Rechtssache C‑318/04
Europäisches Parlament
gegen
Kommission der Europäischen Gemeinschaften
„Streithilfe“
Beschluss des Gerichtshofes (Große Kammer) vom 17. März 2005.
Leitsätze des Beschlusses
Verfahren – Streithilfe – Personen, die ein berechtigtes Interesse haben – Rechtsstreit über die Nichtigerklärung eines Beschlusses
des Rates über die Verarbeitung und Übermittlung personenbezogener Daten durch die Fluggesellschaften – Europäischer Datenschutzbeauftragter
– Zulässigkeit – Bedingungen
(Artikel 286 Absatz 2 EG; Verordnung Nr. 45/2001 des Europäischen Parlaments und des Rates, Artikel 47 Absatz 1 Buchstabe
i)
Artikel 47 Absatz 1 Buchstabe i der Verordnung Nr. 45/2001 zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener
Daten durch die Organe und Einrichtungen der Gemeinschaft und zum freien Datenverkehr verleiht dem Europäischen Datenschutzbeauftragten
innerhalb der Grenzen, die sich aus der ihm übertragenen Aufgabe ergeben, ein Recht zum Streitbeitritt in den beim Gerichtshof
anhängigen Verfahren.
Gemäß Artikel 41 Absatz 2 der Verordnung Nr. 45/2001 ist diese Aufgabe beratender Natur und bezieht sich auf die Verarbeitung
personenbezogener Daten durch die Organe und Einrichtungen der Gemeinschaft sowie die Aufgaben nach Artikel 46 dieser Verordnung
und die Befugnisse nach deren Artikel 47.
Daher ist der Streibeitritt des Europäischen Datenschutzbeauftragten in einer Rechtssache zulässig, die einen Rechtsakt zum
Gegenstand hat, der die Verarbeitung personenbezogener Daten durch die Fluggesellschaften betrifft. Denn es geht um einen
Fall, der zu seiner Aufgabe gehört.
(vgl. Randnrn. 14-18)
-
BESCHLUSS DES GERICHTSHOFES (Große Kammer)
17. März 2005(1)
„Streithilfe“
In der Rechtssache C-318/04betreffend eine Nichtigkeitsklage nach Artikel 230 EG, eingereicht am 27. Juli 2004,
Europäisches Parlament , vertreten durch H. Duintjer Tebbens und A. Caiola als Bevollmächtigte, Zustellungsanschrift in Luxemburg,
Kläger,
gegen
Kommission der Europäischen Gemeinschaften , vertreten durch P. Kuijper, F. Benyon, C. Docksey und A. van Solinge als Bevollmächtigte, Zustellungsanschrift in Luxemburg,
Beklagte,
unterstützt durch Vereinigtes Königreich Großbritannien und Nordirland, vertreten durch M. Bethell als Bevollmächtigten, Zustellungsanschrift in Luxemburg,
Streithelfer,
erlässt
DER GERICHTSHOF (Große Kammer)
unter Mitwirkung des Präsidenten V. Skouris, der Kammerpräsidenten P. Jann, C. W. A. Timmermans, A. Rosas und A. Borg Barthet,
des Richters R. Schintgen, der Richterin N. Colneric (Berichterstatterin) sowie der Richter S. von Bahr, J. N. Cunha Rodrigues,
M. Ilešič, J. Malenovský, J. Klučka und U. Lõhmus,
Generalanwalt: P. Léger,
Kanzler: R. Grass,
nach Anhörung des Generalanwalts,
folgenden
Beschluss
- 1
Das Europäische Parlament beantragt mit seiner Klageschrift die Nichtigerklärung der Entscheidung 2004/535/EG der Kommission
vom 14. Mai 2004 über die Angemessenheit des Schutzes der personenbezogenen Daten, die in den Passenger Name Records enthalten
sind, welche dem United States Bureau of Customs and Border Protection übermittelt werden (ABl. L 235, S. 11).
- 2
Der Europäische Datenschutzbeauftragte (im Folgenden: Datenschutzbeauftragter), vertreten durch H. Hijmans als Bevollmächtigten,
hat mit Schriftsatz, der am 21. Oktober 2004 bei der Kanzlei des Gerichtshofes eingegangen ist, beantragt, in der Rechtssache
C‑318/04 als Streithelfer zur Unterstützung der Anträge des Parlaments zugelassen zu werden.
- 3
Dieser Antrag ist auf der Grundlage von Artikel 47 Absatz 1 Buchstabe i der Verordnung (EG) Nr. 45/2001 des Europäischen Parlaments
und des Rates vom 18. Dezember 2000 zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten durch die
Organe und Einrichtungen der Gemeinschaft und zum freien Datenverkehr (ABl. 2001, L 8, S. 1) sowie von Artikel 93 der Verfahrensordnung
gestellt worden.
- 4
In Artikel 47 Absatz 1 der Verordnung Nr. 45/2001 heißt es:
„Der Europäische Datenschutzbeauftragte kann
…
- h)
- unter den im Vertrag vorgesehenen Bedingungen den Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften anrufen;
- i)
- beim Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften anhängigen Verfahren beitreten.“
-
- Vor dem Gerichtshof abgegebene Erklärungen
- 5
Der Datenschutzbeauftragte macht geltend, dass Artikel 286 Absatz 2 EG, wonach der Rat der Europäischen Union eine unabhängige
Kontrollinstanz errichtet, die für die Überwachung der Anwendung der Rechtsakte der Gemeinschaft über den Schutz natürlicher
Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten verantwortlich ist, mit der Verordnung Nr. 45/2001 durchgeführt worden
sei.
- 6
Das aufgrund dieser Verordnung erteilte Mandat solle auch sicherstellen, dass auf dem Gebiet der Verarbeitung personenbezogener
Daten die Grundrechte und Grundfreiheiten in allen Gemeinschaftspolitiken geachtet würden.
- 7
Da der Datenschutzbeauftragte nicht in der Liste des Artikels 7 Absatz 1 EG als Gemeinschaftsorgan aufgeführt sei und daher
weder diese Bestimmung noch Artikel 40 der Satzung des Gerichtshofes als Rechtsgrundlage für seinen Antrag dienen könnten,
sei sein Antrag auf Zulassung als Streithelfer gemäß Artikel 47 Absatz 1 Buchstabe i der Verordnung Nr. 45/2001 begründet.
- 8
Jede andere Auslegung dieser Vorschrift würde nach Ansicht des Datenschutzbeauftragten dazu führen, dass sie wegen Verstoßes
gegen die Satzung des Gerichtshofes ungültig würde oder dass das dem Datenschutzbeauftragten verliehene Recht seines materiellen
Gehalts vollständig beraubt würde.
- 9
Die Grenze des Rechts zum Streitbeitritt des Datenschutzbeauftragten ergebe sich allein aus der Aufgabe, die ihm übertragen
worden sei. Im vorliegenden Fall betreffe der Streit Gemeinschaftsmaßnahmen auf dem Gebiet der Verarbeitung personenbezogener
Daten. Die Kommission – und der Rat in der Rechtssache C‑317/04 – hätten im Rahmen der Außenpolitik der Gemeinschaft gehandelt.
Außerdem sei den Gründen, auf die das Parlament seine Klage stütze, zu entnehmen, dass die Maßnahmen der betroffenen Organe
tatsächlich oder zumindest mutmaßlich Auswirkungen auf die Anwendung der Richtlinie 95/46/EG des Europäischen Parlaments und
des Rates vom 24. Oktober 1995 zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten und zum freien
Datenverkehr (ABl. L 281, S. 31) hätten.
- 10
Die Kommission der Europäischen Gemeinschaften hat am 25. November 2004 eine schriftliche Stellungnahme zum Streithilfeantrag
des Datenschutzbeauftragten eingereicht, in der sie beantragt, den Antrag als unzulässig oder, hilfsweise, als unbegründet
zurückzuweisen.
- 11
Sie macht geltend, durch Artikel 47 Absatz 1 Buchstabe i der Verordnung Nr. 45/2001, der zum Sekundärrecht gehöre, könne nicht
von Artikel 40 der Satzung des Gerichtshofes abgewichen werden, die ebenso wie der EG‑Vertrag selbst den Rang von Primärrecht
habe.
- 12
Hilfsweise trägt die Kommission vor, es könne nicht angenommen werden, dass der Datenschutzbeauftragte ein berechtigtes Interesse
am Ausgang des Rechtsstreits im Sinne von Artikel 40 Absatz 2 der Satzung des Gerichtshofes habe. Denn der Datenschutzbeauftragte
habe die Aufgabe, die Verarbeitung der Daten durch ein Organ oder eine Einrichtung der Gemeinschaft zu überwachen, wohingegen
der vorliegende Fall den Erlass einer gesetzgeberischen Maßnahme in Bezug auf die Datenverarbeitung durch Fluggesellschaften,
insbesondere die Übermittlung von Fluggastdaten, die in den Reservierungssystemen dieser Gesellschaften gespeichert seien
und in keinem Fall von einem Organ oder einer Einrichtung der Gemeinschaft verarbeitet würden, an die amerikanischen Behörden
betreffe.
- 13
Am 23. November 2004 hat auch das Parlament eine Stellungnahme zum Streithilfeantrag des Datenschutzbeauftragten abgegeben,
in der es zu dem Ergebnis kommt, dass der Antrag im Hinblick auf die Aufgabe des Datenschutzbeauftragten, wie sie u. a. in
Artikel 41 Absatz 2 der Verordnung Nr. 45/2001 beschrieben sei, berechtigt erscheine.
Zum Streithilfeantrag
- 14
Der Streithilfeantrag ist auf der Grundlage von Artikel 47 Absatz 1 Buchstabe i der Verordnung Nr. 45/2001 gestellt worden,
wonach der Datenschutzbeauftragte beim Gerichtshof anhängigen Verfahren beitreten kann.
- 15
Diese Regelung ist aufgrund von Artikel 286 Absatz 2 EG erlassen worden, der vorsieht, dass der Rat eine unabhängige Kontrollinstanz
errichtet, die für die Überwachung der Anwendung der Rechtsakte der Gemeinschaft über den Schutz natürlicher Personen bei
der Verarbeitung personenbezogener Daten und dem freien Verkehr solcher Daten auf die Organe und Einrichtungen der Gemeinschaft
verantwortlich ist, und erforderlichenfalls andere einschlägige Bestimmungen erlässt. Mit dem Erlass von Artikel 47 Absatz
1 Buchstabe i der Verordnung Nr. 45/2001 hat der Rat nicht die Befugnisse überschritten, die ihm aufgrund von Artikel 286
Absatz 2 EG verliehen sind, da diese Maßnahme die praktische Wirksamkeit des betreffenden Artikels gewährleisten soll.
- 16
Wie der Datenschutzbeauftragte selbst feststellt, besteht sein Recht zum Streitbeitritt zwar nur innerhalb der Grenzen, die
sich aus der ihm übertragenen Aufgabe ergeben.
- 17
Daraus, dass es in der vorliegenden Rechtssache um eine gesetzgeberische Maßnahme geht, die die Verarbeitung personenbezogener
Daten durch die Fluggesellschaften betrifft, folgt aber nicht, dass es sich um einen Fall handelt, der nicht zur Aufgabe des
Datenschutzbeauftragten gehört.
- 18
Der Datenschutzbeauftragte ist nämlich gemäß Artikel 41 Absatz 2 Unterabsatz 2 der Verordnung Nr. 45/2001 nicht nur zuständig
für die Überwachung und Durchsetzung der Anwendung der Bestimmungen dieser Verordnung und aller anderen Rechtsakte der Gemeinschaft
zum Schutz der Grundrechte und Grundfreiheiten natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten durch ein
Organ oder eine Einrichtung der Gemeinschaft, sondern auch für die Beratung der Organe und Einrichtungen der Gemeinschaft
in allen die Verarbeitung personenbezogener Daten betreffenden Angelegenheiten. Diese beratende Aufgabe bezieht sich nicht
nur auf die Verarbeitung personenbezogener Daten durch diese Organe oder Einrichtungen. Zu diesen Zwecken erfüllt er die Aufgaben
nach Artikel 46 der Verordnung Nr. 45/2001 und übt die Befugnisse nach deren Artikel 47 aus.
- 19
Nach alledem ist dem Antrag des Datenschutzbeauftragten auf Zulassung als Streithelfer stattzugeben.
Kosten
- 20
Da dem Antrag des Datenschutzbeauftragten auf Zulassung als Streithelfer stattgegeben wird, bleibt die Entscheidung über die
mit diesem Streitbeitritt verbundenen Kosten vorbehalten.
-
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Große Kammer) beschlossen:
- 1.
- Der Europäische Datenschutzbeauftragte wird in der Rechtssache C‑318/04 als Streithelfer zur Unterstützung der Anträge des
Europäischen Parlaments zugelassen.
- 2.
- Dem Europäischen Datenschutzbeauftragten wird eine Frist zur Begründung seiner Anträge gesetzt.
- 3.
- Dem Europäischen Datenschutzbeauftragten werden durch die Kanzlei Abschriften aller Verfahrensschriftstücke übermittelt.
- 4.
- Die Entscheidung über die mit dem Streitbeitritt des Europäischen Datenschutzbeauftragten verbundenen Kosten bleibt vorbehalten.
Unterschriften.
- 1 –
- Verfahrenssprache: Französisch.