Erachtens, weil er für die Bewertung der Angemessenheit der präventiven Tätigkeit im Vergleich mit der bloß technischen Möglichkeit einen weniger strengen Parameter einführt, mit dem Umfang unvereinbar, der der allgemeinen Sicherheitspflicht, wie sie in Art. 5 Abs. 1 der Rahmenrichtlinie vorgesehen ist, zukommen muss.

139. Die Prüfung, die die britischen Gerichte bei der Würdigung der Übereinstimmung des Verhaltens des Arbeitgebers mit Section 2 (1) des HSW Act durchzuführen haben, bringt eine Beurteilung mit sich, die über die Feststellung der Möglichkeit, dem Auftreten eines Risikos zuvorzukommen oder seinen Umfang anhand der Technik zu begrenzen, hinausgeht und es zulässt (oder eher vorschreibt), auch bei konkret vermeidbaren Risiken eine Bilanzierung der nicht nur wirtschaftlich betrachteten Kosten der Präventivmaßnahmen einerseits und der Schwere und des Umfangs der Schäden, die sich für die Gesundheit der Arbeitnehmer ergeben könnten, andererseits vorzunehmen.

140. Eine solche Kosten-Nutzen-Analyse scheint mir nun – auch wenn man zugibt, dass sie, wie das Vereinigte Königreich unterstreicht, in der Praxis schwerlich zu einem vorteilhaften Ergebnis für den Arbeitgeber führt – auf der Grundlage des Gemeinschaftssystems des Schutzes der Sicherheit und Gesundheit der Arbeitnehmer nicht zulässig zu sein, das mir für den Bereich der Sicherheit und Gesundheit der Arbeitnehmer dem Schutz der Person des Arbeitnehmers Vorrang vor dem Schutz der wirtschaftlichen Unternehmung einzuräumen scheint(15).

141. Mithin muss meines Erachtens, wenn der Gerichtshof die Rügen in dem oben in Nr. 134 beschriebenen Sinn verstehen sollte, der Klage stattgegeben werden.

VI – Kosten

142. Gemäß Art. 69 § 2 der Verfahrensordnung ist die unterliegende Partei auf Antrag zur Tragung der Kosten zu verurteilen.

143. Da ich dem Gerichtshof vorschlage, die Klage abzuweisen, und das Vereinigte Königreich Kostenantrag gestellt hat, sind die Kosten folglich der Kommission aufzuerlegen.

VII – Ergebnis

144. Aus allen dargelegten Gründen schlage ich dem Gerichtshof vor, wie folgt zu entscheiden:

–        Die Klage wird abgewiesen.

–        Die Kommission trägt die Kosten des Verfahrens.


1 – Originalsprache: Italienisch.


2 – ABl. L 183, S. 1.


3 – ABl. C 28, S. 1.


4 – Bis heute sind auf der Grundlage des Art. 16 Abs. 1 der Rahmenrichtlinie neunzehn besondere Richtlinien erlassen worden.


5 – Zur Wahl der geeigneten Rechtsgrundlage für die Regelung spezifischer Aspekte des hier geprüften Sektors vgl. Urteil 12. November 1996, C‑84/94 (Vereinigtes Königreich/Rat, Slg. 1996, I‑5755).


6 – Vgl. oben, Nr. 2.


7 – Den Akten ist zu entnehmen, dass die Hindernisse für die Anerkennung der zivilrechtlichen Haftung der Arbeitgeber wegen Verletzung spezifischer Pflichten nach den Vorschriften zur Sicherheit und Gesundheit der Arbeitnehmer aufgrund des Eingreifens der Kommission durch eine am 23. Oktober 2003 in Kraft getretene Änderung der Management of Health and Safety at Work Regulations endgültig beseitigt worden sind.


8 – Vorschriften, die Section 2 (1) des HSW Act entsprechen, sind in Section 4 (1) und (2) des Health and Safety at Work (Northern Ireland) Act 1978 enthalten.


9 – Hervorhebung nur hier.


10 – Solche Lösungen bestanden in einer Gemeinsamen Erklärung des Rates und der Kommission, in der Aufnahme einer Generalklausel in den Wortlaut der Richtlinie oder in der Einfügung einer Spezialklausel in deren einzelne Vorschriften, während die Möglichkeit einer differenzierten Formulierung der einschlägigen Vorschriften der Richtlinie in den verschiedenen Sprachfassungen, wie sie in einigen Abkommen der Internationalen Arbeitsorganisation gewählt worden ist, von vornherein ausgeschlossen worden ist.


11 – In diesem Sinne scheint sie auch die Kommission zum Zeitpunkt ihrer Einfügung in den Wortlaut der Richtlinie verstanden zu haben. In einer Erklärung, die in das Protokoll der Tagung des Rates vom 12. Juni 1989 aufgenommen wurde und in Nr. 25 der Klageschrift der Kommission wiedergegeben ist, führte die Kommission aus: „Die [in Artikel 5 Absatz 4 der Rahmenrichtlinie enthaltene] Verweisung auf außergewöhnliche Vorkommnisse, deren Folgen trotz der aufgewandten Sorgfalt auf jeden Fall unvermeidbar gewesen wären, darf auf keinen Fall so verstanden werden, dass sie es dem Arbeitgeber freistellt zu entscheiden, ob die Maßnahmen angesichts des Zeitaufwands, der Schwierigkeiten und der damit verbundenen Kosten ergriffen werden sollten.“


12 – Für die, wie wir sahen, die zivilrechtliche Haftung in Section 47 (1) des HSW Act ausdrücklich ausgeschlossen ist.


13 – Vgl. insbesondere Urteile vom 7. Januar 2004, Kommission/Spanien (C‑58/02, Slg. 2004, I‑621, Randnr. 26), und vom 20. Oktober 2005, Kommission/Vereinigtes Königreich (C‑6/04, Slg. 2005, I‑9017, Randnr. 21).


14 – Vgl. Urteil vom 12. Mai 2005, Kommission/Belgien (C‑287/03, Slg. 2005, I‑3761, Randnr. 27 und die dort zitierte Rechtsprechung).


15 – Mehrere dahin weisende Gesichtspunkte sind der Rahmenrichtlinie zu entnehmen. Man vergleiche neben dem von der Kommission herangezogenen dreizehnten Erwägungsgrund das in Art. 6 Abs. 2 Buchst. d genannte Kriterium der „Berücksichtigung des Faktors ‚Mensch‘ bei der Arbeit“.