SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS

PHILIPPE LÉGER

vom 11. Oktober 20051(1)

Rechtssache C‑173/03

Traghetti del Mediterraneo SpA

gegen

Italienische Republik

(Vorabentscheidungsersuchen des Tribunale Genua [Italien])

„Haftung eines Mitgliedstaats für Schäden, die dem Einzelnen durch einem obersten Gericht zuzurechnende Verstöße gegen das Gemeinschaftsrecht entstanden sind – Materielle Voraussetzungen – Nationale Vorschriften, die die Haftung des Staates ausschließen, wenn der Verstoß auf der Auslegung von Rechtsvorschriften oder der Sachverhalts‑ und Beweiswürdigung beruht, und diese Haftung auf Fälle von Vorsatz oder grober Fahrlässigkeit begrenzen“





1.     Verstößt es gegen das Gemeinschaftsrecht, wenn die Haftung eines Mitgliedstaats für Schäden, die dem Einzelnen durch Verstöße eines obersten Gerichts gegen das Gemeinschaftsrecht entstanden sind, zum einen ausgeschlossen ist, wenn der fragliche Verstoß mit der Auslegung von Rechtsvorschriften oder der Sachverhalts‑ und Beweiswürdigung im Zusammenhang steht, und zum anderen – in anderen Fällen – auf Fälle von Vorsatz oder grober Fahrlässigkeit begrenzt wird?

2.     Das ist im Wesentlichen die Frage, die das Tribunale Genua in einem Rechtsstreit zwischen einem (jetzt in Liquidation befindlichen) Seeschifffahrtsunternehmen und dem italienischen Staat stellt, der aus der Gewährung von direkten Subventionen an ein konkurrierendes Unternehmen durch diesen Staat entstanden ist.

3.     Mit dieser Frage wird der Gerichtshof ersucht, die Tragweite des von ihm im Urteil vom 30. September 2003 (Köbler)(2) aufgestellten Grundsatzes der Haftung eines Mitgliedstaats für Schäden, die dem Einzelnen durch Verstöße eines obersten Gerichts gegen das Gemeinschaftsrecht entstanden sind, genauer zu bestimmen.

I –    Rechtlicher Rahmen

A –    Gemeinschaftsrecht

4.     Die zum maßgeblichen Zeitpunkt einschlägige Gemeinschaftsregelung ist die Regelung des EG‑Vertrags über staatliche Beihilfen und den Missbrauch einer beherrschenden Stellung.

5.     Staatliche Beihilfen sind grundsätzlich untersagt. Artikel 92 Absatz 1 EG‑Vertrag (jetzt Artikel 87 Absatz 1 EG) sieht vor, dass, „[s]oweit in diesem Vertrag nicht etwas anderes bestimmt ist, … staatliche oder aus staatlichen Mitteln gewährte Beihilfen gleich welcher Art, die durch die Begünstigung bestimmter Unternehmen oder Produktionszweige den Wettbewerb verfälschen oder zu verfälschen drohen, mit dem Gemeinsamen Markt unvereinbar [sind], soweit sie den Handel zwischen Mitgliedstaaten beeinträchtigen“.

6.     Der EG‑Vertrag sieht mehrere Ausnahmen von diesem grundsätzlichen Verbot vor. Nur einige davon sind möglicherweise für das Ausgangsverfahren von Belang.

7.     Es handelt sich dabei zunächst um die in Artikel 92 Absatz 3 Buchstaben a und c EG‑Vertrag vorgesehene Ausnahme für Beihilfen mit regionaler Zielsetzung(3). Diese Beihilfen können als mit dem Gemeinsamen Markt vereinbar angesehen werden.

8.     Artikel 77 EG‑Vertrag (jetzt Artikel 73 EG) sieht weiter Ausnahmen speziell für den Verkehrssektor vor, die Beihilfen betreffen, die den Erfordernissen der Koordinierung des Verkehrs oder der Abgeltung von mit gemeinwirtschaftlichen Verpflichtungen zusammenhängenden Belastungen entsprechen. Diese Beihilfen sind mit dem EG‑Vertrag vereinbar.

9.     In Artikel 90 Absatz 2 EG‑Vertrag (jetzt Artikel 86 Absatz 2 EG) ist für Unternehmen, die mit Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse betraut sind, eine weitere Ausnahme vorgesehen. Für diese „gelten die Vorschriften dieses Vertrags, insbesondere die Wettbewerbsregeln, soweit die Anwendung dieser Vorschriften nicht die Erfüllung der ihnen übertragenen besonderen Aufgabe rechtlich oder tatsächlich verhindert“. Diese Ausnahme gilt nur unter der Voraussetzung, dass „[d]ie Entwicklung des Handelsverkehrs … nicht in einem Ausmaß beeinträchtigt [wird], das dem Interesse der Gemeinschaft zuwiderläuft“.

10.   Grundsätzlich ist die Kommission der Europäischen Gemeinschaften unter Ausschluss der nationalen Gerichte allein dafür zuständig, über die Vereinbarkeit von Beihilfen mit dem Gemeinschaftsrecht zu entscheiden(4). Für die von der Kommission ausgeübte Kontrolle gelten dabei, je nachdem, ob es sich bei den betreffenden Beihilfen um bestehende oder neue Beihilfen handelt, unterschiedliche Regeln. Während bestehende Beihilfen nach ihrer Gewährung fortlaufend kontrolliert werden, um zu überprüfen, ob sie weiter mit dem Gemeinsamen Markt vereinbar sind, wird bei neuen Beihilfen die Kontrolle vor der Gewährung zu einem Zeitpunkt durchgeführt, zu dem diese sich noch im Planungsstadium befinden.

11.   Damit die Kommission diese vorherige Kontrolle ausüben kann, müssen die Mitgliedstaaten sie nach Artikel 93 Absatz 3 EG‑Vertrag (jetzt Artikel 88 Absatz 3 EG) von den von ihnen beabsichtigten neuen Beihilfen unterrichten. Neben dieser Unterrichtungspflicht dürfen die Mitgliedstaaten ihre beabsichtigten neuen Beihilfen nach diesem Artikel nicht durchführen, solange die Kommission keine abschließende Entscheidung erlassen hat, die die Vereinbarkeit dieser Beihilfen mit dem Gemeinschaftsrecht feststellt. Diese beiden Pflichten sind kumulativ. Eine neue Beihilfe ist somit rechtswidrig, wenn sie gewährt wurde, ohne dass die Kommission davon unterrichtet wurde, oder wenn sie ordnungsgemäß mitgeteilt wurde, aber gewährt wurde, bevor die Kommission innerhalb der vorgesehenen Frist über ihre Vereinbarkeit mit dem Gemeinschaftsrecht entschieden hat(5).

12.   Diese Vorschriften des Artikels 93 Absatz 3 EG‑Vertrag haben unmittelbare Wirkung und verleihen dem Einzelnen somit Rechte, die die nationalen Gerichte beachten müssen(6).

13.   Auch der Missbrauch einer beherrschenden Stellung ist allgemein und systematisch umfassend. Nach Artikel 86 Absatz 1 EG (jetzt Artikel 82 Absatz 1 EG) ist nämlich „die missbräuchliche Ausnutzung einer beherrschenden Stellung auf dem Gemeinsamen Markt oder auf einem wesentlichen Teil desselben durch ein oder mehrere Unternehmen mit dem Gemeinsamen Markt unvereinbar und verboten, soweit dies dazu führen kann, den Handel zwischen Mitgliedstaaten zu beeinträchtigen“. Auch diese Bestimmung hat unmittelbare Wirkung(7).

14.   Die Regeln des EG-Vertrags über staatliche Beihilfen und den Missbrauch einer beherrschenden Stellung finden auf den Verkehrssektor, einschließlich der Seeschifffahrt, Anwendung(8).

B –    Nationales Recht

15.   In Italien ist die Haftung des Staates für die Tätigkeit der Gerichte im Gesetz Nr. 117 über den Ersatz der in Ausübung der Rechtsprechung verursachten Schäden und die Haftung der Richter (legge n° 117 [sul] risarcimento dei danni cagionati nell’esercizio delle funzioni giudiziarie e responsabilità civile dei magistrati) vom 13. April 1988(9) geregelt.

16.   Das Gesetz Nr. 17 wurde vom Gesetzgeber nach einem im November 1987 durchgeführten Referendum erlassen, durch das die Rechtsvorschriften aufgehoben wurden, die diesen Bereich vorher regelten(10).

17.   In Artikel 2 Absatz 1 des Gesetzes Nr. 17 ist der Grundsatz niedergelegt, dass „jeder, der aufgrund eines Verhaltens, einer Maßnahme oder einer Verfügung, das bzw. die ein Richter(11) vorsätzlich oder grob fahrlässig in Ausübung seiner Aufgaben gezeigt bzw. erlassen hat, oder aufgrund einer Rechtsverweigerung einen rechtswidrigen Schaden erlitten hat, wegen Ersatzes des erlittenen Vermögensschadens sowie der Nichtvermögensschäden, die sich aus dem Verlust der persönlichen Freiheit ergeben, gegen den Staat vorgehen kann“.

18.   Artikel 2 Absatz 2 des Gesetzes Nr. 17 sieht als Ausnahme von diesem Grundsatz vor, dass „die Auslegung der Rechtsvorschriften und die Sachverhalts‑ und Beweiswürdigung im Rahmen der Ausübung der Rechtsprechungsaufgaben keine Haftung auslösen können“. Dieser Ausschluss von der Haftung des Staates ist offenbar von der Sorge getragen, die Unabhängigkeit der Richter zu wahren, die einen Grundsatz mit Verfassungsrang darstellt(12).

19.   Der Begriff der „groben Fahrlässigkeit“ im Sinne des Artikels 2 Absatz 1 des Gesetzes Nr. 17 erfasst mehrere Fallkonstellationen, die in Absatz 3 aufgeführt sind. So „liegt grobe Fahrlässigkeit vor bei

a)      einem schwerwiegenden Gesetzesverstoß aufgrund unentschuldbarer Nachlässigkeit;

b)      der Bejahung eines nach den Verfahrensakten unbestreitbar ausgeschlossenen Umstands aufgrund unentschuldbarer Nachlässigkeit;

c)      der Verneinung eines aus den Verfahrensakten unbestreitbar hervorgehenden Umstands aufgrund unentschuldbarer Nachlässigkeit;

d)      dem Erlass von Verfügungen über die Freiheit der Person außerhalb der gesetzlich vorgesehenen Fälle oder ohne Begründung“.

20.   Der Begriff der „Rechtsverweigerung“, der ebenfalls in Artikel 2 Absatz 1 des Gesetzes Nr. 17 genannt wird, wird in Artikel 3 Absatz 1 dahin definiert, dass es „ein Richter verweigert, unterlässt oder verzögert, die Maßnahmen zu treffen, für die er zuständig ist, wenn eine Partei nach Ablauf der gesetzlichen Frist für das Treffen einer bestimmten Maßnahme einen Antrag auf Treffen dieser Maßnahme gestellt hat und innerhalb von dreißig Tagen nach Eingang dieses Antrags bei der Geschäftsstelle ohne rechtfertigenden Grund keine Maßnahme getroffen wurde …“.

21.   Klagen, mit denen eine Haftung des Staates aufgrund der Rechtsprechungstätigkeit geltend gemacht wird, sind gegen den Präsidenten des italienischen Ministerrats zu richten(13). Ein im Rahmen einer solchen Klage gestellter Schadensersatzantrag wird vom zuständigen Gericht vorab auf seine Zulässigkeit geprüft. Nach Artikel 5 Absatz 3 des Gesetzes Nr. 17 ist ein solcher Antrag unzulässig, wenn er die in den Artikeln 2, 3 und 4 genannten Voraussetzungen und Kriterien nicht erfüllt oder offensichtlich unbegründet ist. Gegen eine Unzulässigkeitsentscheidung sind Berufung und Kassationsbeschwerde gegeben(14).

II – Sachverhalt und Ausgangsverfahren

22.   1981 verklagte das damals unter Vergleich gestellte Seeschifffahrtsunternehmen Traghetti del Mediterraneo (im Folgenden: Klägerin) ein konkurrierendes Unternehmen, die Tirrenia di Navigazione (im Folgenden: Tirrenia), vor dem Tribunale Neapel auf Ersatz des Schadens, den Tirrenia ihr von 1976 bis 1980 durch die Niedrigpreispolitik (Preise unter dem Gestehungspreis) zugefügt habe, die diese dank des Erhalts staatlicher Subventionen auf dem Markt des Seeverkehrs zwischen dem italienischen Festland und den Inseln Sardinien und Sizilien angewandt habe.

23.   Die Klägerin begründete ihre Klage damit, dass das streitige Verhalten einen Akt unlauteren Wettbewerbs im Sinne von Artikel 2598 Absatz 3 des italienischen Zivilgesetzbuchs sowie einen nach Artikel 86 Absatz 1 EG‑Vertrag verbotenen Missbrauch einer beherrschenden Stellung darstelle. Sie machte außerdem einen Verstoß gegen die Artikel 85 EG‑Vertrag (jetzt Artikel 81 EG) sowie 90 und 92 EG‑Vertrag geltend.

24.   Diese Schadensersatzklage wurde durch Entscheidung des Tibunale Neapel vom 22. April 1993 abgewiesen. Diese Entscheidung, gegen die die Klägerin Berufung einlegte, wurde von der Corte d’appello Neapel mit Urteil vom 7. Januar 1997 insbesondere aus dem Grund bestätigt, dass die streitigen Subventionen der regionalen Entwicklung dienten und jedenfalls die Ausübung von anderen Fährverbindungstätigkeiten, die mit denen der seinerzeitigen Beklagten im Wettbewerb stünden, nicht beeinträchtigten, so dass die Gewährung dieser Subventionen nicht gegen den EG‑Vertrag verstoße.

25.   Das Berufungsgericht hielt es entgegen dem Antrag der Klägerin dabei nicht für zweckmäßig, dem Gerichtshof eine Frage über die Auslegung der Regeln des EG‑Vertrags über staatliche Beihilfen zur Vorabentscheidung vorzulegen, um zu erfahren, ob diese der Gewährung der streitigen Beihilfen entgegenstünden.

26.   Nachdem über die Klägerin dann das Insolvenzverfahren eröffnet worden war, erhob der Insolvenzverwalter (der im Folgenden ebenfalls als Klägerin bezeichnet wird) gegen dieses Urteil Kassationsbeschwerde. Im Rahmen dieses Rechtsmittels beantragte die Klägerin erneut ein Vorabentscheidungsersuchen.

27.   Die Corte suprema di cassazione wies dieses Rechtsmittel mit Urteil vom 8. Oktober 1999 ohne Vorlage eines Vorabentscheidungsersuchens zurück. Auch wenn der Gerichtshof nicht aufgerufen ist, den Inhalt dieser Entscheidung zu prüfen, um dem vorlegenden Gericht Hinweise zur Beurteilung der Begründetheit der streitigen Haftungsklage zu geben – für diese Prüfung ist ausschließlich dieses Gericht zuständig –, ist eine Wiedergabe dieser Entscheidung meiner Ansicht nach sinnvoll, da sich der Ausgangsrechtsstreit um diese Entscheidung dreht.

28.   Zum behaupteten Verstoß gegen die Vorschriften des EG‑Vertrags über staatliche Beihilfen stellte die Corte suprema di cassazione fest, dass das grundsätzliche Verbot staatlicher Beihilfen nach den Artikeln 90 und 92 EG‑Vertrag in bestimmten Fällen wie dem vorliegenden entfallen könne, wenn es darum gehe, die wirtschaftliche Entwicklung benachteiligter Gebiete zu fördern oder der Nachfrage nach Waren und Dienstleistungen nachzukommen, die der freie Wettbewerb nicht vollständig befriedigen könne.

29.   Die Corte suprema di cassazione führt hierzu aus, dass der Massenverkehr zwischen dem italienischen Festland und den wichtigsten Inseln wegen der damit verbundenen Kosten während des Zeitraums, während dessen die streitigen Subventionen gewährt worden seien, nur auf dem Seeweg habe gewährleistet werden können, so dass diese Tätigkeit einem öffentlichen Konzessionär habe übertragen werden müssen, der einen vorgeschriebenen Tarif anzuwenden gehabt habe. Die Wettbewerbsverzerrung, die sich aus den streitigen Beihilfen ergebe, stelle deren Vereinbarkeit mit dem EG‑Vertrag nicht in Frage, da die Klägerin insbesondere nicht nachgewiesen habe, dass Tirrenia diese Beihilfen benutzt habe, um Gewinne im Zusammenhang mit anderen als den Tätigkeiten zu erzielen, für die die fraglichen Beihilfen gewährt worden seien.

30.   Den Klagegrund eines Verstoßes gegen die Artikel 85 und 86 EG‑Vertrag hielt die Corte suprema di cassazione für unbegründet, weil die Seekabotagetätigkeit zur maßgeblichen Zeit noch nicht liberalisiert gewesen sei und der relevante Markt im Sinne des Artikels 86 EG‑Vertrag aufgrund der speziellen Natur und des geringen räumlichen Kontextes dieser Tätigkeit nicht eindeutig bestimmt werden könne.

31.   Was den Antrag der Klägerin auf Vorlage eines Vorabentscheidungsersuchens betrifft, so hielt das genannte oberste Gericht eine Vorlage ebenfalls nicht für erforderlich, da die Entscheidung der Corte d’appello Neapel in dem mit dem Rechtsmittel angefochtenen Urteil mit der Rechtsprechung des Gerichtshofes, insbesondere mit dem Urteil vom 22. Mai 1985 (Parlament/Rat)(15) betreffend den Verkehr, im Einklang stehe.

32.   Nach der Verkündung dieses Urteils der Corte suprema di cassazione erhob die Klägerin beim Tribunale Genua eine (gegen den Präsidenten des italienischen Ministerrats gerichtete) Haftungsklage gegen die Italienische Republik wegen Ersatzes des Schadens, den sie durch dieses Urteil erlitten habe.

33.   Sie begründet diese Klage damit, dass das fragliche Urteil auf einer falschen Auslegung der Regeln des EG‑Vertrags über Wettbewerb und staatliche Beihilfen sowie auf der unzutreffenden Annahme beruhe, dass es eine einschlägige ständige Rechtsprechung des Gerichtshofes gebe. Die Corte suprema di cassazione habe mit diesem Urteil daher sowohl gegen das materielle Gemeinschaftsrecht verstoßen als auch die Pflicht zur Vorlage eines Vorabentscheidungsersuchens verletzt, die den obersten Gerichten nach Artikel 177 Absatz 3 EG‑Vertrag (jetzt Artikel 234 Absatz 3 EG) obliege.

34.   Die Klägerin macht zu diesem Punkt geltend, der Gerichtshof hätte im Falle eines Vorabentscheidungsersuchens höchstwahrscheinlich eine Auslegung der einschlägigen Vorschriften des EG‑Vertrags gegeben, die die Corte suprema di cassazione veranlasst hätte, in einem ihr günstigen Sinne zu entscheiden. Als Beweis führt sie insbesondere an, die Kommission habe nach einem (während des Verfahrens, in dem das in Rede stehende Urteil ergangen sei, eingeleiteten) Verfahren zur Überprüfung der Subventionen, die Tirrenia nach dem im Ausgangsverfahren betroffenen Zeitraum gewährt worden seien, eine Entscheidung erlassen, aus der die gemeinschaftliche Dimension der Seekabotage sowie die Schwierigkeiten bei der Würdigung der Vereinbarkeit dieser Subventionen mit den Regeln des EG‑Vertrags über staatliche Beihilfen hervorgingen(16). Die von der Kommission in dieser Entscheidung verwendeten Beurteilungskriterien, die für die Prüfung der Vereinbarkeit der streitigen Subventionen mit dem EG‑Vertrag zu berücksichtigen seien, widerlegten die Würdigung der Corte suprema di cassazione im fraglichen Urteil.

35.   Der Präsident des italienischen Ministerrats lehnt den Schadensersatzantrag der Klägerin insbesondere aus dem Grund ab, dass eine Haftung des Staates nach Artikel 2 Absatz 2 der streitigen nationalen Regelung in der vorliegenden Fallkonstellation nicht ausgelöst werden könne, da die in Rede stehende Rechtsprechungstätigkeit die Auslegung von Rechtsnormen betreffe.

36.   Hiergegen macht die Klägerin geltend, dass die fragliche Regelung die Entschädigung Einzelner für Schäden, die der Staat diesen durch die Rechtsprechungstätigkeit zufüge, übermäßig erschwere oder sogar praktisch unmöglich mache. Das widerspreche den vom Gerichtshof in den Urteilen vom 19. November 1991 (Francovich u. a.(17)) und vom 5. März 1996 (Brasserie du pêcheur und Factortame(18)) aufgestellten Grundsätzen.

III – Vorlagefrage

37.   Das Tribunale Genua hat aufgrund des Parteivorbringens und seiner eigenen Zweifel an einer Erstreckung des Grundsatzes der Haftung des Staates für Verstöße gegen das Gemeinschaftsrecht auf die Rechtsprechungstätigkeit beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.      Haftet ein Mitgliedstaat im Rahmen der außervertraglichen Haftung den einzelnen Bürgern gegenüber für Fehler seiner Richter bei der Anwendung des Gemeinschaftsrechts oder für die Nichtanwendung des Gemeinschaftsrechts und insbesondere dafür, dass ein letztinstanzliches Gericht der Pflicht zur Vorlage an den Gerichtshof nach Artikel 234 Absatz 3 EG nicht nachkommt?

2.      Sofern ein Mitgliedstaat für Fehler seiner Richter bei der Anwendung des Gemeinschaftsrechts und insbesondere dafür haftet, dass ein letztinstanzliches Gericht im Sinne des Artikels 234 Absatz 3 EG eine Vorlage an den Gerichtshof unterlässt, stehen dann einer solchen Haftung nationale Rechtsvorschriften über die Staatshaftung für von Richtern begangene Fehler entgegen – und verstoßen deshalb gegen die Grundsätze des Gemeinschaftsrechts –, wonach

–      die Haftung für die in Ausübung der Rechtsprechung ausgeübte Tätigkeit der Auslegung von Rechtsnormen sowie der Sachverhalts‑ und der Beweiswürdigung ausgeschlossen ist,

–      die Haftung des Staates auf Fälle allein von Vorsatz und grober Fahrlässigkeit des Richters begrenzt wird?

38.   Das Tribunale Genua hat nach dem Erlass des (nach dem Vorlagebeschluss ergangenen) Urteils Köbler, das der Gerichtshof ihm übermittelt hat, nach Anhörung der Parteien beschlossen, die erste Frage zurückzunehmen, da diese durch das genannte Urteil bereits bejaht worden sei, und die zweite Frage beizubehalten, so dass nur noch eine Vorlagefrage übrig bleibt, die darauf abzielt, ob „nationale Rechtsvorschriften über die Staatshaftung für von Richtern begangene Fehler [einer solchen Haftung] entgegen[stehen] – und … deshalb gegen die Grundsätze des Gemeinschaftsrechts [verstoßen] –, wonach die Haftung für die in Ausübung der Rechtsprechung ausgeübte Tätigkeit der Auslegung von Rechtsnormen sowie der Sachverhalts‑ und der Beweiswürdigung ausgeschlossen ist [und] die Haftung des Staates auf Fälle allein von Vorsatz und grober Fahrlässigkeit des Richters begrenzt wird“.

IV – Bedeutung der Vorlagefrage

39.   Die verbleibende Vorlagefrage ist so, wie sie gestellt ist, weit gefasst, da sie die gesamte Rechtsprechungstätigkeit, d. h. sowohl die der obersten Gerichte als auch die der gewöhnlichen Gerichte, erfasst. Es ist jedoch festzustellen, dass sich die Staatshaftungsklage, um die es im Ausgangsverfahren geht, nur gegen eine Entscheidung eines obersten Gerichts richtet, gegen die kein Rechtsmittel gegeben ist, und nicht gegen die Entscheidungen der Instanzgerichte, die vorher im selben Sinne über die betreffende Rechtssache entschieden hatten(19). Die Vorlagefrage ist daher in diesem Sinne neu zu fassen, um die Antwort des Gerichtshofes auf das zu beschränken, was für die Entscheidung des vom vorlegenden Gericht zu entscheidenden Rechtsstreits erforderlich ist.

40.   Um die Bedeutung der Vorlagefrage noch genauer zu bestimmen, sind außerdem einige Hinweise zum Sinn des Gesetzes Nr. 17 zu geben, dessen behauptete Unvereinbarkeit mit dem Gemeinschaftsrecht dem Vorabentscheidungsersuchen zugrunde liegt.

41.   Das Tribunale Genua ist der Ansicht, dass die Klage der Klägerin, sollte das Gesetz Nr. 17 auf den vorliegenden Fall Anwendung finden (wie die Beklagte geltend macht), offensichtlich unzulässig wäre, da sie auf eine angeblich falsche Auslegung von Rechtsnormen durch ein Gericht gestützt sei, wobei sowohl die unterlassene Vorlage als auch die Anwendung der gemeinschaftsrechtlichen Bestimmungen auf den streitigen Fall das Ergebnis einer solchen Auslegung seien(20).

42.   Diese Ansicht beruht auf der Annahme, dass die auslegende Tätigkeit des Gerichts nach der streitigen nationalen Regelung
„– unabhängig davon, ob man der Auslegung in der Sache zustimmt oder nicht – als solche zulässig ist“, so dass es ihrem Wesen nach ausgeschlossen ist, dass sie die Haftung des Staates auslöst(21).

43.   Die italienische Regierung hat in der mündlichen Verhandlung eine Auslegung des Gesetzes Nr. 17 vertreten, die sich deutlich von derjenigen des vorlegenden Gerichts unterscheidet. Ihrer Ansicht nach ist der in Artikel 2 Absatz 2 des Gesetzes Nr. 17 hinsichtlich der Auslegung von Rechtsvorschriften vorgesehene Ausschluss der Staatshaftung nicht anwendbar, wenn die Durchführung dieser Auslegung zu einem schweren Gesetzesverstoß aufgrund unentschuldbarer Fahrlässigkeit im Sinne von Artikel 2 Absatz 3 Buchstabe a geführt habe. Die letztgenannte Vorschrift sehe nämlich eine Ausnahme von der in Artikel 2 Absatz 2 enthaltenen Regel des Ausschlusses der Haftung vor, die selbst eine Ausnahme von dem in Artikel 2 Absatz 1 niedergelegten Grundsatz der Haftung darstelle.

44.   Sicherlich kann man sich zunächst fragen, inwieweit es denkbar ist, dass die von Artikel 2 Absatz 3 Buchstabe a des Gesetzes Nr. 17 erfassten Fälle von Gesetzesverstößen keinen Bezug zur von Artikel 2 Absatz 2 erfassten Tätigkeit der Auslegung von Rechtsnormen aufweisen und Artikel 2 Absatz 3 somit keine Ausnahme von der Regel des Absatzes 2 einführt. Nur wenn dies so wäre, würde mit der genannten Regelung gleichzeitig die Haftung des Staates für bestimmte (unter Absatz 2 fallende) Bereiche der Rechtsprechungstätigkeit ausgeschlossen und für andere (unter Absatz 3 fallende) Tätigkeitsbereiche der Gerichte begrenzt. Würden die unter einen der beiden Absätze fallenden Tätigkeitsbereiche sich nicht voneinander unterscheiden, sondern völlig übereinstimmen, könnte man die streitige nationale Regelung tatsächlich nur als Beschränkung der Staatshaftung auffassen und nicht auch als Ausschluss einer solchen Haftung.

45.   Jedoch ergibt sich aus einer ständigen Rechtsprechung, dass es im Rahmen der Aufgabenverteilung im Vorabentscheidungsverfahren zwischen dem Gerichtshof und den nationalen Gerichten allein Sache der nationalen Gerichte, nicht aber des Gerichtshofes ist, das nationale Recht auszulegen(22).

46.   Entsprechend der vom vorlegenden Gericht vertretenen Auslegung des Artikels 2 Absatz 2 des Gesetzes Nr. 17 gehe ich daher davon aus, dass die Haftung des Staates aufgrund der Rechtsprechungstätigkeit nach diesem Artikel ausgeschlossen ist, wenn das einem Gericht vorgeworfene Verhalten mit der Auslegung von Rechtsnormen im Zusammenhang steht, selbst wenn diese Auslegung zur Begehung eines schweren Gesetzesverstoßes aufgrund unentschuldbarer Fahrlässigkeit geführt hat. Mit anderen Worten, ich gehe davon aus, dass Artikel 2 Absatz 3 Buchstabe a der streitigen nationalen Regelung für andere Fälle von Gesetzesverstößen gelten soll als für die in Artikel 2 Absatz 2 genannten.

47.   Ich bin daher der Ansicht, dass das vorlegende Gericht mit seiner Vorlagefrage im Wesentlichen wissen möchte, ob es gegen das Gemeinschaftsrecht verstößt, wenn die Haftung eines Mitgliedstaats für Schäden, die dem Einzelnen durch von einem obersten Gericht begangene Verstöße gegen das Gemeinschaftsrecht entstanden sind, zum einen ausgeschlossen ist, wenn der fragliche Verstoß mit der Auslegung von Rechtsvorschriften oder der Sachverhalts‑ und Beweiswürdigung im Zusammenhang steht, und zum anderen – in anderen Fällen –, auf Fälle von Vorsatz oder grober Fahrlässigkeit begrenzt wird.

V –    Erörterung

48.   Um diese Frage zu beantworten, werde ich die Vereinbarkeit mit dem Gemeinschaftsrecht zunächst für den Ausschluss und anschließend für die Beschränkung der Haftung des Staates für die obersten Gerichte prüfen, die das vorlegende Gericht in seiner Frage nennt.

A –    Zum Ausschluss der Haftung des Staates, wenn der einem obersten Gericht zuzurechnende Verstoß gegen das Gemeinschaftsrecht mit der Auslegung von Rechtsnormen im Zusammenhang steht

49.   Im Urteil Köbler hat der Gerichtshof festgestellt, dass der Grundsatz, der die Mitgliedstaaten zum Ersatz von Schäden verpflichtet, die einem Einzelnen durch ihnen zuzurechnende Verstöße gegen das Gemeinschaftsrecht entstehen, auch gilt, wenn sich der fragliche Verstoß aus einer Entscheidung eines obersten Gerichts ergibt. Das ergibt sich aus den Erfordernissen des Schutzes der Rechte des Einzelnen, der sich auf das Gemeinschaftsrecht beruft(23).

50.   Dem stehen insbesondere die richterliche Unabhängigkeit und der Grundsatz der Rechtskraft nicht entgegen; das gegenteilige Vorbringen hat der Gerichtshof ausdrücklich zurückgewiesen(24). Er hat zwar die Besonderheit der richterlichen Funktion sowie die berechtigten Belange der Rechtssicherheit berücksichtigt und die Haftung des Staates deshalb auf den „Ausnahmefall, dass das Gericht [d. h. ein oberstes Gericht] offenkundig gegen das geltende Recht verstoßen hat“(25), beschränkt, er hat jedoch auch festgestellt, dass weder der Grundsatz der richterlichen Unabhängigkeit noch der Grundsatz der Rechtskraft einen allgemeinen Ausschluss jeder Haftung des Staates im Fall eines einem solchen Gericht zuzurechnenden Verstoßes gegen das Gemeinschaftsrecht rechtfertigen kann.

51.   Meiner Ansicht nach können diese Grundsätze, selbst wenn sie Verfassungsrang haben, auch nicht den Ausschluss der Haftung des Staates in dem spezifischen Fall rechtfertigen, dass der von einem obersten Gericht begangene Verstoß gegen das Gemeinschaftsrecht mit der Auslegung von Rechtsnormen im Zusammenhang steht(26).

52.   Andernfalls würde man den vom Gerichtshof im Urteil Köbler aufgestellten Grundsatz der Haftung des Staates für die obersten Gerichte seines Inhalts oder seiner praktischen Wirksamkeit berauben.

53.   Die Auslegung von Rechtsnormen nimmt in der Rechtsprechungstätigkeit nämlich einen wesentlichen Platz ein. Das gilt namentlich für die obersten Gerichte, da es diesen herkömmlich obliegt, auf nationaler Ebene die Rechtsauslegung zu vereinheitlichen.

54.   Im Übrigen sind die obersten Gerichte, deren Entscheidungen nach dem innerstaatlichen Recht nicht mehr mit Rechtsmitteln angefochten werden können, gerade wegen dieser herausragenden Rolle nach Artikel 234 EG verpflichtet, dem Gerichtshof Fragen über die Auslegung des Gemeinschaftsrechts zur Vorabentscheidung vorzulegen, um zu verhindern, dass es in diesem Bereich innerhalb der Gemeinschaft zu voneinander abweichenden Gerichtsentscheidungen kommt(27).

55.   Diese Gerichte können bei der Ausübung ihrer herkömmlichen Aufgabe, die Auslegung von Rechtsnormen zu vereinheitlichen, einen Verstoß gegen das anwendbare Gemeinschaftsrecht begehen, der die Haftung des Staates auslöst, sofern der Verstoß offenkundig ist(28). Ein solcher Verstoß bei der Auslegung von Rechtsnormen kann unter verschiedenen Umständen vorkommen, die allein oder kombiniert vorliegen können. Ich führe dafür einige Beispiele an.

56.   Zunächst kann sich der fragliche Verstoß aus einer dem anwendbaren Gemeinschaftsrecht widersprechenden Auslegung des nationalen Rechts ergeben, die der Verpflichtung zur gemeinschaftsrechtskonformen Auslegung zuwiderläuft, die nach ständiger Rechtsprechung allen nationalen Gerichten obliegt und auf deren Bedeutung vor kurzem im Urteil vom 5. Oktober 2004 (Pfeiffer u. a.)(29) erneut hingewiesen wurde; dieses Urteil erging in einem Rechtsstreit zwischen Privatpersonen wegen der Anwendung von Vorschriften des innerstaatlichen Rechts, die zur Umsetzung einer Richtlinie erlassen worden waren, die den Einzelnen Rechte verlieh.

57.   Der vom Gerichtshof im Urteil vom 9. Dezember 2003 (Kommission/Italien)(30) (kurz nach dem Urteil Köbler) geprüfte Fall ähnelt diesem Fall eines Verstoßes gegen das Gemeinschaftsrecht (der selbstverständlich voraussetzt, dass die betreffende nationale Regelung gemeinschaftsrechtskonform ausgelegt werden kann).

58.   In dieser Rechtssache warf die Kommission der Italienischen Republik vor, eine nationale Regelung beibehalten zu haben, die in ihrer Auslegung durch die italienischen Gerichte, einschließlich der Corte suprema di cassazione, und ihrer Anwendung durch die Verwaltung die Erstattung von unter Verstoß gegen das Gemeinschaftsrecht erhobenen Abgaben aufgrund der den Einzelnen für eine solche Erstattung auferlegten Beweisanforderungen praktisch unmöglich machte oder übermäßig erschwerte.

59.   Diese nationale Regelung verstieß als solche nicht gegen das Gemeinschaftsrecht, da sie, wie der Gerichtshof ausgeführt hat, sowohl in Bezug auf die Beweislast für den Nachweis der Abwälzung der fraglichen Abgaben auf andere Personen als auch in Bezug auf die für diesen Zweck zulässigen Beweismittel nicht zu beanstanden war(31). Die in Rede stehende nationale Regelung wurde von den Gerichten jedoch unterschiedlich ausgelegt, zum Teil mit einem Ergebnis, das mit dem Gemeinschaftsrecht vereinbar war, zum Teil mit einem Ergebnis, das mit dem Gemeinschaftsrecht unvereinbar war. Da die letztgenannte Tendenz in der Rechtsprechung nicht nur vereinzelt, sondern in bedeutendem Umfang auftrat, hat der Gerichtshof sie bei der Feststellung der Bedeutung der fraglichen nationalen Regelung berücksichtigt. Ganz besondere Aufmerksamkeit hat er dabei den Urteilen der Corte suprema di cassazione(32) gewidmet, die die nationale Regelung in einer Weise auslegt, die dem Gemeinschaftsrecht zuwiderläuft und die einschlägige Rechtsprechung des Gerichtshofes offenkundig verkennt(33).

60.   Angesichts der unterschiedlichen Gerichtsentscheidungen und der Verwaltungspraxis in dem betreffenden Bereich, die zeigten, dass die fragliche nationale Regelung nicht hinreichend klar war, um eine mit dem Gemeinschaftsrecht vereinbare Anwendung zu gewährleisten, so dass der nationale Gesetzgeber die notwendigen Änderungen oder Klarstellungen hätte vornehmen müssen(34), hat der Gerichtshof der Vertragsverletzungsklage stattgegeben.

61.   Auch wenn der betreffende Verstoß gegen das Gemeinschaftsrecht der Gesamtheit der nationalen staatlichen Stellen (auf der Rechtsprechungs‑, Verwaltungs‑ und Gesetzgebungsebene) und nicht nur der Corte suprema di cassazione zuzurechnen war und in dem besonderen Rahmen eines Vertragsverletzungsverfahrens geprüft wurde, liefert diese Rechtssache doch ein interessantes Beispiel für einen Verstoß gegen das Gemeinschaftsrecht durch ein oberstes Gericht, bei dem aufgrund einer nicht (mit den Anforderungen des Gemeinschaftsrechts) übereinstimmenden Auslegung (des nationalen Rechts), die in offenkundiger Verkennung der einschlägigen Rechtsprechung des Gerichtshofes erfolgte, die Haftung des Staates ausgelöst wurde(35).

62.   Denkt man diese Fallgestaltung weiter, lässt sich der Fall anführen, dass ein oberstes Gericht eine nationale Regelung, die es für gemeinschaftsrechtskonform hält, anwendet, während es sie nach dem Grundsatz des Vorrangs des Gemeinschaftsrechts vor dem nationalen Recht wegen dessen unlösbaren Widerspruchs zum Gemeinschaftsrecht (der eine gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung ausschließt) nicht hätte anwenden dürfen. Der daraus resultierende Verstoß gegen das Gemeinschaftsrecht kann mit einer Auslegung des nationalen Rechts und/oder des Gemeinschaftsrechts im Zusammenhang stehen, die z. B. darin besteht, das nationale Recht so auszulegen, dass seine Anwendung mit dem Gemeinschaftsrecht vereinbar ist, wobei Letzteres zweifellos falsch ausgelegt wurde, da es in diesem Fall gerade unmöglich ist, beide in Einklang zu bringen.

63.   Diesem Fall wie auch dem vorangegangenen steht die Fallgestaltung nahe, dass sich der Verstoß gegen das Gemeinschaftsrecht aus einer falschen Auslegung einer anwendbaren Gemeinschaftsnorm, sei es einer materiellen Norm oder einer Verfahrensnorm, ergibt.

64.   Die Haftung des Staates im Fall eines Rechtsverstoßes allein deswegen auszuschließen, weil der betreffende Verstoß mit der Auslegung von Rechtsnormen im Zusammenhang steht, läuft darauf hinaus, die Haftung des Staates in allen diesen drei Fällen von Verstößen gegen das Gemeinschaftsrecht auszuschließen. Ein solcher Ausschluss der Haftung des Staates verletzt in dem Fall, dass der Verstoß gegen das Gemeinschaftsrecht einem obersten Gericht zuzurechnen ist, offensichtlich ernsthaft den Grundsatz, den der Gerichtshof im Urteil Köbler aufgestellt hat.

65.   Diesen Fällen von Verstößen gegen das Gemeinschaftsrecht ist der Fall hinzuzufügen, dass ein oberstes Gericht die Pflicht zur Vorlage eines Vorabentscheidungsersuchens zur Auslegung des Gemeinschaftsrechts verkennt, die Artikel 234 Absatz 3 EG ihm auferlegt.

66.   Die Verletzung dieser Pflicht kann nämlich dazu führen, dass das Gericht einen Fehler in Form eines dieser Fälle begeht, sei es einen Fehler bei der Auslegung des anwendbaren Gemeinschaftsrechts, sei es einen Fehler bei den daraus abgeleiteten Folgen für die gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung des innerstaatlichen Rechts oder die Beurteilung der Vereinbarkeit des innerstaatlichen Rechts mit dem Gemeinschaftsrecht.

67.   Der Gerichtshof hat diese Auswirkung der Verkennung der Vorlagepflicht auf einen Verstoß gegen das Gemeinschaftsrecht bei der Definition der Kriterien berücksichtigt, nach denen zu beurteilen ist, ob ein oberstes Gericht offenkundig das anwendbare Recht verkannt hat, um festzustellen, ob die erste Voraussetzung für die Auslösung der Haftung des Staates, nämlich das Vorliegen eines hinreichend qualifizierten Verstoßes gegen das Gemeinschaftsrecht, erfüllt ist.

68.   In Randnummer 55 des Urteils Köbler hat der Gerichtshof nämlich festgestellt, dass u. a. „das Maß an Klarheit und Präzision der verletzten Vorschrift, die Vorsätzlichkeit des Verstoßes, die Entschuldbarkeit des Rechtsirrtums, gegebenenfalls die Stellungnahme eines Gemeinschaftsorgans sowie die Verletzung der Vorlagepflicht nach Artikel 234 Absatz 3 EG durch das in Rede stehende Gericht“ zu berücksichtigen sind.

69.   Die Verkennung der Vorlagepflicht stellt somit eines der Kriterien dar, das bei der Feststellung zu berücksichtigen ist, ob ein hinreichend qualifizierter Verstoß eines obersten Gerichts gegen das Gemeinschaftsrecht vorliegt; dieses Kriterium kommt zu denjenigen hinzu, die der Gerichtshof bereits im Urteil Brasserie du pêcheur und Factortame und in den späteren Entscheidungen über die Haftung des Staates für den Gesetzgeber oder die Verwaltung festgelegt hat(36).

70.   Der Gerichtshof hat zwar keine Hierarchie dieser verschiedenen Kriterien aufgestellt, deren Sachdienlichkeit mir zum Teil fraglich erscheint(37); ich bin jedoch der Ansicht, dass dem Kriterium der Vorlagepflicht besondere Bedeutung zukommt.

71.   Für die Feststellung, ob der fragliche Rechtsirrtum entschuldbar oder unentschuldbar ist (dies ist meiner Ansicht nach das zentrale Kriterium, um das herum die übrigen Kriterien anzuordnen sind)(38), ist nämlich dem Verhalten des betreffenden obersten Gerichts in Bezug auf seine Vorlagepflicht besondere Aufmerksamkeit zu widmen.

72.   Ist die Rechtsnorm, gegen die verstoßen wurde, unklar und mehrdeutig, so ist der fragliche Rechtsirrtum nicht deshalb entschuldbar, denn das oberste Gericht hätte gerade in diesem Fall ein Vorabentscheidungsersuchen vorlegen müssen, da es nicht annehmen konnte, dass die Entscheidung über die betreffende Rechtsfrage keinerlei Raum für einen vernünftigen Zweifel im Sinne des Urteils C.I.L.F.I.T. lasse(39), vor allem, wenn es keine Rechtsprechung des Gerichtshofes gibt, die ihm über diese Frage Aufschluss geben könnte(40).

73.   Ist die Rechtsnorm, gegen die verstoßen wurde, hingegen klar und eindeutig, so ist der betreffende Rechtsirrtum schon gar nicht entschuldbar, wenn das oberste Gericht einfach deshalb von dieser Norm abweichen wollen sollte, weil diese Norm z. B. seiner Ansicht nach im Widerspruch zu anderen Normen steht, deren Auslegung oder Anwendung in Verbindung mit der verletzten Rechtsnorm schwierig wäre, weil es dann ebenfalls ein Vorabentscheidungsersuchen hätte vorlegen müssen, da es nach seiner eigenen Wertung nicht annehmen konnte, dass die Entscheidung über die ihm vorliegende Rechtsfrage keinerlei Raum für einen vernünftigen Zweifel lasse, vor allem, wenn dieses oberste Gericht beabsichtigt haben sollte, von der einschlägigen Rechtsprechung des Gerichtshofes abzuweichen(41).

74.   Meiner Ansicht nach zeigen diese Beispiele, welches Gewicht die Verkennung der Vorlagepflicht durch ein oberstes Gericht bei der schwierigen Beurteilung der Entschuldbarkeit des Rechtsirrtums haben kann, die der Feststellung dienen soll, ob der betreffende Verstoß hinreichend qualifiziert ist, um die Haftung des Staates auszulösen.

75.   Die Folgen, die der Gerichtshof in Randnummer 55 des Urteils Köbler an die Verkennung der Vorlagepflicht geknüpft hat, deren Bedeutung für die Frage der Entschuldbarkeit des betreffenden Rechtsirrtums soeben dargelegt wurde, stehen meiner Ansicht nach einem Ausschluss der Haftung des Staates für einen einem obersten Gericht zuzurechnenden Verstoß gegen das Gemeinschaftsrecht, der mit einer Verletzung der Vorlagepflicht zusammenhängt, entgegen.

76.   Dies ist jedoch offenbar der Sinn einer nationalen Regelung wie des Gesetzes Nr. 17. Eine Verletzung der Vorlagepflicht weist nämlich mehrere Anknüpfungspunkte zur Auslegung von Rechtsnormen auf. Nicht nur besteht, wie bereits dargelegt, die Gefahr, dass eine solche Pflichtverletzung zu einem Verstoß gegen das Gemeinschaftsrecht im Zusammenhang mit der Auslegung der betreffenden Normen führt, sie kann darüber hinaus selbst die Folge einer falschen Auslegung des Gemeinschaftsrechts oder einer fehlerhaften Auslegung der einschlägigen Rechtsprechung des Gerichtshofes sein. Nach einer solchen nationalen Regelung könnte ein von einem obersten Gericht unter Verkennung seiner Vorlagepflicht begangener Verstoß gegen das Gemeinschaftsrecht somit nicht die Haftung des Staates auslösen.

77.   Hält man sich allein an die Randnummer 55 des Urteils Köbler, die eine Klarstellung der Tragweite des Grundsatzes der Staatshaftung für Verstöße eines obersten Gerichts gegen das Gemeinschaftsrecht enthält, so läuft es diesem Grundsatz zuwider, wenn eine nationale Regelung (wie offenbar die im Ausgangsverfahren streitige) die Haftung des Staates ausschließt, wenn der betreffende Verstoß mit einer Verletzung der Vorlagepflicht zusammenhängt.

78.   Meiner Ansicht nach gilt dies auch für den besonderen (zweifellos seltenen(42)) Fall, dass der Verstoß gegen das Gemeinschaftsrecht, der dem obersten Gericht von einem Einzelnen, dessen Forderungen nicht stattgegeben wurde, vorgeworfen wird, allein in der Verletzung der Vorlagepflicht liegt.

79.   Wie ich nämlich in Nummer 144 meiner Schlussanträge in der Rechtssache Köbler bereits ausgeführt habe, kann man nicht a priori ausschließen, dass der Staat allein wegen einer offenkundigen Verletzung der Vorlagepflicht haftet, auch wenn die Inanspruchnahme des Staates unter diesen Umständen, wie ich ebenfalls (in den Nrn. 149 und 150 der genannten Schlussanträge) ausgeführt habe, auf ernsthafte Schwierigkeiten beim Nachweis eines unmittelbaren Kausalzusammenhangs zwischen der Verletzung der Vorlagepflicht und dem geltend gemachten Schaden stoßen könnte.

80.   Meiner Ansicht nach zeigen diese Ausführungen insgesamt, wie sehr der im Urteil Köbler aufgestellte Grundsatz der Haftung des Staates für Verstöße eines obersten Gerichts gegen das Gemeinschaftsrecht beeinträchtigt würde, wenn die Auslösung dieser Haftung (nach einer nationalen Regelung) ausgeschlossen wäre, wenn der betreffende Verstoß mit der Auslegung von Rechtsnormen im Zusammenhang steht.

81.   Ich bin daher der Ansicht, dass es dem Grundsatz der Haftung des Staates für Verstöße eines obersten Gerichts gegen das Gemeinschaftsrecht widerspricht, wenn diese Haftung nach einer nationalen Regelung allein deswegen ausgeschlossen ist, weil der fragliche Verstoß mit der Auslegung von Rechtsnormen im Zusammenhang steht.

B –    Zum Ausschluss der Haftung des Staates, wenn der Verstoß eines obersten Gerichts gegen das Gemeinschaftsrecht mit der Sachverhalts‑ und Beweiswürdigung im Zusammenhang steht

82.   Man kann sich zunächst fragen, ob der Ausschluss der Haftung des Staates dann, wenn die fragliche Rechtsprechungstätigkeit mit der Sachverhalts‑ und Beweiswürdigung im Zusammenhang steht, Auswirkungen auf den Grundsatz der Haftung des Staates für einem obersten Gericht zuzurechnende Verstöße gegen das Gemeinschaftsrecht hat.

83.   Es ist nämlich allgemein anerkannt, dass die obersten Gerichte anders als die Instanzgerichte nur über Rechtsfragen entscheiden, nicht aber über Tatsachen‑ und Rechtsfragen. Sie haben daher grundsätzlich weder die Richtigkeit der behaupteten Tatsachen noch die Sachdienlichkeit, den Sinn oder die Tragweite der zu deren Nachweis beigebrachten Beweiselemente zu beurteilen; diese Beurteilung ist naturgemäß ausschließlich Sache der Tatsacheninstanz. Die Kontrolle der Entscheidungen der Instanzgerichte durch die obersten Gerichte erstreckt sich daher grundsätzlich nur auf Rechtsfehler und nicht auf Tatsachenfehler(43).

84.   Gleichwohl ist die von den Instanzgerichten vorgenommene Sachverhalts‑ und Beweiswürdigung der Kontrolle durch die obersten Gerichte nicht völlig entzogen, da diese insbesondere die Beachtung der Beweisregeln (über die Zulässigkeit der Beweisarten oder die Beweislast) überwachen und die Richtigkeit der rechtlichen Bewertung der Tatsachen zu überprüfen haben, d. h. prüfen müssen, ob das Instanzgericht den im angefochtenen Urteil dargestellten Sachverhalt in die richtige rechtliche Kategorie eingeordnet und dadurch einer bestimmten rechtlichen Regelung unterworfen hat(44). All dies erfolgt im Rahmen der Überprüfung auf Rechtsfehler, ob es nun um den ordnungsgemäßen Beweis des von dem Instanzgericht festgestellten Sachverhalts oder um die rechtlichen Folgen geht, die das Gericht daraus gezogen hat (diese Schlussfolgerungen können im Übrigen auf einer falschen Auslegung des der betreffenden rechtlichen Kategorie entsprechenden Begriffes beruhen).

85.   Dem Gemeinschaftsrecht ist eine solche Kontrolle nicht fremd.

86.   Zunächst unterliegen zwar die Verfahrensmodalitäten, die im innerstaatlichen Recht der Wahrung der Rechte dienen sollen, die den Einzelnen aus dem Gemeinschaftsrecht erwachsen, vorbehaltlich der Beachtung der Grundsätze der Effektivität und der Gleichwertigkeit, weitgehend dem Grundsatz der Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten, es gibt jedoch einige Gemeinschaftsvorschriften über den Beweis. Solche Vorschriften sind z. B. die in mehreren Richtlinien vorgesehenen Regeln über die Beweislast bei Diskriminierungen(45). Die obersten Gerichte müssen überprüfen, ob die Tatsacheninstanz diese Regeln beachtet hat.

87.   Außerdem und vor allem ist bei zahlreichen Begriffen des Gemeinschaftsrechts eine Überprüfung der rechtlichen Beurteilung des Sachverhalts angebracht. Dies gilt insbesondere bei staatlichen Beihilfen.

88.   Wie bereits dargelegt, obliegt die Kontrolle staatlicher Beihilfen (vorbehaltlich der Änderungen, die sich aus der Verordnung Nr. 994/98 ergeben)(46) sowohl der Kommission als auch den nationalen Gerichten, wobei beide unterschiedliche und einander ergänzende Aufgaben haben. So hat die Kommission die Vereinbarkeit einer Beihilfe mit dem Gemeinsamen Markt zu prüfen, während die nationalen Gerichte (bis zur endgültigen Entscheidung der Kommission über die Vereinbarkeit der fraglichen Beihilfe mit dem Gemeinsamen Markt) die Rechte zu wahren haben, die den Einzelnen aus der unmittelbaren Wirkung der Vorschriften des Artikels 93 Absatz 3 EG‑Vertrag erwachsen.

89.   In diesem Rahmen haben die nationalen Gerichte den Sachverhalt in mehreren Schritten rechtlich zu beurteilen. Zunächst müssen sie prüfen, ob die streitige Maßnahme eine staatliche Beihilfe im Sinne des Artikels 92 Absatz 1 EG‑Vertrag darstellt, d. h., ob damit deren Empfänger oder Empfängern aus öffentlichen Mitteln ein Vorteil verschafft wird(47). Anschließend müssen sie feststellen, ob die fragliche staatliche Beihilfe zur Gruppe der nach Artikel 92 Absatz 1 EG‑Vertrag verbotenen Beihilfen gehört, d. h., ob sie zum einen den Wettbewerb verfälschen und zum anderen den Handel zwischen den Mitgliedstaaten beeinträchtigen kann. Kommt das betreffende nationale Gericht zu dem Ergebnis, dass die streitige Maßnahme unter das grundsätzliche Verbot dieses Artikels fällt, hat es zu bestimmen, ob für sie das Kontrollverfahren des Artikels 93 Absatz 3 EG‑Vertrag gilt, was gegebenenfalls zu der Prüfung führt, ob es sich um eine neue Beihilfe (auf die dieses Verfahren Anwendung findet) oder um eine bestehende Beihilfe handelt (für die es nicht gilt).

90.   Erst nach diesen Beurteilungsschritten kann das nationale Gericht über die Rechtmäßigkeit der streitigen Maßnahme entscheiden und daraus sämtliche Konsequenzen ziehen, die sich im Fall eines Verstoßes gegen Artikel 93 Absatz 3 EG‑Vertrag ergeben(48).

91.   Alle diese Schritte der rechtlichen Beurteilung des Sachverhalts unterliegen in einem Bereich wie dem, um den es im Ausgangsverfahren geht, der Kontrolle durch die obersten Gerichte.

92.   Nun können die obersten Gerichte bei der Überprüfung auf Rechtsfehler selbst einen Rechtsfehler begehen, der die Haftung des Staates auslöst, nämlich dann, wenn dieser Rechtsfehler nach den im Urteil Köbler aufgestellten Kriterien eine offenkundige Verkennung des anwendbaren Gemeinschaftsrechts darstellt.

93.   Ich schließe daraus, dass es dem Grundsatz der Haftung des Staates für Verstöße eines obersten Gerichts gegen das Gemeinschaftsrecht widerspricht, wenn diese Haftung nach einer nationalen Regelung allein deswegen allgemein ausgeschlossen wird, weil der fragliche Verstoß mit der Sachverhalts‑ und Beweiswürdigung im Zusammenhang steht.

94.   Es ist nun zu prüfen, ob es diesem Grundsatz auch zuwiderläuft, wenn die Haftung des Staates (sofern sie nicht ausgeschlossen ist) nach einer nationalen Regelung allein auf Fälle von Vorsatz und grober Fahrlässigkeit beschränkt wird.

C –    Zur Begrenzung der Haftung der Staates für Verstöße eines obersten Gerichts gegen das Gemeinschaftsrecht auf Fälle von Vorsatz und grober Fahrlässigkeit

95.   Der Gerichtshof hat die Haftung des Staates für Verstöße gegen das Gemeinschaftsrecht, die sich aus einer Entscheidung eines obersten Gerichts ergeben, in Randnummer 53 des Urteils Köbler auf den „Ausnahmefall, dass [dieses] Gericht offenkundig gegen das geltende Recht verstoßen hat“(49), begrenzt.

96.   Diese Formulierung unterscheidet sich von derjenigen, die der Gerichtshof im Urteil Brasserie du pêcheur und Factortame für den Fall verwendet hat, dass ein Mitgliedstaat in einem Bereich handelt, in dem er über ein weites Ermessen verfügt. Der Gerichtshof hatte nämlich festgestellt, dass die Haftung des Staates in diesem Fall nur ausgelöst werden kann, wenn der „Mitgliedstaat … die Grenzen, die seinem Ermessen gesetzt sind, offenkundig und erheblich überschritten hat“(50).

97.   Man kann sich fragen, welchen Sinn diese Änderung der Formulierung hat, zumal der Gerichtshof im Urteil Köbler (Randnrn. 55 und 56) für die Feststellung, ob diese Voraussetzung hinsichtlich der Art des Verstoßes erfüllt ist, trotzdem in extenso die Liste der im Urteil Brasserie du pêcheur und Factortame (Randnrn. 56 und 57) aufgestellten Kriterien übernommen hat. Wie bereits dargelegt, hat der Gerichtshof lediglich das Kriterium der Nichterfüllung der Vorlagepflicht hinzugefügt.

98.   Könnte das Fehlen einer ausdrücklichen Bezugnahme auf die Schwere des betreffenden Verstoßes damit zusammenhängen, dass der Gerichtshof seit dem Urteil vom 4. Juli 2000 (Bergaderm und Goupil/Kommission)(51) die für die außervertragliche Haftung der Gemeinschaft seit langem aufgestellte Voraussetzung eines Verstoßes gegen eine höherrangige Rechtsnorm für die Auslösung der Haftung des Staates aufgegeben hat? Auch wenn diese Voraussetzung der Haftung der Gemeinschaft im Urteil Brasserie du pêcheur und Factortame nicht auf die Haftung der Mitgliedstaaten erstreckt worden ist, während der Gerichtshof in diesem Urteil das Erfordernis der Schwere des betreffenden Verstoßes (das auch für die Haftung der Gemeinschaft gilt) aufgestellt hat, kann man sich fragen, ob der Gerichtshof im Urteil Köbler nicht vermeiden wollte, dass dieses Erfordernis der Schwere des betreffenden Verstoßes als Erfordernis hinsichtlich der Art der verletzten Rechtsnorm ausgelegt würde, denn die so genannte Höherrangigkeit oder der so genannte grundlegende Charakter der betreffenden Norm könnten dafür sprechen, den fraglichen Verstoß als schweren Verstoß einzustufen. Diese Frage bleibt offen.

99.   Ich weise gleichwohl nochmals darauf hin, dass, unabhängig davon, wie diese sprachliche Entwicklung in der Rechtsprechung auszulegen ist, für die Beurteilung, ob die Voraussetzung der Haftung des Staates betreffend die Art des Verstoßes eines obersten Gerichts gegen das Gemeinschaftsrecht erfüllt ist, nach Ansicht des Gerichtshofes insbesondere „das Maß an Klarheit und Präzision der verletzten Vorschrift, die Vorsätzlichkeit des Verstoßes, die Entschuldbarkeit des Rechtsirrtums, gegebenenfalls die Stellungnahme eines Gemeinschaftsorgans sowie die Verletzung der Vorlagepflicht nach Artikel 234 Absatz 3 EG durch das in Rede stehende Gericht“(52) zu berücksichtigen sind. Nach Ansicht des Gerichtshofes ist „[e]in Verstoß gegen das Gemeinschaftsrecht … jedenfalls dann hinreichend qualifiziert, wenn die fragliche Entscheidung die einschlägige Rechtsprechung des Gerichtshofes offenkundig verkennt“(53).

100. Auch wenn die Begriffe „Vorsatz“ und „grobe Fahrlässigkeit“ in den Rechtssystemen der verschiedenen Mitgliedstaaten sehr unterschiedliche Bedeutungen haben können, kann man in Fortführung des Urteils Brasserie du pêcheur und Factortame(54) davon ausgehen, dass bestimmte Gesichtspunkte, die im Rahmen einer nationalen Rechtsordnung mit diesen Begriffen in Verbindung gebracht werden können, angesichts der in den Randnummern 55 und 56 des Urteils Köbler angeführten Reihe von Kriterien für die Beurteilung von Bedeutung sein können, ob ein oberstes Gericht offenkundig das anwendbare Recht verkannt hat.

101. Die Haftung des Staates kann zwar auf der Grundlage des nationalen Rechts unter weniger einschränkenden Voraussetzungen als den vom Gerichtshof im Urteil Köbler(55) festgelegten ausgelöst werden, die Aufstellung einer zusätzlichen und damit strengeren Voraussetzung würde jedoch im Ergebnis den Entschädigungsanspruch, der seine Grundlage in der Gemeinschaftsrechtsordnung findet, in Frage stellen(56).

102. Mit der Kommission schließe ich, ohne meine Vorbehalte gegen das Kriterium der Absichtlichkeit des betreffenden Verstoßes aufzugeben, das der Gerichtshof schließlich im Urteil Köbler aufgestellt hat (was ich zur Kenntnis nehme)(57), aus der Gesamtheit dieser Entwicklungen der Rechtsprechung, dass die Haftung des Staates für Verstöße eines obersten Gerichts gegen das Gemeinschaftsrecht nicht von der Voraussetzung des Vorsatzes oder der groben Fahrlässigkeit abhängig gemacht werden kann, die über die offenkundige Verkennung des anwendbaren Rechts (im Sinne der Randnrn. 55 und 56 des Urteils Köbler) hinausgeht(58).

103. Auf die vom vorlegenden Gericht beibehaltene Vorlagefrage ist demnach zu antworten, dass es dem Grundsatz der Haftung des Staates für Verstöße eines obersten Gerichts gegen das Gemeinschaftsrecht widerspricht, wenn diese Haftung nach nationalem Recht allein deswegen allgemein ausgeschlossen ist, weil der betreffende Verstoß mit der Auslegung von Rechtsnormen oder der Sachverhalts‑ und Beweiswürdigung im Zusammenhang steht, es diesem Grundsatz hingegen nicht zuwiderläuft, wenn die Auslösung dieser Haftung davon abhängig gemacht wird, dass das fragliche oberste Gericht vorsätzlich oder grob fahrlässig gehandelt hat, sofern diese Voraussetzung nicht über die der offenkundigen Verkennung des anwendbaren Rechts hinausgeht.

VI – Ergebnis

104. Ich schlage dem Gerichtshof daher vor, die vom Tribunale Genua beibehaltene Vorlagefrage wie folgt zu beantworten:

Es widerspricht dem Grundsatz der Haftung des Staates für Verstöße eines obersten Gerichts gegen das Gemeinschaftsrecht, wenn diese Haftung nach nationalem Recht allein deswegen allgemein ausgeschlossen ist, weil der betreffende Verstoß mit der Auslegung von Rechtsnormen oder der Sachverhalts‑ und Beweiswürdigung im Zusammenhang steht. Es läuft diesem Grundsatz hingegen nicht zuwider, wenn die Auslösung dieser Haftung davon abhängig gemacht wird, dass das fragliche oberste Gericht vorsätzlich oder grob fahrlässig gehandelt hat, sofern diese Voraussetzung nicht über die der offenkundigen Verkennung des anwendbaren Rechts hinausgeht.


1 – Originalsprache: Französisch.


2 – Urteil in der Rechtssache C‑224/01 (Slg. 2003, I‑10239).


3 – Im Einzelnen nennt Artikel 92 Absatz 3 Buchstabe a EG‑Vertrag „Beihilfen zur Förderung der wirtschaftlichen Entwicklung von Gebieten, in denen die Lebenshaltung außergewöhnlich niedrig ist oder eine erhebliche Unterbeschäftigung herrscht“, und Artikel 92 Absatz 3 Buchstabe c EG‑Vertrag „Beihilfen zur Förderung der Entwicklung gewisser Wirtschaftszweige oder Wirtschaftsgebiete, soweit sie die Handelsbedingungen nicht in einer Weise verändern, die dem gemeinsamen Interesse zuwiderläuft“.


4 – Ich lasse die Entwicklung der jeweiligen Rollen der Kommission und der nationalen Gerichte außer Acht, die sich aus der Verordnung (EG) Nr. 994/98 des Rates vom 7. Mai 1998 über die Anwendung der Artikel 92 und 93 des Vertrages zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft auf bestimmte Gruppen horizontaler Beihilfen (ABl. L 142, S. 1) ergibt, da diese Verordnung erst nach dem für den Ausgangsrechtsstreit entscheidungserheblichen Zeitpunkt in Kraft getreten ist.


5 – Dieser Zusammenfassung der für staatliche Beihilfen geltenden Verfahrensregeln des EG‑Vertrags steht die Verordnung (EG) Nr. 659/1999 des Rates vom 22. März 1999 über besondere Vorschriften für die Anwendung von Artikel 93 des EG-Vertrags (ABl. L 83, S. 1) nicht entgegen, da sie nach dem für den Ausgangsrechtsstreit entscheidungserheblichen Zeitpunkt in Kraft getreten ist und weitgehend lediglich die Rechtsprechung des Gerichtshofes in diesem Bereich aufgreift.


6 – Vgl. insbesondere Urteile vom 15. Juli 1964 in der Rechtssache 6/64 (Costa, Slg. 1964, 1141), vom 19. Juni 1973 in der Rechtssache 77/72 (Capolongo, Slg. 1973, 611, Randnr. 6), vom 11. Dezember 1973 in der Rechtssache 120/73 (Lorenz, Slg. 1973, 1471, Randnr. 8), vom 21. November 1991 in der Rechtssache C‑354/90 (Fédération nationale du commerce extérieur des produits alimentaires und Syndicat national des négociants et transformateurs de saumon, Slg. 1991, I‑5505, im Folgenden: Seefischereiabgabe-Urteil, Randnr. 11) und vom 11. Juli 1996 in der Rechtssache C‑39/94 (SFEI u. a., Slg. 1996, I‑3547, Randnr. 39).


7 – Vgl. insbesondere Urteil vom 11. April 1989 in der Rechtssache 66/86 (Ahmed Saeed Flugreisen und Silver Line Reisebüro, Slg. 1989, 803, Randnr. 32).


8 – Zu den Regeln über staatliche Beihilfen vgl. insbesondere Urteil vom 12. Oktober 1978 in der Rechtssache 156/77 (Kommission/Belgien, Slg. 1978, 1881, Randnrn. 10 und 11). Zu Artikel 86 EG über den Missbrauch einer beherrschenden Stellung vgl. insbesondere Urteil vom 30. April 1986 in den Rechtssachen 209/84 bis 213/84 (Asjes u. a., Slg. 1986, 1425, Randnrn. 39, 42 und 45).


9 – GURI Nr. 88 vom 15. April 1988, S. 3, im Folgenden: Gesetz Nr. 17.


10 – Die betreffenden Vorschriften standen in den Artikeln 55, 56 und 74 der Zivilprozessordnung. Nach diesen Vorschriften konnte die Haftung des Staates für die Tätigkeit der Gerichte nur im Fall von Vorsatz, Betrug oder Erpressung ausgelöst werden.


11 – Nach Artikel 1 des Gesetzes Nr. 17 gilt dieses für alle Mitglieder der ordentlichen Gerichtsbarkeit, der Verwaltungsgerichtsbarkeit, der Finanzgerichtsbarkeit, der Militärgerichtsbarkeit und der Sondergerichte, die eine Rechtsprechungstätigkeit ausüben, unabhängig von der Art der Aufgaben, sowie für die übrigen Personen, die an der Ausübung der Rechtsprechungsaufgaben beteiligt sind.


12 – Vgl. Entscheidung der Corte costituzionale vom 19. Juni 1989 (Nr. 18, Randnr. 10, Giustizia civile, 1989, I, S. 769).


13 – Vgl. Artikel 4 Absatz 1 des Gesetzes Nr. 17.


14 – Vgl. Artikel 5 Absatz 4 des Gesetzes Nr. 17.


15 – Urteil in der Rechtssache 13/83 (Slg. 1985, 1513).


16 – Es handelt sich um die Entscheidung 2001/851/EG der Kommission vom 21. Juni 2001 über eine staatliche Beihilfe Italiens zugunsten der Seeverkehrsgesellschaft Tirrenia di Navigazione (ABl. L 318, S. 9). Ich weise darauf hin, dass die Kommission in dieser Entscheidung die diesem Unternehmen vom 1. Januar 1990 bis zum 31. Dezember 2000 als Ausgleich für gemeinwirtschaftliche Dienste gezahlten Beihilfen für mit dem Gemeinsamen Markt vereinbar erklärt und die vom 1. Januar 2001 bis zum 31. Dezember 2004 gezahlten Beihilfen unter der Voraussetzung genehmigt hat, dass bestimmte Bedingungen eingehalten werden. Es wurde davon ausgegangen, dass diese als neue Beihilfen eingestuften Beihilfen unter die in Artikel 86 Absatz 2 EG vorgesehene Ausnahme, nicht jedoch unter die in Artikel 87 Absätze 2 und 3 EG vorgesehenen Ausnahmen, fielen.


17 – Urteil in den Rechtssachen C‑6/90 und C‑9/90 (Slg. 1991, I‑5357).


18 – Urteil in den Rechtssachen C‑46/93 und C‑48/93 (Slg. 1996, I‑1029).


19 – Wie ich im Übrigen bereits in meinen Schlussanträgen in der Rechtssache Köbler (Nr. 38) ausgeführt habe, ist zwar mangels einer innerstaatlichen Rechtsschutzmöglichkeit gegen eine Entscheidung eines obersten Gerichts die Staatshaftungsklage der einzige Rechtsbehelf, mit dem – als ultima ratio – die Wiederherstellung des beeinträchtigten Rechts gewährleistet und letztlich in angemessenem Umfang für den wirksamen gerichtlichen Schutz der Rechte gesorgt werden kann, die dem Einzelnen nach der Gemeinschaftsrechtsordnung zustehen; dies gilt jedoch nicht für die Entscheidungen der Instanzgerichte, da gegen diese innerstaatliche Rechtsbehelfe gegeben sind.


20 – Vgl. Vorabentscheidungsersuchen, S. 6 und 9 der deutschen Fassung.


21 – A. a. O., S. 6.


22 – Vgl. insbesondere Urteile vom 13. März 1986 in der Rechtssache 296/84 (Sinatra, Slg. 1986, 1047, Randnr. 11) und vom 26. September 1996 in der Rechtssache C‑341/94 (Allain, Slg. 1996, I‑4631, Randnr. 11).


23 – Vgl. Urteil Köbler (Randnr. 36).


24 – A. a. O. (Randnrn. 37 bis 43).


25 – A. a. O. (Randnr. 53).


26 – Ich weise darauf hin, dass der in Artikel 2 Absatz 2 des Gesetzes Nr. 17 vorgesehene Ausschluss der Haftung des Staates (der auf diesen spezifischen Fall anwendbar ist), wie in Nr. 18 bereits ausgeführt, eingeführt wurde, um die richterliche Unabhängigkeit zu bewahren, die einen Grundsatz mit Verfassungsrang darstellt.


27 – Der Gerichtshof hat diesen Zweck der Vorlagepflicht im Urteil vom 6. Oktober 1982 in der Rechtssache 283/81 (C.I.L.F.I.T., Slg. 1982, 3415, Randnr. 7) erläutert.


28 – Auf den Sinn dieser Voraussetzung für die Auslösung der Haftung des Staates, die in den Randnrn. 54 bis 56 des Urteils Köbler näher erläutert wird, werde ich später eingehen.


29 – Urteil in den Rechtssachen C‑397/01 bis C‑403/01 (noch nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlicht, Randnrn. 110 bis 115).


30 – Urteil in der Rechtssache C‑129/00 (Slg. 2003, I‑14637).


31 – Vgl. Urteil Kommission/Italien (Randnr. 31).


32 – A. a. O. (Randnrn. 34 und 35).


33 – Vgl. insbesondere Urteil vom 9. Februar 1999 in der Rechtssache C‑343/96 (Dilexport, Slg. 1999, I‑579, Randnrn. 52 und 54) gerade in Bezug auf die betreffende nationale Regelung sowie Urteile vom 9. November 1983 in der Rechtssache 199/82 (San Giorgio, Slg. 1982, 3595, Randnr. 14) und vom 24. März 1988 in der Rechtssache 104/86 (Kommission/Italien, Slg. 1988, 1799, Randnrn. 7 und 11) in Bezug auf eine frühere nationale Regelung, die schließlich aufgehoben wurde und die Beweisanforderungen ausdrücklich vorsah, die einige Gerichte und die Verwaltung im Rahmen der Auslegung und Anwendung der fraglichen nationalen Regelung aufstellten, die diese Regelung ablöste.


34 – Vgl. in diesem Sinne Urteil vom 9. Dezember 2003 (Kommission/Italien, Randnr. 33).


35 – Die Corte suprema di cassazione hat diese Rechtsprechung anscheinend nach Ergehen des Urteils des Gerichtshofes in der genannten Rechtssache aufgegeben. Vgl. hierzu Urteil vom 14. Juli 2004, Nr. 13054, Soc. Sief u. a./Ministero dell’Economia e delle Finanze u. a. (Foro italiano 2004, I, S. 2700).


36 – Zu diesen Rechtsprechungsentwicklungen siehe Nrn. 131 bis 137 meiner Schlussanträge in der Rechtssache, in der das Urteil Köbler ergangen ist.


37 – Dies betrifft meines Erachtens das Kriterium der Vorsätzlichkeit des Verstoßes und das Kriterium des Verhaltens der Gemeinschaftsorgane (vorbehaltlich des besonderen Gebietes des Wettbewerbs‑ und Beihilfenrechts, in dem dieses Kriterium passen kann). Vgl. dazu Nrn. 154 bis 156 meiner Schlussanträge in der Rechtssache, in der das Urteil Köbler ergangen ist.


38 – In diesem Sinne Nr. 139 meiner Schlussanträge in der Rechtssache, in der das Urteil Köbler ergangen ist.


39 – Vgl. Randnrn. 16 bis 20 des Urteils.


40 – Dieser Wertung steht meiner Ansicht nach die im Urteil Köbler (Randnrn. 120 bis 124) getroffene Wertung eines Verstoßes gegen bestimmte gemeinschaftsrechtliche Normen, die der Gerichtshof als unklar oder mehrdeutig angesehen hat, nicht entgegen. Nach Ansicht des Gerichtshofes mag zwar, aufgrund des Gedankens der Zusammenarbeit zwischen den Gerichten, der den Mechanismus des Vorabentscheidungsersuchens bestimmt, das Zurückziehen eines Vorabentscheidungsersuchens weniger schwerwiegend erscheinen als das Unterlassen einer Vorlage, so dass der fragliche Rechtsirrtum (der höchstwahrscheinlich vermieden worden wäre, wenn das Vorabentscheidungsersuchen nicht zurückgezogen worden wäre) eher entschuldbar wäre als bei Unterlassung einer Vorlage. Von einem rein rechtlichen und rechtspolitischen Standpunkt aus kann man sich jedoch fragen, ob eine solche Unterscheidung angebracht ist, wenn das oberste Gericht, wie in dem betreffenden Fall, sein Vorabentscheidungsersuchen aufgrund eines falschen Verständnisses eines Urteils, das der Gerichtshof ihm zugesandt hatte, nachdem das Vorabentscheidungsersuchen bei ihm eingegangen war, zurückgezogen hat, während ein solches falsches Verständnis (und mit Sicherheit die daraus resultierenden falschen Schlussfolgerungen für die Entscheidung des Rechtsstreits) durch einfaches aufmerksames Lesen dieses (eindeutigen) Urteils hätte vermieden werden können. Diese Wertung des Gerichtshofes, die die Bedeutung des Kriteriums der Verkennung der Vorlagepflicht abmildert, beruht offenbar weitgehend auf Erwägungen, die sich auf die besonderen Umstände des betreffenden Falles beziehen, so dass man annehmen kann, dass sie nicht wesentlich über den Rahmen dieser Umstände hinaus ausgedehnt werden soll.


41 – Wie ich in Nr. 141 meiner Schlussanträgen in der Rechtssache, in der das Urteil Köbler ergangen ist, bereits ausgeführt habe, binden die Urteile des Gerichtshofes, insbesondere soweit sie im Rahmen von Vorabentscheidungsverfahren ergangen sind, zwangsläufig die nationalen Gerichte hinsichtlich der Auslegung der Bestimmungen des Gemeinschaftsrechts; wenn diese von der Rechtsprechung des Gerichtshofes abweichen wollen, haben sie daher nur die Möglichkeit, dem Gerichtshof eine Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen und ihm neue Gesichtspunkte zu unterbreiten, die ihn dazu veranlassen könnten, eine Frage, über die er bereits entschieden hat, anders zu beantworten.


42 – Es wäre denkbar, dass ein Einzelner es vorzieht, seine Staatshaftungsklage auf eine Verletzung der Vorlagepflicht anstatt auf einen Verstoß gegen eine Gemeinschaftsvorschrift zu stützen, deren Auslegung seiner Meinung nach eine Vorlage erfordert hätte, wenn es einfacher ist, eine offenkundige Verletzung der Vorlagepflicht nachzuweisen als einen offenkundigen Verstoß gegen die betreffende materielle Rechtsvorschrift.


43 – Siehe zu diesem Punkt insbesondere für das französische System, Boré, J., und Boré, L., La cassation en matière civile, Dalloz, 3. Auflage, 2003, S. 223 und S. 262 bis 278; für eine rechtsvergleichende Studie über das französische und das deutsche System, Ferrand, F., Cassation française et Révision allemande, PUF, 1993, S. 42 und 161; für das italienische System, Di Federico, G., Manuale di ordinamento giudiziario, CEDAM, 2004, S. 83 bis 85. Für ein vergleichbares System siehe Wathelet, M., und Van Raepenbusch, S., „Le contrôle sur pourvoi de la Cour de justice des Communautés européennes, dix ans après la création du Tribunal de première instance“, Mélanges en l’honneur de M. Schockweiler, 1999, S. 605 bis 633.


44 – Siehe insbesondere für das französische System, Boré, J., und Boré, L., a. a. O., S. 274 und 275, sowie S. 279 bis 294; für das deutsche und das französische System, Ferrand, F., a. a. O., S. 135 und 163, und für das italienische System, Ascarelli, T., „Le fait et le droit devant la Cour de cassation italienne“, Le Fait et le droit, Études de logique juridique, Bruylant, Brüssel, 1961, S. 113 ff., sowie Mazzarella, F., Analisi del giudizio civile di cassazione, CEDAM, 3. Auflage, 2003, S. 86.


45 – Vgl. Artikel 8 der Richtlinie 2000/43/EG des Rates vom 29. Juni 2000 zur Anwendung des Gleichbehandlungsgrundsatzes ohne Unterschied der Rasse oder der ethnischen Herkunft (ABl. L 180, S. 22) sowie Artikel 10 der Richtlinie 2000/78/EG des Rates vom 27. November 2000 zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf (ABl. L 303, S. 16), die die Richtlinie 97/80/EG des Rates vom 15. Dezember 1997 über die Beweislast bei Diskriminierung aufgrund des Geschlechts (ABl. 1998, L 14, S. 6) fortführt.


46 – Vgl. Nrn. 10 bis 12 der Schlussanträge und die zugehörigen Fußnoten.


47 – In Anbetracht der Bedeutung, die der Gerichtshof im Urteil vom 24. Juli 2003 in der Rechtssache C‑280/00 (Altmark Trans und Regierungspräsidium Magdeburg, Slg. 2003, I‑7747, Randnrn. 83 bis 94) dem Kriterium des dem Begünstigten einer solchen Maßnahme gewährten Vorteils beigemessen hat, kann sich diese Bewertung für das nationale Gericht als schwer erweisen, insbesondere, wenn es sich um Subventionen staatlicher Herkunft handelt, die als Ausgleich für die Kosten der einem Unternehmen auferlegten gemeinwirtschaftlichen Dienste gewährt wurden. Ich erinnere daher daran, dass der Gerichtshof im Urteil SFEI u. a. (Randnr. 50) ausgeführt hat: „Hat das nationale Gericht Zweifel daran, ob die betreffenden Maßnahmen als staatliche Beihilfe zu qualifizieren sind, so kann es von der Kommission Erläuterungen zu diesem Punkt verlangen“, wobei er darauf hinweist, dass „[die Kommission i]n ihrer Bekanntmachung vom 23. November 1995 über die Zusammenarbeit zwischen der Kommission und den Gerichten der Mitgliedstaaten im Bereich der staatlichen Beihilfen … die nationalen Gerichte ausdrücklich dazu ermuntert [hat], mit ihr Verbindung aufzunehmen, wenn sie bei der Anwendung des Artikels 93 Absatz 3 des Vertrages auf Schwierigkeiten stoßen, und … erläutert [hat], welcher Art die Auskünfte sind, die sie erteilen kann“. Der Gerichtshof hat in diesem Sinne weiter ausgeführt: „Außerdem kann oder muss das nationale Gericht gemäß Artikel 177 Absätze 2 und 3 des Vertrages dem Gerichtshof eine Frage nach der Auslegung des Artikels 92 des Vertrages zur Vorabentscheidung vorlegen“ (Randnr. 51).


48 – Für einen Überblick über die Konsequenzen siehe Nr. 125 meiner ersten Schlussanträge in der Rechtssache Altmark Trans und Regierungspräsidium Magdeburg. Ich weise insoweit darauf hin, dass das nationale Gericht über die Rechtmäßigkeit der streitigen Maßnahme auch entscheiden muss, wenn die Kommission diese Maßnahme durch eine endgültige Entscheidung für mit dem Gemeinsamen Markt vereinbar erklärt. Nach ständiger Rechtsprechung hat eine solche Entscheidung der Kommission nämlich nicht die Heilung der Durchführung von unter Verstoß gegen Artikel 93 Absatz 3 EG‑Vertrag nicht mitgeteilten Beihilfemaßnahmen zur Folge. Vgl. insbesondere Seefischereiabgabe‑Urteil (Randnrn. 16 und 17) sowie Urteile vom 21. Oktober 2003 in den Rechtssachen C‑261/01 und C‑262/01 (Van Calster u. a., Slg. 2003, I‑12249, Randnrn. 62 und 63) und vom 21. Juli 2005 in der Rechtssache C‑71/04 (Xunta de Galicia, noch nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlicht, Randnr. 31).


49 – Hervorhebung von mir.


50 – Randnr. 55, Hervorhebung von mir.


51 – Urteil in der Rechtssache C‑352/98 P (Slg. 2000, I‑5291, vgl. Randnrn. 13 und 39 bis 47).


52 – Vgl. Urteil Köbler (Randnr. 55).


53 – A. a. O. (Randnr. 56)


54 – Vgl. Randnr. 78 des Urteils Brasserie du pêcheur und Factortame hinsichtlich der Möglichkeit, die Haftung eines Mitgliedstaats vom Vorliegen eines Verschuldens abhängig zu machen. Man kommt nicht umhin, den Begriff des Verschuldens in die Nähe der Begriffe des Vorsatzes (im Sinne eines absichtlichen oder willentlichen Verstoßes) oder der groben Fahrlässigkeit (im Sinne eines unabsichtlichen Verstoßes) zu rücken.


55 – Vgl. Randnr. 57 des Urteils Köbler, der Randnr. 66 des Urteils Brasserie du pêcheur und Factortame fortführt.


56 – A. a. O.


57 – Vgl. die Vorbehalte, die ich in Nr. 156 meiner Schlussanträge in der Rechtssache Köbler zum Ausdruck gebracht habe. Ich behalte diese Vorbehalte bei, gehe jedoch nicht so weit, eine Änderung der Rechtsprechung in diesem Punkt vorzuschlagen.


58 – Vgl. für eine vergleichbare Argumentation Randnr. 79 des Urteils Brasserie du pêcheur und Factortame.