SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS
PHILIPPE LÉGER
vom 10. März 2005(1)



Rechtssache C-287/03



Kommission der Europäischen Gemeinschaften
gegen
Königreich Belgien



„Vertragsverletzung eines Mitgliedstaats – Dienstleistungsfreiheit – Kundenbindungsprogramme – Anwendung nationalen Rechts – Der Kommission obliegende Beweislast für die Vertragsverletzung“






1.        Nach belgischem Recht sind Kopplungsgeschäfte mit Waren oder Dienstleistungen grundsätzlich untersagt. Eine Ausnahme von diesem grundsätzlichen Verbot gilt jedoch dann, wenn gekoppelt mit dem Erwerb einer Hauptware oder ‑dienstleistung kostenlos Berechtigungsscheine angeboten werden, die nach mehreren Käufen Anrecht auf ein kostenloses Angebot oder eine Preisermäßigung geben, sofern dieser Vorteil eine gleichartige Ware oder Dienstleistung betrifft und von ein und demselben Verkäufer eingeräumt wird.

2.        Im Rahmen der vorliegenden Klage beantragt die Kommission der Europäischen Gemeinschaften im Wesentlichen die Feststellung, dass das Königreich Belgien dadurch gegen seine Verpflichtungen aus Artikel 49 EG verstoßen hat, dass es die Bedingungen der „Gleichartigkeit“ und „desselben Verkäufers“ als Voraussetzung für die Durchführung eines Kundenbindungsprogramms in diesem Mitgliedstaat in diskriminierender und unverhältnismäßiger Weise anwende.

3.        Diese Rechtssache betrifft den Bereich der Verkaufsförderung, der bereits Gegenstand von Arbeiten auf Gemeinschaftsebene war, auch wenn der Gemeinschaftsgesetzgeber bis heute noch keine Regelung erlassen hat (2) .

4.        Insbesondere erlaubt es mir die vorliegende Klage, zu erläutern, welche Voraussetzungen meines Erachtens die Regelung umfasst, dass im Rahmen eines Verfahrens nach Artikel 226 EG die Kommission die Beweislast für das Vorliegen eines Verstoßes eines Mitgliedstaats gegen seine gemeinschaftsrechtlichen Verpflichtungen trägt.

I – Rechtlicher Rahmen

A – Gemeinschaftsrecht

5.        Artikel 49 Absatz 1 EG lautet:

„Die Beschränkungen des freien Dienstleistungsverkehrs innerhalb der Gemeinschaft für Angehörige der Mitgliedstaaten, die in einem anderen Staat der Gemeinschaft als demjenigen des Leistungsempfängers ansässig sind, sind nach Maßgabe der folgenden Bestimmungen verboten.“

B – Nationales Recht

6.        Nach Artikel 54 des belgischen Gesetzes vom 14. Juli 1991 über die Handelspraktiken sowie die Aufklärung und den Schutz der Verbraucher (3) (im Folgenden: belgisches Gesetz) „dürfen Verkäufer Verbrauchern keine Kopplungsgeschäfte anbieten“. Ein Kopplungsgeschäft ist gegeben, wenn „der entgeltliche oder kostenlose Erwerb von Waren, Dienstleistungen, sonstigen Vorteilen oder von Scheinen, die zu ihrem Erwerb berechtigen, an den Erwerb sonstiger, selbst identischer Waren oder Dienstleistungen gebunden ist“. Ebenfalls untersagt sind Kopplungsgeschäfte, die „mehrere in gemeinsamer Absicht handelnde Verkäufer“ Verbrauchern anbieten.

7.        Es gibt allerdings Ausnahmen von diesem Verbot der Kopplungsgeschäfte. So dürfen nach Artikel 57 des belgischen Gesetzes Berechtigungsscheine, die dem Verbraucher ein Anrecht auf bestimmte Vorteile geben, gekoppelt mit einer Hauptware oder ‑dienstleistung kostenlos angeboten werden.

8.        Die in Artikel 57 Nummern 1 bis 3 aufgeführten Berechtigungsscheine dürfen nach Artikel 59 Absatz 1 des belgischen Gesetzes nur von Wirtschaftsteilnehmern ausgegeben werden, die beim zuständigen Ministerium eingetragen sind.

9.        Dagegen sieht Artikel 57 Nummer 4 des Gesetzes eine Ausnahme vom Verbot der Kopplungsgeschäfte vor, die auch Wirtschaftsteilnehmer ohne eine derartige Eintragung nutzen können.

10.      Genauer gesagt gestattet es Artikel 57 Nummer 4 Absatz 1 des belgischen Gesetzes den Wirtschaftsteilnehmern, gekoppelt mit einer Hauptware oder ‑dienstleistung „Berechtigungsscheine in Form von Papier [anzubieten], die nach dem Erwerb einer gewissen Anzahl Waren beziehungsweise Dienstleistungen Anrecht auf ein kostenloses Angebot oder auf eine Preisermäßigung beim Erwerb einer gleichartigen Ware oder Dienstleistung geben, sofern dieser Vorteil von ein und demselben Verkäufer eingeräumt wird und höchstens ein Drittel des Preises der vorher erworbenen Waren beziehungsweise Dienstleistungen beträgt“.

11.      Weiter heißt es in Artikel 57 Nummer 4: „Auf den Berechtigungsscheinen müssen gegebenenfalls das Ende der Gültigkeitsdauer und die Modalitäten des Angebots angegeben werden. Falls der Verkäufer sein Angebot einstellt, hat der Verbraucher Anrecht auf den angebotenen Vorteil im Verhältnis zu den vorher gemachten Ankäufen.“

12.      Auf Antrag des Wirtschaftsministeriums, eines betroffenen Wirtschaftsteilnehmers oder einer Vereinigung zum Schutz der Belange der Verbraucher können die Handelsgerichte die Unterlassung eines nicht mit diesen Rechtsvorschriften in Einklang stehenden kostenlosen Angebots von Berechtigungsscheinen anordnen.

II – Vorverfahren

13.      Die Kommission wies das Königreich Belgien mit Schreiben vom 31. März 1999 auf die Frage der Vereinbarkeit der Artikel 54 und 57 des belgischen Gesetzes mit Artikel 49 EG hin. Sie führte darin aus, dass sie durch eine Beschwerde eines in den Niederlanden ansässigen Unternehmens auf diese Frage aufmerksam gemacht worden sei, dessen Tätigkeit in der Durchführung eines Kundenbindungsprogramms namens „Air Miles“ für andere Unternehmen bestehe, das es auf Belgien ausdehnen wolle (4) .

14.      Diese Tätigkeit gestaltet sich wie folgt: Das Unternehmen, das das Programm durchführt, schließt mit so genannten „Sponsoren“ einen Vertrag über die Entwicklung und Verwaltung eines Programms zur Bindung der Kunden an diese Sponsoren. Die Kunden erhalten eine Chipkarte, mit denen sie beim Kauf von Waren oder der Inanspruchnahme von Dienstleistungen bei den Sponsoren „Air Miles“‑Punkte sammeln können. Wenn sie eine bestimmte Anzahl von Punkten erreicht haben, berechtigen diese z. B. zu kostenlosen Reisen.

15.      Das Königreich Belgien beantwortete dieses Aufforderungsschreiben mit Schreiben vom 2. Juni 1999. Es wies darin u. a. darauf hin, dass der Begriff „Gleichartigkeit“ nach der Auslegung durch die nationale Rechtsprechung und Lehre voraussetze, dass die Hauptwaren oder -dienstleistungen und die kostenlos oder zu ermäßigtem Preis angebotenen Waren oder Dienstleistungen gewöhnlich über dieselben Vertriebskanäle verkauft würden und/oder zum selben Wirtschafts- oder Geschäftszweig gehörten.

16.      Da die in dieser Antwort enthaltenen Erläuterungen die Kommission nicht zufrieden stellten, richtete sie am 1. August 2000 eine mit Gründen versehene Stellungnahme an das Königreich Belgien, in der sie diesem Mitgliedstaat im Wesentlichen vorwarf, die im belgischen Gesetz enthaltenen Bedingungen der „Gleichartigkeit“ und „desselben Verkäufers“ in diskriminierender und unverhältnismäßiger Weise anzuwenden. Das Königreich Belgien wurde aufgefordert, der mit Gründen versehenen Stellungnahme innerhalb von zwei Monaten nachzukommen.

17.      Die belgischen Behörden beantworteten diese mit Gründen versehene Stellungnahme mit Schreiben vom 16. Oktober 2000. Darin führten sie im Wesentlichen aus, dass es ihrer Meinung nach angebracht sei, abzuwarten, welche Haltung die Kommission in Bezug auf den Vorschlag einer Gemeinschaftsregelung über Verkaufsförderung einnehme, um die nationalen Rechtsvorschriften zu Kopplungsgeschäften umfassend reformieren zu können, statt nur Artikel 57 Absatz 4 des belgischen Gesetzes punktuell zu ändern.

18.      Da diese Antwort die Kommission ebenfalls nicht überzeugte, hat sie mit Klageschrift, die am 3. Juli 2003 bei der Kanzlei des Gerichtshofes eingegangen ist, nach Artikel 226 EG die vorliegende Klage erhoben.

III – Klage

19.      Die Kommission beantragt mit der vorliegenden Klage, „festzustellen, dass das Königreich Belgien dadurch gegen seine Verpflichtungen aus Artikel 49 EG verstoßen hat, dass es die Bedingungen der ‚Gleichartigkeit‘ und ‚desselben Verkäufers‘ bei den von einem Verbraucher erworbenen Waren und Dienstleistungen einerseits und bei Waren oder Dienstleistungen, die kostenlos oder zu ermäßigten Preisen im Rahmen eines Kundenbindungsprogramms zugänglich gemacht werden, andererseits als Voraussetzung für die Durchführung eines solchen Programms als grenzüberschreitende Dienstleistung zwischen Unternehmen in diskriminierender und unverhältnismäßiger Weise anwendet“. Außerdem beantragt die Kommission, dem Königreich Belgien die Kosten aufzuerlegen.

20.      Das Königreich Belgien beantragt, die Klage als unzulässig oder unbegründet abzuweisen und der Kommission die Kosten aufzuerlegen.

A – Zur Zulässigkeit

21.      Die belgische Regierung macht geltend, dass die Klage aufgrund der überlangen Dauer von fast drei Jahren zwischen der Beantwortung der mit Gründen versehenen Stellungnahme durch das Königreich Belgien und der Klageerhebung beim Gerichtshof unzulässig sei.

22.      Eine so lange Dauer sei nicht mit den Grundsätzen der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes vereinbar. Insbesondere habe sie davon ausgehen dürfen, dass ihre Beantwortung der mit Gründen versehenen Stellungnahme die Kommission zufrieden gestellt habe, da diese während des gesamten Zeitraums nicht widersprochen habe. Daher sei mit der Erhebung der vorliegenden Klage das berechtigte Vertrauen des Königreichs Belgien „überrumpelt“ worden (5) .

23.      Ich halte dieses Vorbringen angesichts der Rechtsprechung des Gerichtshofes zum Zusammenspiel zwischen dem Ermessen der Kommission hinsichtlich Ablauf und Ausgang des Vorverfahrens auf der einen Seite und dem notwendigen Schutz der Verteidigungsrechte eines nach Artikel 226 EG verklagten Mitgliedstaats auf der anderen Seite für unerheblich.

24.      Die Kommission verfügt bekanntermaßen nicht nur in Bezug auf ihre Möglichkeit, den Gerichtshof anzurufen, sondern auch in Bezug auf den ihrer Meinung nach für eine Klageerhebung vor dem Gerichtshof geeigneten Zeitpunkt über Entscheidungsfreiheit. Der Gerichtshof hat diesen Grundsatz wie folgt zum Ausdruck gebracht: „Die … Klage auf Feststellung einer Vertragsverletzung eines Mitgliedstaates ist an keine im Voraus festgelegten Fristen gebunden. Die Kommission ist in diesem Verfahren, wie sich aus dessen Wesen und Zweck ergibt, befugt, die angemessensten Mittel und Fristen zu wählen, um etwaige Vertragsverletzungen abzustellen.“ (6)

25.      Dieser Grundsatz wird jedoch in den Fällen abgeschwächt, in denen „eine überlange Dauer des vorprozessualen Verfahrens … es dem betroffenen Staat unter gewissen Umständen [erschwert], die Argumente der Kommission zu widerlegen, und somit die Vereidigungsrechte beeinträchtig[t]“ (7) . Der von der Vertragsverletzungsklage betroffene Mitgliedstaat trägt also die Beweislast dafür, dass sich diese Dauer des Vorverfahrens nachteilig auf seine Verteidigung ausgewirkt hat.

26.      In dieser Hinsicht – und ohne dass der Gerichtshof sich dazu äußern müsste, ob hier der Zeitraum zwischen der Beantwortung der Gründen versehenen Stellungnahme durch den Mitgliedstaat und der Erhebung der vorliegenden Klage zu lang war – ist meines Erachtens die Feststellung ausreichend, dass das Königreich Belgien nichts vorträgt, durch das konkret nachgewiesen würde, dass diese Verzögerung sich auf die Art und Weise seiner Verteidigung ausgewirkt hätte (8) .

27.      Das gesamte Vorbringen des Königreichs Belgien zielt in Wirklichkeit nur darauf ab, zum einen die Ausübung der Entscheidungsfreiheit hinsichtlich des Ablaufs des Verfahrens nach Artikel 226 EG durch die Kommission und zum anderen die Art und Weise zu beanstanden, in der dieses Verfahren mit den Überlegungen auf Gemeinschaftsebene zum Vorschlag einer Verordnung über Verkaufsförderung koordiniert worden ist.

28.      Außerdem scheint sich das Bestreiten der Zulässigkeit der Klage durch das Königreich Belgien vor allem darauf zu stützen, dass die Kommission die ihr mit Schreiben vom 16. Oktober 2000 gegebene Antwort dieses Mitgliedstaats auf die mit Gründen versehene Stellungnahme anders als durch Klageerhebung hätte beantworten müssen.

29.      Der Gerichtshof hat jedoch bereits entschieden, dass „die Verteidigungsrechte des betroffenen Mitgliedstaats selbst dann nicht verletzt [sind], wenn das gerichtliche Verfahren durch eine Klage der Kommission eingeleitet worden ist, in der mögliche neue Gesichtspunkte tatsächlicher oder rechtlicher Art, die der Staat in seiner Beantwortung der mit Gründen versehenen Stellungnahme vorgebracht hat, nicht berücksichtigt werden. Der Staat kann nämlich im Rahmen des gerichtlichen Verfahrens die betreffenden Gesichtspunkte bereits in seinem ersten Verteidigungsschriftsatz uneingeschränkt geltend machen. Es ist dann Aufgabe des Gerichtshofes, ihre Erheblichkeit für die Entscheidung über die Vertragverletzungsklage zu prüfen.“ (9)

30.      Daher kann man der Kommission auch nicht vorwerfen, zum Vorbringen des Königreichs Belgien in dessen Beantwortung der mit Gründen versehenen Stellungnahme nicht Stellung genommen zu haben.

31.      Nach alledem bin ich daher der Auffassung, dass der Vortrag, mit dem die belgische Regierung die Zulässigkeit der Klage bestreitet, zurückzuweisen ist.

B – Zur Begründetheit

1. Gegenstand der Klage

32.      Für die Würdigung der von der Kommission zur Stützung der vorliegenden Klage vorgebrachten Gründe ist zunächst der Gegenstand der Klage genau zu erfassen.

33.      Wie ich bereits ausgeführt habe, wirft die Kommission dem Königreich Belgien vor, dadurch gegen seine Verpflichtungen aus Artikel 49 EG zu verstoßen, dass es die Bedingungen der „Gleichartigkeit“ und „desselben Verkäufers“ im Sinne von Artikel 57 Nummer 4 Absatz 1 des belgischen Gesetzes als Voraussetzung für die Durchführung eines Kundenbindungsprogramms als grenzüberschreitende Dienstleistung zwischen Unternehmen in diskriminierender und unverhältnismäßiger Weise anwende .

34.      Aus der Klageschrift geht also ausdrücklich hervor, dass sich die vorliegende Klage nicht auf den Wortlaut von Artikel 57 Nummer 4 Absatz 1 des belgischen Gesetzes, sondern allein auf die angeblich diskriminierende und unverhältnismäßige Anwendung der in dieser Vorschrift genannten Bedingungen bezieht.

35.      Dies hat die Kommission im Übrigen in der mündlichen Verhandlung auf Nachfrage des Gerichtshofes ausdrücklich bestätigt.

36.      Der Gegenstand der vorliegenden Klage, wie er von der Kommission konkretisiert worden ist, schließt daher aus, dass der Gerichtshof abstrakt die Vereinbarkeit dieser Vorschrift mit Artikel 49 EG prüft.

37.      Der Gerichtshof ist somit nur angerufen worden, um festzustellen, dass die nationalen Behörden, d. h. die nationale Verwaltung und die nationalen Gerichte, Artikel 57 Nummer 4 Absatz 1 des belgischen Gesetzes in einer gegen Artikel 49 EG verstoßenden Art und Weise anwenden.

2. Beweis der Vertragsverletzung

38.      Da die Kommission ihre Klage ausdrücklich darauf beschränkt hat, dass die im belgischen Gesetz aufgestellten Bedingungen der „Gleichartigkeit“ und „desselben Verkäufers“ in Belgien in diskriminierender und unverhältnismäßiger Weise angewandt würden, hat sie dem Gerichtshof ausreichende Beweismittel vorzulegen, um in dem damit vorgegebenen Rahmen eine Verletzung von Artikel 49 EG durch diesen Mitgliedstaat nachzuweisen.

39.      Insoweit sei daran erinnert, dass es nach ständiger Rechtsprechung im Rahmen eines Vertragsverletzungsverfahrens Sache der Kommission ist, das Vorliegen der behaupteten Vertragsverletzung nachzuweisen und dem Gerichtshof die erforderlichen Anhaltspunkte zu liefern, anhand deren er das Vorliegen dieser Vertragsverletzung prüfen kann, wobei sie sich nicht auf Vermutungen stützen darf (10) .

40.      Ich bin der Meinung, dass die Kommission dem Gerichtshof im vorliegenden Fall nicht genügend Beweismittel vorgelegt hat, um zu beweisen, dass das Königreich Belgien gegen seine Verpflichtungen aus Artikel 49 EG verstoßen hat.

41.      Richtet sich die Klage wie hier gegen die konkrete Durchführung einer nationalen Bestimmung, so ist für den Nachweis einer Vertragsverletzung die Vorlage von Beweismitteln erforderlich, die im Vergleich zu denen, die gewöhnlich im Rahmen einer nur den Inhalt einer nationalen Vorschrift betreffenden Vertragsverletzungsklage herangezogen werden, besonderer Natur sind.

42.      Im letztgenannten Fall, der bei weitem der häufigste ist, kann es zur Darlegung einer Vertragsverletzung ausreichen, den Wortlaut der beanstandeten nationalen Vorschrift dem der einschlägigen Gemeinschaftsvorschrift gegenüberzustellen.

43.      Ist Gegenstand der Vertragsverletzungsklage dagegen die Anwendung einer nationalen Vorschrift, so kann die Vertragsverletzung nur durch einen hinreichend dokumentierten und detaillierten Nachweis der der nationalen Verwaltung und/oder den nationalen Gerichten vorgeworfenen und dem beklagten Mitgliedstaat zuzurechnenden Praxis dargetan werden.

44.      Im vorliegenden Fall ist festzustellen, dass die Kommission diesen Nachweis nicht erbracht hat.

45.      Erstens teile ich in Bezug auf die dem Königreich Belgien vorgeworfene Praxis der nationalen Verwaltung die Ansicht der belgischen Regierung, wonach der Umstand, dass bestimmte in Belgien ansässige Unternehmen Kundenbindungsprogramme entwickeln, die im Hinblick auf Artikel 57 Absatz 4 Unterabsatz 1 des belgischen Gesetzes zu beanstanden sind, ohne dass dagegen auf Betreiben der zuständigen Behörden vor den nationalen Gerichten auf Unterlassung geklagt wird, nicht belegt, dass diese Vorschrift in diskriminierender Weise angewendet wird.

46.      Denn diese von der Kommission geschilderten Beispiele beweisen nicht, dass bei der Anwendung der in dieser Vorschrift genannten Bedingungen durch die belgische Verwaltung danach unterschieden wird, ob das betroffene Unternehmen in Belgien oder außerhalb Belgiens ansässig ist.

47.      Die vom Königreich Belgien in seiner Klagebeantwortung genannten Beispiele zeigen zudem, dass vor den belgischen Gerichten Klagen gegen mit dem belgischen Gesetz unvereinbare Werbekampagnen anhängig gemacht wurden (11) .

48.      Zweitens ist darauf hinzuweisen, dass das Verhalten eines Staates, das in einer gegen die Anforderungen des Gemeinschaftsrechts verstoßenden Praxis besteht, zwar eine Vertragsverletzung im Sinne von Artikel 226 EG darstellen kann (12) , doch muss es sich bei dieser Verwaltungspraxis nach der Rechtsprechung des Gerichtshofes „um eine in bestimmtem Grad verfestigte und allgemeine Praxis handel[n]“ (13) .

49.      Die Kommission erbringt im Rahmen der vorliegenden Klage nicht den Nachweis für das Vorliegen einer Verwaltungspraxis, die die vom Gerichtshof verlangten Eigenschaften der Verfestigung und der Allgemeinheit erfüllt.

50.      So genügt die Berücksichtigung des Sachverhalts, der der Beschwerde des Unternehmens zugrunde liegt, das das Kundenbindungsprogramm „Air Miles“ durchführt, nicht zum Nachweis einer Vertragsverletzung in Form einer gefestigten Praxis, bei der die Bedingungen der „Gleichartigkeit“ und „desselben Verkäufers“ in diskriminierender und unverhältnismäßiger Weise angewendet werden (14) .

51.      Außerdem ist festzustellen, dass das belgische Wirtschaftsministerium die Frage des das Kundenbindungsprogramm „Air Miles“ durchführenden Unternehmens nach der Vereinbarkeit dieses Programms mit dem belgischen Recht zwar verneinte, dass es sich dabei aber lediglich um eine Stellungnahme und nicht um eine Entscheidung handelte, mit der die Ausdehnung des „Air Miles“‑Kundenbindungsprogramms auf Belgien verboten wurde.

52.      Drittens und letztens ist in Bezug auf die Auslegung des Gesetzes durch die belgischen Gerichte daran zu erinnern, dass der Gerichtshof die Bedingungen, unter denen eine nationale Gerichtspraxis eine Vertragsverletzung im Sinne von Artikel 226 EG darstellen kann, genau festgelegt hat (15) .

53.      So hat der Gerichtshof entschieden, dass „isolierte gerichtliche Entscheidungen oder solche, die in einem durch eine andere Ausrichtung gekennzeichneten Rechtsprechungskontext deutlich in der Minderheit sind, oder auch eine vom obersten nationalen Gericht verworfene Auslegung nicht berücksichtigt werden [können]. Dies gilt nicht für eine signifikante richterliche Auslegung, die vom obersten Gericht nicht verworfen oder sogar bestätigt worden ist.“ (16)

54.      Eine nationale Rechtsprechung kann also nur dann eine Vertragsverletzung darstellen, wenn sie „struktureller Natur ist“ (17) .

55.      Im Rahmen einer Vertragsverletzungsklage nach Artikel 226 EG ist es Sache der Kommission, zu beweisen, dass dies der Fall ist.

56.      Die Kommission stützt ihre Prüfung größtenteils auf die Auslegung, die nach belgischem Recht vorgenommen würde und wonach ein Kopplungsgeschäft die Bedingung der „Gleichartigkeit“ erfüllen würde, wenn die Hauptwaren oder -dienstleistungen und die kostenlos oder zu ermäßigtem Preis angebotenen Waren oder Dienstleistungen gewöhnlich über dieselben Vertriebskanäle verkauft werden und zum selben Wirtschafts- oder Geschäftszweig gehören.

57.      Nach Ansicht der Kommission wird das regelmäßige Verbot von Kopplungsgeschäften mit nicht ähnlichen Waren in der Praxis in einer Weise umgangen, die die in Belgien ansässigen und über ein eigenes Vertriebsnetz verfügenden Unternehmen begünstigt. Diese Umgehung der grundsätzlichen Regelung sei durch die Auslegung des Begriffes „Gleichartigkeit“ seitens der Gerichte erleichtert worden (18) .

58.      Die Kommission führt jedoch zur Veranschaulichung der Tendenz in der Rechtsprechung, auf die sie ihre Beurteilung stützt, kein Urteil belgischer Gerichte an.

59.      Das Königreich Belgien hat in seiner Beantwortung des Aufforderungsschreibens zwar selbst dargelegt, dass die nationale Rechtsprechung und Lehre den Begriff „Gleichartigkeit“ dahin ausgelegt haben, dass er voraussetzt, dass die Hauptwaren oder -dienstleistungen und die kostenlos oder zu ermäßigtem Preis angebotenen Waren oder Dienstleistungen gewöhnlich über dieselben Vertriebskanäle verkauft werden und/oder zum selben Wirtschafts- oder Geschäftszweig gehören. Zur Stützung dieser Auslegung beruft es sich auf eine Entscheidung des Tribunal de commerce Brüssel vom 26. Juni 1978 (19) .

60.      Ich bin jedoch der Ansicht, dass dieser Umstand die Kommission nicht davon befreite, dem Gerichtshof genaue Anhaltspunkte vorzulegen, damit dieser die Tendenz in der nationalen Rechtsprechung, auf die sie sich beruft, feststellen und herausarbeiten kann.

61.      Solche näheren Angaben wären hier umso wünschenswerter gewesen, als alle Ausführungen, die das Königreich Belgien in seiner Klagebeantwortung zum Begriff „Gleichartigkeit“ macht, sowie die Ausführungen seines Vertreters in der mündlichen Verhandlung letztlich bestätigen, dass die Auslegung dieses Begriffes durch die belgische Rechtsprechung und Lehre nicht eindeutig ist.

62.      Aufgrund der vorstehenden Erwägungen bin ich der Ansicht, dass die Kommission nicht den Beweis erbracht hat, dass das Königreich Belgien dadurch gegen seine Verpflichtungen aus Artikel 49 EG verstoßen hat, dass es die Bedingungen der „Gleichartigkeit“ und „desselben Verkäufers“ bei den von einem Verbraucher erworbenen Waren und Dienstleistungen einerseits und bei Waren oder Dienstleistungen, die kostenlos oder zu ermäßigten Preisen im Rahmen eines Kundenbindungsprogramms zugänglich gemacht werden, andererseits als Voraussetzung für die Durchführung eines solchen Programms als grenzüberschreitende Dienstleistung zwischen Unternehmen in diskriminierender und unverhältnismäßiger Weise anwendet.

IV – Ergebnis

63.      Daher schlage ich dem Gerichtshof vor, die Klage der Kommission der Europäischen Gemeinschaften wegen unzureichender Beweise abzuweisen und ihr gemäß Artikel 69 § 2 Absatz 1 der Verfahrensordnung die Kosten aufzuerlegen.


1
Originalsprache: Französisch.


2
Vgl. die Mitteilung der Kommission vom 2. Oktober 2001 über die Verkaufsförderung im Binnenmarkt [KOM(2001) 546 endgültig] sowie den geänderten Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25. Oktober 2002 über Verkaufsförderungen im Binnenmarkt [KOM(2002) 585 endgültig]. Gemäß der siebten Begründungserwägung dieses Verordnungsvorschlags ist die Verordnung „auf Treuekarten und Kundenbindungsprogramme von Fluggesellschaften“ anwendbar.


3
. Moniteur belge vom 29. August 1991 (deutsche Fassung im Moniteur belge vom 19. Januar 1994).


4
Das fragliche Unternehmen hatte sich beim belgischen Wirtschaftsministerium nach der Vereinbarkeit dieses Kundenbindungsprogramms mit dem belgischen Gesetz erkundigt. Mit Schreiben vom 7. April 1998 antwortete das Ministerium, dass die im Rahmen dieses Programms gewährte Prämie nicht als Ware angesehen werden könne, die den Waren gleichartig sei, die die Sponsoren, für die das fragliche Unternehmen tätig werde, verkauften.


5
Vgl. Klagebeantwortung, S. 11.


6
Urteil vom 14. Dezember 1971 in der Rechtssache 7/71 (Kommission/Frankreich, Slg. 1971, 1003, Randnr. 5).


7
Urteil vom 16. Mai 1991 in der Rechtssache C‑96/89 (Kommission/Niederlande, Slg. 1991, I‑2461, Randnr. 16).


8
Vgl. in diesem Sinne Urteil vom 12. September 2000 in der Rechtssache C‑359/97 (Kommission/Vereinigtes Königreich, Slg. 2000, I‑6355). In dieser Rechtssache waren zwischen der Beantwort der mit Gründen versehenen Stellungnahme durch das Vereinigte Königreich und der Klageerhebung fast acht Jahre verstrichen.


9
Urteil vom 19 Mai 1998 in der Rechtssache C‑3/96 (Kommission/Niederlande, Slg. 1998, I‑3031, Randnr. 20).


10
Vgl. u. a. Urteile vom 25. Mai 1982 in der Rechtssache 96/81 (Kommission/Niederlande, Slg. 1982, 1791, Randnr. 6), vom 20. März 1990 in der Rechtssache C‑62/89 (Kommission/Frankreich, Slg. 1990, I‑925, Randnr. 37), vom 29. Mai 1997 in der Rechtssache C‑300/95 (Kommission/Vereinigtes Königreich, Slg. 1997, I‑2649, Randnr. 31), vom 9. September 1999 in der Rechtssache C‑217/97 (Kommission/Deutschland, Slg. 1999, I‑5087, Randnr. 22) und vom 29. April 2004 in der Rechtssache C‑194/01 (Kommission/Österreich, Slg. 2004, I‑4579, Randnr. 34).


11
Vgl. Klagebeantwortung, S. 21 und 22.


12
Vgl. u. a. Urteile vom 14. Juli 1988 in der Rechtssache 298/86 (Kommission/Belgien, Slg. 1988, 4343) und vom 2. Dezember 2004 in der Rechtssache C‑41/02 (Kommission/Niederlande, Slg. 2004, I‑0000).


13
Urteil vom 29. April 2004 in der Rechtssache C‑387/99 (Kommission/Deutschland, Slg. 2004, I‑3571, Randnr. 42).


14
Der Gerichtshof hat zwar entschieden, dass in dem besonderen Kontext eines Marktes wie dem für Frankiermaschinen, der dadurch gekennzeichnet ist, dass dort nur wenige Unternehmen tätig sind, das Verhalten der nationalen Verwaltung gegenüber einem einzigen Unternehmen zur Feststellung einer Vertragsverletzung führen kann (Urteil vom 9. Mai 1985 in der Rechtssache 21/84, Kommission/Frankreich, Slg. 1985, 1355, Randnr. 13). Der hier vorliegende Fall betrifft jedoch den Markt der Verkaufsförderung, der zahlreiche Wirtschaftsteilnehmer umfasst.


15
Urteil vom 9. Dezember 2003 in der Rechtssache C‑129/00 (Kommission/Italien, Slg. 2003, I‑0000).


16
Ebenda, Randnr. 32.


17
Vgl. Schlussanträge des Generalanwalts Geelhoed in der eben genannten Rechtssache Kommission/Italien (Nr. 114).


18
Vgl. Klageschrift, Randnr. 21.


19
Vgl. Klagebeantwortung, S. 23.