Rechtssache C-263/02 P
Kommission der Europäischen Gemeinschaften
gegen
Jégo-Quéré & Cie SA
«Rechtsmittel – Zulässigkeit der Nichtigkeitsklage einer juristischen Person gegen eine Verordnung»
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Schlussanträge des Generalanwalts F. G. Jacobs vom 10. Juli 2003 |
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Urteil des Gerichtshofes (Sechste Kammer) vom 1. April 2004 |
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Leitsätze des Urteils
- 1.
- Europäische Gemeinschaften – Gerichtliche Kontrolle der Rechtmäßigkeit der Handlungen der Organe – Handlungen mit allgemeiner Geltung – Erfordernis für natürliche oder juristische Personen, eine Einrede der Rechtswidrigkeit zu erheben oder ein Vorabentscheidungsersuchen
zur Prüfung der Gültigkeit zu veranlassen – Pflicht der nationalen Gerichte, die nationalen Verfahrensvorschriften so anzuwenden, dass die Rechtmäßigkeit von Gemeinschaftshandlungen
allgemeiner Geltung angefochten werden kann – Möglichkeit der Nichtigkeitsklage vor dem Gemeinschaftsrichter bei unüberwindlichem Hindernis auf der Ebene der nationalen
Verfahrensvorschriften – Ausschluss
(Artikel 10 EG, 230 Absatz 4 EG, 234 EG und 241 EG)
- 2.
- Nichtigkeitsklage – Natürliche oder juristische Personen – Handlungen, die sie unmittelbar und individuell betreffen – Auslegung contra legem des Erfordernisses individueller Betroffenheit – Unzulässigkeit
(Artikel 230 Absatz 4 EG)
- 3.
- Nichtigkeitsklage – Natürliche oder juristische Personen – Handlungen, die sie unmittelbar und individuell betreffen – Verordnung mit Maßnahmen zur Wiederauffüllung des Seehechtbestands und Vorschriften zur Überwachung der Fischereifahrzeuge
– Keine besondere Rechtsposition zugunsten eines Wirtschaftsteilnehmers im Hinblick auf den Erlass dieser Verordnung – Unzulässigkeit
(Artikel 230 Absatz 4 EG; Verordnung Nr. 1162/2001 der Kommission)
- 1.
- Der EG-Vertrag hat mit den Artikeln 230 EG und 241 EG auf der einen und Artikel 234 EG auf der anderen Seite ein vollständiges
System von Rechtsbehelfen und Verfahren, das die Kontrolle der Rechtmäßigkeit der Handlungen der Organe gewährleisten soll,
geschaffen und mit dieser Kontrolle den Gemeinschaftsrichter betraut. In diesem System haben natürliche oder juristische Personen,
die wegen der Zulässigkeitsvoraussetzungen des Artikels 230 Absatz 4 EG Gemeinschaftshandlungen mit allgemeiner Geltung nicht
unmittelbar anfechten können, die Möglichkeit, je nach den Umständen des Falles die Ungültigkeit solcher Handlungen entweder
inzident nach Artikel 241 EG vor dem Gemeinschaftsrichter oder aber vor den nationalen Gerichten geltend zu machen und diese
Gerichte, die nicht selbst die Ungültigkeit der genannten Handlungen feststellen können, zu veranlassen, dem Gerichtshof insoweit
Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen.
- Es ist somit Sache der Mitgliedstaaten, ein System von Rechtsbehelfen und Verfahren vorzusehen, mit dem die Einhaltung des
Rechts auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz gewährleistet werden kann.
- In diesem Rahmen haben die nationalen Gerichte gemäß dem in Artikel 10 EG aufgestellten Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit
die nationalen Verfahrensvorschriften über die Einlegung von Rechtsbehelfen möglichst so auszulegen und anzuwenden, dass natürliche
und juristische Personen die Rechtmäßigkeit jeder nationalen Entscheidung oder anderen Maßnahme, mit der eine Gemeinschaftshandlung
mit allgemeiner Geltung auf sie angewandt wird, gerichtlich anfechten und sich dabei auf die Ungültigkeit dieser Handlung
berufen können.
- Eine Nichtigkeitsklage vor dem Gemeinschaftsrichter steht jedoch einem Einzelnen, der sich gegen eine Handlung mit allgemeiner
Geltung wie eine Verordnung wendet, die ihn nicht in ähnlicher Weise individualisiert wie einen Adressaten, auch dann nicht
offen, wenn nach einer konkreten Prüfung der nationalen Verfahrensvorschriften durch diesen Richter dargetan werden könnte,
dass diese Vorschriften es dem Einzelnen nicht gestatten, eine Klage zu erheben, mit der er die Gültigkeit der streitigen
Gemeinschaftshandlung in Frage stellen kann. Denn eine solche Regelung würde es in jedem Einzelfall erforderlich machen, dass
der Gemeinschaftsrichter das nationale Verfahrensrecht prüft und auslegt, was seine Zuständigkeit im Rahmen der Kontrolle
der Rechtmäßigkeit der Gemeinschaftshandlungen überschreiten würde.
- Daher ist eine Nichtigkeitsklage vor dem Gemeinschaftsrichter jedenfalls auch dann nicht möglich, wenn sich ergäbe, dass der
Einzelne nach den nationalen Verfahrensvorschriften die Gültigkeit der beanstandeten Gemeinschaftshandlung erst in Frage stellen
kann, wenn er gegen diese Handlung verstoßen hat.
- Die Tatsache, dass eine Verordnung unmittelbar, d. h. ohne Tätigwerden der nationalen Behörden, gilt, bedeutet als solche
nicht, dass ein von der Verordnung unmittelbar betroffener Wirtschaftsteilnehmer deren Gültigkeit erst dann in Zweifel ziehen
kann, wenn er gegen sie verstoßen hat. Es ist nämlich nicht auszuschließen, dass ein nationales Rechtssystem einem Einzelnen,
der von einer allgemeinen normativen Handlung des nationalen Rechts, die nicht unmittelbar gerichtlich angefochten werden
kann, unmittelbar betroffen ist, die Möglichkeit eröffnet, bei den nationalen Behörden eine mit dieser Handlung zusammenhängende
Maßnahme zu beantragen, die vor dem nationalen Gericht angefochten werden kann, so dass dieser Einzelne die fragliche Handlung
mittelbar beanstanden kann. Ebenso ist nicht auszuschließen, dass ein nationales Rechtssystem einem von einer Verordnung unmittelbar
betroffenen Wirtschaftsteilnehmer die Möglichkeit eröffnet, bei den nationalen Behörden eine sich auf diese Verordnung beziehende
Maßnahme zu beantragen, die vor dem nationalen Gericht angefochten werden kann, so dass ein solcher Wirtschaftsteilnehmer
die fragliche Verordnung mittelbar beanstanden kann.
(vgl. Randnrn. 30-35)
- 2.
- Zwar ist die Voraussetzung, dass eine natürliche oder juristische Person nur dann Klage gegen eine Verordnung erheben kann,
wenn sie nicht nur unmittelbar, sondern auch individuell betroffen ist, im Licht des Grundsatzes eines effektiven gerichtlichen
Rechtsschutzes unter Berücksichtigung der verschiedenen Umstände, die einen Kläger individualisieren können, auszulegen; doch
kann eine solche Auslegung nicht zum Wegfall der fraglichen Voraussetzung, die ausdrücklich im Vertrag vorgesehen ist, führen.
Andernfalls würden die Gemeinschaftsgerichte die ihnen durch den Vertrag verliehenen Befugnisse überschreiten.
- Dies ist aber bei der Auslegung dieser Voraussetzung der Fall, wonach eine natürliche oder juristische Person als von einer
allgemein geltenden Gemeinschaftsbestimmung, die sie unmittelbar betrifft, individuell betroffen anzusehen ist, wenn diese
Bestimmung ihre Rechtsposition unzweifelhaft und gegenwärtig beeinträchtigt, indem sie ihre Rechte einschränkt oder ihr Pflichten
auferlegt.
- Eine derartige Auslegung läuft nämlich im Wesentlichen darauf hinaus, dass die Voraussetzung der individuellen Betroffenheit,
wie sie in Artikel 230 Absatz 4 EG vorgesehen ist, verfälscht wird.
(vgl. Randnrn. 36-38)
- 3.
- In Ermangelung einer gemeinschaftsrechtlichen Bestimmung, wonach der Kommission für den Erlass einer bestimmten Verordnung
die Anwendung eines Verfahrens vorgeschrieben wäre, in dessen Rahmen ein Wirtschaftsteilnehmer möglicherweise Rechte wie das
Anhörungsrecht geltend machen kann, wird dem Wirtschaftsteilnehmer im Hinblick auf den Erlass dieser Verordnung keine besondere
Rechtsposition zuerkannt. Der Umstand, dass der Wirtschaftsteilnehmer der Einzige war, der vor dem Erlass der Verordnung eine
bestimmte Lösung für die Erreichung des mit ihr verfolgten Zieles vorgeschlagen hatte, kann ihn nicht im Sinne von Artikel
230 Absatz 4 EG individualisieren.
(vgl. Randnrn. 47-48)