Rechtssache C‑472/03
Staatssecretaris van Financiën
gegen
Arthur Andersen & Co. Accountants c.s.
(Vorabentscheidungsersuchen des Hoge Raad der Nederlanden)
„Sechste Mehrwertsteuerrichtlinie – Artikel 13 Teil B Buchstabe a – Steuerbefreiungen für zu Versicherungsumsätzen gehörende Dienstleistungen, die von Versicherungsmaklern und ‑vertretern erbracht
werden – Lebensversicherung – Backoffice-Tätigkeiten“
Schlussanträge des Generalanwalts M. Poiares Maduro vom 12. Januar 2005
Urteil des Gerichtshofes (Erste Kammer) vom 3. März 2005
Leitsätze des Urteils
Steuerrecht – Harmonisierung – Umsatzsteuern – Gemeinsames Mehrwertsteuersystem – Befreiungen nach der Sechsten Richtlinie
– Befreiung von zu Versicherungsumsätzen gehörenden Dienstleistungen, die von Versicherungsmaklern und -vertretern durchgeführt
werden – Begriff – Backoffice-Tätigkeiten, die darin bestehen, einem Versicherungsunternehmen bei der Ausführung seiner Tätigkeiten
zu helfen – Ausschluss
(Richtlinie 77/388 des Rates, Artikel 13 Teil B Buchstabe a)
Artikel 13 Teil B Buchstabe a der Sechsten Richtlinie 77/388, der die Befreiung von Versicherungs- und Rückversicherungsumsätzen
einschließlich bestimmter zu diesen Umsätzen gehörender Dienstleistungen von der Mehrwertsteuer betrifft, ist dahin auszulegen,
dass Backoffice-Tätigkeiten, die darin bestehen, gegen Vergütung Dienstleistungen für ein Versicherungsunternehmen zu erbringen,
keine zu Versicherungsumsätzen gehörenden Dienstleistungen, die von Versicherungsmaklern oder ‑vertretern erbracht werden,
im Sinne dieser Vorschrift darstellen.
Da diese Dienstleistungen nämlich zum einen Besonderheiten aufweisen, wie die Festsetzung und die Auszahlung der Provisionen
der Versicherungsvertreter, das Halten der Kontakte mit diesen, die Verwaltung von Rückversicherungsangelegenheiten und die
Weitergabe von Informationen an die Versicherungsvertreter und die Finanzverwaltung, und zum anderen wesentliche Aspekte der
Versicherungsvermittlungstätigkeit, wie Kunden zu suchen und diese mit dem Versicherer zusammenzubringen, nicht gegeben sind,
müssen die fraglichen Tätigkeiten als eine Form der Zusammenarbeit gesehen werden, die darin besteht, dem Versicherungsunternehmen
bei der Ausführung der diesem normalerweise obliegenden Tätigkeiten zu helfen, ohne Vertragsbeziehungen zu den Versicherten
zu unterhalten; hierbei handelt es sich um eine Ausgliederung der Tätigkeiten des Versicherungsunternehmens und nicht um Dienstleistungen,
die von einem Versicherungsvertreter erbracht werden.
(vgl. Randnrn. 35-36, 38-39 und Tenor)
-
URTEIL DES GERICHTSHOFES (Erste Kammer)
3. März 2005(1)
„Sechste Mehrwertsteuerrichtlinie – Artikel 13 Teil B Buchstabe a – Steuerbefreiungen für zu Versicherungsumsätzen gehörende Dienstleistungen, die von Versicherungsmaklern und ‑vertretern erbracht
werden – Lebensversicherung – Backoffice-Tätigkeiten“
In der Rechtssache C‑472/03betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Artikel 234 EG, eingereicht vom Hoge Raad der Nederlanden (Niederlande) mit
Entscheidung vom 7. November 2003, beim Gerichtshof eingegangen am 12. November 2003, in dem Verfahren
Staatssecretaris van Financiën
gegen
Arthur Andersen & Co. Accountants c.s.
erlässt
DER GERICHTSHOF (Erste Kammer),
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten P. Jann, des Richters K. Lenaerts (Berichterstatter), der Richterin N. Colneric sowie
der Richter K. Schiemann und E. Juhász,
Generalanwalt: M. Poiares Maduro,
Kanzler: M.-F. Contet, Hauptverwaltungsrätin,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 11. November 2004,unter Berücksichtigung der Erklärungen
- –
der Arthur Andersen & Co. Accountants c.s., vertreten durch R. Vos und P. J. B. G. Schrijver, advocaten,
- –
der niederländischen Regierung, vertreten durch H. G. Sevenster und N. A. J. Bel als Bevollmächtigte,
- –
der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, vertreten durch R. Lyal, A. Weimar und L. Ström‑van Lier als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 12. Januar 2005,
folgendes
Urteil
- 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Artikel 13 Teil B Buchstabe a der Sechsten Richtlinie 77/388/EWG
des Rates vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern – Gemeinsames
Mehrwertsteuersystem: einheitliche steuerpflichtige Bemessungsgrundlage (ABl. L 145, S. 1, im Folgenden: Sechste Richtlinie).
- 2
Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits wegen der Weigerung des Staatssecretaris van Financiën (niederländischer
Staatssekretär für Finanzen), für die von der Arthur Andersen & Co. Accountants c.s. (im Folgenden: Beklagte) im Bereich der
Lebensversicherung ausgeführten Backoffice-Tätigkeiten eine Befreiung von der Mehrwertsteuer zu gewähren.
-
- Rechtlicher Rahmen
Gemeinschaftsrecht
- 3
Nach Artikel 4 Absatz 1 der Sechsten Richtlinie gilt als Steuerpflichtiger, wer eine der in Absatz 2 dieses Artikels genannten
wirtschaftlichen Tätigkeiten selbständig und unabhängig von ihrem Ort ausübt, gleichgültig zu welchem Zweck und mit welchem
Ergebnis.
- 4
Absatz 4 dieses Artikels bestimmt, dass der in Absatz 1 verwendete Begriff „selbständig“ die Lohn- und Gehaltsempfänger und
sonstige Personen von der Besteuerung ausschließt, soweit sie an ihren Arbeitgeber durch einen Arbeitsvertrag oder ein sonstiges
Rechtsverhältnis gebunden sind, das hinsichtlich der Arbeitsbedingungen und des Arbeitsentgelts sowie der Verantwortlichkeit
des Arbeitgebers ein Verhältnis der Unterordnung schafft.
- 5
Artikel 13 Teil B der Sechsten Richtlinie lautet:
„Unbeschadet sonstiger Gemeinschaftsvorschriften befreien die Mitgliedstaaten unter den Bedingungen, die sie zur Gewährleistung
einer korrekten und einfachen Anwendung der nachstehenden Befreiungen sowie zur Verhütung von Steuerhinterziehungen, Steuerumgehungen
und etwaigen Missbräuchen festsetzen, von der Steuer:
- a)
- die Versicherungs- und Rückversicherungsumsätze einschließlich der dazugehörigen Dienstleistungen, die von Versicherungsmaklern
und ‑vertretern erbracht werden;
…“
- 6
Artikel 2 der Richtlinie 77/92/EWG des Rates vom 13. Dezember 1976 über Maßnahmen zur Erleichterung der tatsächlichen Ausübung
der Niederlassungsfreiheit und des freien Dienstleistungsverkehrs für die Tätigkeiten des Versicherungsagenten und des Versicherungsmaklers
(aus ISIC‑Gruppe 630), insbesondere Übergangsmaßnahmen für solche Tätigkeiten (ABl. 1977, L 26, S. 14), die zur Zeit des Sachverhalts
galt, bestimmte:
„(1) Diese Richtlinie gilt für folgende Tätigkeiten, soweit sie zu der Gruppe aus 630 ISIC des Anhangs III des Allgemeinen Programms
zur Aufhebung der Beschränkungen der Niederlassungsfreiheit gehören:
- a)
- die Berufstätigkeit von Personen, die zum Zweck der Herstellung eines Versicherungs- oder Rückversicherungsschutzes als Vermittler
zwischen Versicherungsnehmern und frei von ihnen gewählten Versicherungs- oder Rückversicherungsunternehmen auftreten, den
Abschluss von Versicherungsverträgen vorbereiten und gegebenenfalls bei ihrer Verwaltung und Erfüllung, insbesondere im Schadensfall,
mitwirken;
- b)
- die Berufstätigkeit von Personen, die auf Grund eines oder mehrerer Verträge oder von Vollmachten damit betraut sind, im Namen
und für Rechnung oder nur für Rechnung eines oder mehrerer Versicherungsunternehmen Versicherungsverträge anzubieten, vorzuschlagen
und vorzubereiten oder abzuschließen oder bei deren Verwaltung und Erfüllung, insbesondere im Schadensfall, mitzuwirken;
…
(2) Die vorliegende Richtlinie gilt insbesondere für nachstehende Tätigkeiten, die in den Mitgliedstaaten unter folgenden branchenüblichen
Bezeichnungen ausgeübt werden:
…
b) die in Absatz 1 Buchstabe b) bezeichneten Tätigkeiten:
-
- …
-
- –
- in den Niederlanden :
-
-
- –
- Gevolmachtigd agent
-
-
- –
- Verzekeringsagent
…“
Nationales Recht
- 7
Artikel 11 der Wet op de omzetbelasting 1968 (Umsatzsteuergesetz von 1968) sieht vor:
„1. Unter durch Verordnung festzulegenden Voraussetzungen sind von der Steuer befreit:
…
k) Versicherungen und Dienstleistungen, die von Versicherungsvertretern erbracht werden.“
Sachverhalt und Vorlagefrage
- 8
Zur Zeit des Sachverhalts des Ausgangsverfahrens gehörte zu der in Rotterdam (Niederlande) niedergelassenen Beklagten die
niederländische privatrechtliche Gesellschaft Andersen Consulting Management Consultants (im Folgenden: ACMC).
- 9
Am 26. Mai 1997 schlossen die Royal Nederland Verzekeringsgroep NV, die Universal Leven NV (im Folgenden: UL), eine Gesellschaft,
die über Versicherungsvertreter auf dem Lebensversicherungsmarkt tätig ist, und ACMC einen Vertrag über eine Zusammenarbeit,
der vorsah, dass ACMC im Auftrag von UL verschiedene Tätigkeiten ausführt, die in diesem Vertrag als Backoffice-Tätigkeiten
bezeichnet wurden. ACMC übertrug die Ausführung dieser Tätigkeiten ihrer in demselben Gebäude wie UL ansässigen Abteilung
Accenture Insurance Services (im Folgenden: AIS).
- 10
Die in Rede stehenden Backoffice-Tätigkeiten werden im Vorlagebeschluss wie folgt beschrieben: Entgegennahme von Versicherungsanträgen,
Bearbeitung von Vertrags- und Tarifänderungen, Ausstellung, Verwaltung und Kündigung von Policen, Bearbeitung von Schadensfällen,
Festsetzung der Provisionen und ihre Auszahlung an die Versicherungsvertreter, Organisation und Verwaltung der Informationstechnologie,
Weitergabe von Informationen an UL und die Versicherungsvertreter, Erstellung von Berichten an die Versicherungsnehmer und
Dritte wie den Fiscale Inlichtingen- en Opsporingsdienst (Dienst für Steuerauskünfte und ‑ermittlungen). Wenn sich aufgrund
der Angaben einer Person, die den Abschluss einer Versicherung beantragt, eine ärztliche Untersuchung als notwendig erweist,
entscheidet UL über die Annahme des Risikos, während im umgekehrten Fall ACMC die Entscheidung trifft, die dann UL bindet.
AIS obliegen nahezu alle Kontakte mit den Versicherungsvertretern.
- 11
UL hat einen Personalbestand von 2,9 Vollzeitäquivalenten (im Folgenden: VZÄ), während AIS 17 VZÄ für die Backoffice-Tätigkeiten
einsetzt. Das Personal von AIS hat eine Ausbildung im Bereich Lebensversicherung.
- 12
Der Vertrag über die Zusammenarbeit sieht die Errichtung von zwei Ausschüssen vor, des „Review Committee“ und des „Operating
Committee“, die sich aus Vertretern von UL und ACMC zusammensetzen und deren Aufgabe es ist, die Zusammenarbeit zwischen UL
und AIS zu bewerten, darüber zu wachen, dass die Bedingungen der Zusammenarbeit beachtet werden, einen Plan für die Backoffice-Tätigkeiten
zu erstellen, die Entwicklungen im Versicherungsbereich und deren Auswirkungen auf diese Tätigkeiten zu erörtern und möglicherweise
entstehende Streitigkeiten im Zusammenhang mit dem Vertrag zu schlichten. Er sieht die Ernennung eines „Service Managers“
und eines „Operational Managers“ vor, denen es obliegt, eine tägliche Abstimmung zwischen UL und AIS sicherzustellen, um die
Effizienz der Backoffice-Tätigkeiten zu gewährleisten. Er enthält eine Ausschließlichkeitsklausel, die es ACMC untersagt,
für Dritte Backoffice-Tätigkeiten auszuführen, die mit denen vergleichbar sind, die sie zugunsten von UL ausführt. Er sieht
für die Backoffice-Tätigkeiten eine nach dem Versicherungsbestand und den Prämieneinnahmen berechnete Vergütung und eine Mindestvergütung
vor.
- 13
In ihrer Steuererklärung für den Monat September 1998 gab die Beklagte an, dass sie Umsatzsteuer in Höhe eines Betrages von
10 000 NLG entrichtet habe. Diese Summe ergebe sich aus der Differenz zwischen der Umsatzsteuer auf die UL in diesem Zeitraum
für die Backoffice-Tätigkeiten in Rechnung gestellte Vergütung einerseits und der für diesen Posten abgezogenen Umsatzsteuer
andererseits.
- 14
Da sie der Auffassung war, dass die für UL ausgeführten Backoffice-Tätigkeiten nicht der Umsatzsteuer unterliegen, beantragte
die Beklagte beim zuständigen Inspecteur die Erstattung der 10 000 NLG, was abgelehnt wurde. Gegen diese ablehnende Entscheidung
erhob sie Klage beim Gerechtshof te ’s-Gravenhage (Niederlande), der dieser mit Urteil vom 23. Oktober 2001 stattgab. Dieses
Gericht war der Ansicht, dass UL und ACMC mit ihrer Zusammenarbeit ihre jeweilige Sachkunde zusammenführen wollten, um sie
in den Dienst desselben Zieles zu stellen, des gemeinsamen Betriebs eines Versicherungsunternehmens. So könnten die von ACMC
für UL ausgeführten Tätigkeiten nicht als der Umsatzsteuer unterliegende wirtschaftliche Dienstleistungen angesehen werden.
- 15
Der niederländische Staatssekretär für Finanzen legte gegen das Urteil des Gerechtshof te ’s-Gravenhage Kassationsbeschwerde
beim Hoge Raad der Nederlanden ein. Die Beklagte legte ein Anschlussrechtsmittel ein.
- 16
Der Hoge Raad der Nederlanden ist der Ansicht, dass die in Rede stehenden Tätigkeiten nicht als Versicherungsumsätze von der
Mehrwertsteuer befreit werden könnten. Zum einen ergebe sich aus den Akten und den Feststellungen des Gerechtshof te ’s-Gravenhage,
dass allein UL die mit der Ausübung von Versicherungstätigkeiten verbundenen Risiken trage, und zum anderen würden die Versicherungsverträge
im Namen von UL und nicht von ACMC geschlossen.
- 17
Dagegen hat er Zweifel hinsichtlich des Begriffes der „Dienstleistungen, die von Versicherungsmaklern und -vertretern erbracht
werden“, im Sinne des Artikels 13 Teil B Buchstabe a der Sechsten Richtlinie. Zwar schienen bestimmte charakteristische Merkmale
dieses Begriffes, wie das Erfordernis einer unmittelbaren Verbindung zwischen dem Steuerpflichtigen und den Versicherten im
vorliegenden Fall nicht gegeben zu sein. Die in Rede stehenden Tätigkeiten seien jedoch zu Versicherungsumsätzen gehörende
Dienstleistungen, in deren Rahmen ACMC weitgehend als Vermittlerin auftrete. Als solche werde ACMC zunächst zwischen den Versicherungsvertretern
und UL tätig, indem sie die von jenen übermittelten Versicherungsanträge bearbeite und sie meistens im Namen von UL abschließe,
dann zwischen UL und den Versicherungsnehmern, indem sie gegenüber diesen während der Laufzeit des Vertrages und im Fall seiner
Kündigung im Namen von UL auftrete.
- 18
Unter diesen Umständen hat der Hoge Raad der Nederlanden beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof die folgende
Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:
Wenn ein Steuerpflichtiger mit einer (Lebens-)Versicherungsgesellschaft einen Vertrag wie den hier in Rede stehenden Vertrag
zwischen ACMC und UL geschlossen hat, der u. a. vorsieht, dass dieser Steuerpflichtige gegen eine bestimmte Vergütung und
mit Hilfe diplomierter Fachkräfte des Versicherungswesens den größten Teil der mit Versicherungsumsätzen verbundenen tatsächlichen
Handlungen ausführt – darunter in der Regel die Fassung von für die Versicherungsgesellschaft bindenden Beschlüssen über den
Abschluss von Versicherungsverträgen und der Kontakte zu den Vermittlern und gegebenenfalls den Versicherten –, während die
Versicherungsverträge im Namen der Versicherungsgesellschaft geschlossen werden und diese das Versicherungsrisiko trägt, fallen
dann die zur Durchführung dieses Vertrages von diesem Steuerpflichtigen ausgeführten Tätigkeiten unter den Begriff der „dazugehörigen
Dienstleistungen, die von Versicherungsmaklern und -vertretern erbracht werden“, im Sinne von Artikel 13 Teil B Buchstabe
a der Sechsten Richtlinie?
- 19
Mit Schreiben vom 5. Januar 2004 hat das vorlegende Gericht die Parteien gefragt, ob sie der Ansicht seien, dass die Vorlagefrage
angesichts des Urteils des Gerichtshofes vom 20. November 2003 in der Rechtssache C‑8/01 (Taksatorringen, Slg. 2003, I‑0000)
zurückgezogen werden sollte. Nach Eingang der Antworten der Parteien hat es mit Schreiben vom 11. Februar 2004 mitgeteilt,
dass es sein Vorabentscheidungsersuchen aufrechterhalte.
Zur Vorlagefrage
- 20
Vorab ist das Vorbringen der Beklagten in ihren schriftlichen Erklärungen zurückzuweisen, wonach ACMC in einem Unterordnungsverhältnis
zu UL stehe, so dass die fraglichen Tätigkeiten nach Artikel 4 Absatz 4 der Sechsten Richtlinie von der Mehrwertsteuer ausgeschlossen
seien.
- 21
Die Verwendung der Begriffe „Lohn- und Gehaltsempfänger“ und „Arbeitgeber“ in dieser Bestimmung zeigt nämlich, dass der dort
vorgesehene Ausschluss von der Besteuerung ein Arbeitsverhältnis voraussetzt, das zwischen ACMC und UL offenkundig nicht vorliegt.
- 22
Außerdem besteht, wie im Vorlagebeschluss ausgeführt wird und von der Beklagten nicht bestritten wurde, keine Vertragsbeziehung
zwischen ACMC und den Versicherungsnehmern, da die Versicherungsverträge im Namen von UL geschlossen werden. Das vorlegende
Gericht geht somit zu Recht davon aus, dass die Tätigkeiten von ACMC keine Versicherungsumsätze im Sinne des Artikels 13 Teil
B Buchstabe a der Sechsten Richtlinie sind (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 8. März 2001 in der Rechtssache C‑240/99, Skandia,
Slg. 2001, I‑1951, Randnrn. 41 und 43).
- 23
Folglich geht es in der vorliegenden Rechtssache ausschließlich darum, den Begriff der „zu Versicherungsumsätzen gehörigen
Dienstleistungen, die von Versicherungsmaklern und -vertretern erbracht werden“, im Sinne des Artikels 13 Teil B Buchstabe
a der Sechsten Richtlinie auszulegen und zu klären, ob dieser Begriff, der in der Richtlinie nicht definiert wird, Tätigkeiten
wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden erfasst.
- 24
Die Begriffe, mit denen die Steuerbefreiungen nach Artikel 13 der Sechsten Richtlinie umschrieben sind, sind eng auszulegen,
da diese Steuerbefreiungen Ausnahmen von dem allgemeinen Grundsatz darstellen, dass jede Dienstleistung, die ein Steuerpflichtiger
gegen Entgelt erbringt, der Mehrwertsteuer unterliegt (Urteile Skandia, Randnr. 32, und Taksatorringen, Randnr. 36).
- 25
Nach ebenfalls ständiger Rechtsprechung sind diese Steuerbefreiungen autonome gemeinschaftsrechtliche Begriffe, die eine von
Mitgliedstaat zu Mitgliedstaat unterschiedliche Anwendung des Mehrwertsteuersystems vermeiden sollen und bei denen der Gesamtzusammenhang
des gemeinsamen Mehrwertsteuersystems zu beachten ist (Urteil Skandia, Randnr. 23).
- 26
Im vorliegenden Fall betont die Beklagte, dass es sich bei dem Personal von AIS, dem ACMC die Ausführung der in Rede stehenden
Tätigkeiten übertragen hat, um Fachkräfte im Bereich der Lebensversicherung handele und dass diese Tätigkeiten zu Versicherungsumsätzen
gehörten.
- 27
Wie die Beklagte selbst in der mündlichen Verhandlung eingeräumt hat, genügen diese beiden Faktoren jedoch nicht, um aus ACMC
einen Versicherungsvertreter zu machen. Zu prüfen ist nämlich auch, ob die in Rede stehenden Tätigkeiten denen eines Versicherungsvertreters
entsprechen.
- 28
Die Beklagte ist der Ansicht, dass dies der Fall sei. ACMC stehe sowohl zum Versicherer UL als auch zu den Versicherungsnehmern
und den Empfängern der Versicherungsleistungen in Beziehung.
- 29
Nach den Angaben im Vorlagebeschluss ist ACMC bei der Ausführung ihrer Tätigkeiten durch eine Ausschließlichkeitsklausel zugunsten
von UL gebunden (vgl. Randnr. 12 dieses Urteils). Sie verfügt somit nicht über die Wahlfreiheit in Bezug auf den Versicherer,
die für die in Artikel 2 Absatz 1 Buchstabe a der Richtlinie 77/92 beschriebene Berufstätigkeit eines Versicherungsmaklers
kennzeichnend ist.
- 30
Die Beklagte trägt vor, dass die Tätigkeiten von ACMC identisch seien mit denen des „gevolmachtigd agent“ (bevollmächtigter
Vertreter) nach Artikel 2 Absatz 2 Buchstabe b der Richtlinie 77/92, die in Absatz 1 Buchstabe b dieses Artikels beschrieben
seien. In der mündlichen Verhandlung hat sie hervorgehoben, dass ACMC sowohl bei der Unterzeichnung des Vertrages als auch
bei dessen Durchführung die Befugnis habe, UL gegenüber den Versicherungsnehmern und den Empfängern der Versicherungsleistungen
zu verpflichten.
- 31
Hierzu ist darauf hinzuweisen, dass im Zusammenhang mit der Sechsten Richtlinie zwar entschieden worden ist, dass die in Artikel
2 Absatz 1 Buchstabe b der Richtlinie 77/92 beschriebene Berufstätigkeit „die Befugnis [umfasst], den Versicherer gegenüber
dem Versicherten, dem ein Schaden entstanden ist, zu verpflichten“ (Urteil Taksatorringen, Randnr. 45).
- 32
Aus dieser Rechtsprechung kann jedoch, wie der Generalanwalt in Nummer 31 seiner Schlussanträge ausführt, nicht geschlossen
werden, dass die Befugnis, den Versicherer zu verpflichten, das entscheidende Kriterium dafür ist, eine Person als Versicherungsvertreter
im Sinne des Artikels 13 Teil B Buchstabe a der Sechsten Richtlinie anzusehen. Die Anerkennung der Eigenschaft eines Versicherungsvertreters
setzt vielmehr eine Prüfung des Inhalts der in Rede stehenden Tätigkeiten voraus.
- 33
Unabhängig von der Frage, ob ACMC im Rahmen dieser Tätigkeiten zugleich zum Versicherer und zu den Versicherungsnehmern in
Beziehung steht, was nach der Rechtsprechung Voraussetzung für die Anerkennung als Versicherungsvertreter ist (Urteil Taksatorringen,
Randnr. 44), ergibt sich in dieser Hinsicht aus den Angaben im Vorlagebeschluss, ergänzt durch die Erläuterungen der Beklagten
in ihren schriftlichen Erklärungen, dass die Tätigkeiten der ACMC darin bestehen, Versicherungsanträge zu bearbeiten, die
zu versichernden Risiken zu bewerten, die Notwendigkeit einer ärztlichen Untersuchung zu beurteilen, über die Annahme des
Risikos zu entscheiden, wenn sich eine solche Untersuchung als nicht erforderlich erweist, Versicherungspolicen auszustellen,
zu verwalten und zu kündigen sowie Tarif- und Vertragsänderungen vorzunehmen, die Prämien zu erheben, Schadensfälle zu bearbeiten,
die Provisionen der Versicherungsvertreter festzusetzen und auszuzahlen, die Kontakte zu diesen zu halten, Rückversicherungsangelegenheiten
zu bearbeiten sowie Versicherungsnehmern und Versicherungsvertretern ebenso wie anderen Interessierten, wie den Finanzbehörden,
Informationen zur Verfügung zu stellen.
- 34
Angesichts dieser Angaben ist festzustellen, dass die von ACMC an UL erbrachten Dienstleistungen, die, obwohl sie zum wesentlichen
Inhalt der Tätigkeiten eines Versicherungsunternehmens beitragen, keine Versicherungsumsätze im Sinne des Artikels 13 Teil
B Buchstabe a der Sechsten Richtlinie sind (vgl. Randnr. 22 dieses Urteils), auch keine für einen Versicherungsvertreter charakteristischen
Leistungen darstellen.
- 35
Diese Dienstleistungen weisen nämlich Besonderheiten auf, wie die Festsetzung und die Auszahlung der Provisionen der Versicherungsvertreter,
das Halten der Kontakte mit diesen, die Verwaltung von Rückversicherungsangelegenheiten und die Weitergabe von Informationen
an die Versicherungsvertreter und die Finanzverwaltung, die offenkundig nicht zu den Tätigkeiten eines Versicherungsvertreters
gehören.
- 36
Wie die Kommission der Europäischen Gemeinschaften in ihren schriftlichen Erklärungen vorgetragen hat und wie der Generalanwalt
in Nummer 32 seiner Schlussanträge ausführt, sind im vorliegenden Fall wesentliche Aspekte der Versicherungsvermittlungstätigkeit,
wie Kunden zu suchen und diese mit dem Versicherer zusammenzubringen, offensichtlich nicht gegeben. Aus dem Vorlagebeschluss
ergibt sich nämlich, ohne dass dies von der Beklagten bestritten worden wäre, dass ACMC erst mit der Bearbeitung der Versicherungsanträge
tätig wird, die ihr von den Versicherungsvertretern geschickt werden, mit deren Hilfe UL auf dem niederländischen Lebensversicherungsmarkt
Kunden anwirbt.
- 37
Wie die Kommission in ihren schriftlichen Erklärungen und in der mündlichen Verhandlung ausgeführt hat, ist der zwischen ACMC
und UL geschlossene Vertrag über die Zusammenarbeit als Subunternehmervertrag zu werten, aufgrund dessen ACMC UL die dieser
fehlenden Arbeitskräfte und Verwaltungsmittel zur Verfügung stellt und für sie eine Reihe von Dienstleistungen erbringt, um
sie bei den mit ihren Versicherungstätigkeiten zusammenhängenden Aufgaben zu unterstützen. Von Bedeutung ist in dieser Hinsicht,
dass nach den Erläuterungen des vorlegenden Gerichts das Personal von UL nur 2,9 VZÄ entspricht, während AIS 17 VZÄ zur Ausführung
der Backoffice-Tätigkeiten einsetzt, und dass das Personal von AIS und das von UL in demselben Gebäude untergebracht ist.
- 38
Die von ACMC für UL erbrachten Dienstleistungen müssen folglich als eine Form der Zusammenarbeit gesehen werden, die darin
besteht, UL gegen Vergütung bei der Ausführung der dieser normalerweise obliegenden Tätigkeiten zu helfen, ohne Vertragsbeziehungen
zu den Versicherten zu unterhalten. Bei derartigen Tätigkeiten handelt es sich um eine Ausgliederung der Tätigkeiten von UL
und nicht um Dienstleistungen, die von einem Versicherungsvertreter erbracht werden (vgl. entsprechend Urteil vom 13. Dezember
2001 in der Rechtssache C‑235/00, CSC Financial Services, Slg. 2001, I‑10237, Randnr. 40).
- 39
Nach alldem ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass Artikel 13 Teil B Buchstabe a der Sechsten Richtlinie dahin auszulegen
ist, dass Backoffice-Tätigkeiten, die darin bestehen, gegen Vergütung Dienstleistungen für ein Versicherungsunternehmen zu
erbringen, keine zu Versicherungsumsätzen gehörende Dienstleistungen, die von Versicherungsmaklern oder ‑vertretern erbracht
werden, im Sinne dieser Vorschrift darstellen.
Kosten
- 40
Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen
Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von
Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.
-
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Erste Kammer) für Recht erkannt:
Artikel 13 Teil B Buchstabe a der Sechsten Richtlinie 77/388/EWG des Rates vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften
der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern – Gemeinsames Mehrwertsteuersystem: einheitliche steuerpflichtige Bemessungsgrundlage
ist dahin auszulegen, dass Backoffice‑Tätigkeiten, die darin bestehen, gegen Vergütung Dienstleistungen für ein Versicherungsunternehmen
zu erbringen, keine zu Versicherungsumsätzen gehörende Dienstleistungen, die von Versicherungsmaklern oder ‑vertretern erbracht
werden, im Sinne dieser Vorschrift darstellen.
Unterschriften.
- 1 –
- Verfahrenssprache: Niederländisch.