1. Steuerrecht – Harmonisierung – Umsatzsteuern – Gemeinsames Mehrwertsteuersystem – Lieferungen von Gegenständen – Dienstleistungen
(Richtlinie 77/388 des Rates, Artikel 2 Nummer 1, 4 Absätze 1 und 2, 5 Absatz 1 und 6 Absatz 1)
2. Steuerrecht – Harmonisierung – Umsatzsteuern – Gemeinsames Mehrwertsteuersystem – Vorsteuerabzug
(Richtlinie 77/388 des Rates, Artikel 17)
1. Umsätze sind, selbst wenn sie ausschließlich in der Absicht getätigt werden, einen Steuervorteil zu erlangen, und sonst keinen wirtschaftlichen Zweck verfolgen, Lieferungen von Gegenständen oder Dienstleistungen und eine wirtschaftliche Tätigkeit im Sinne der Artikel 2 Nummer 1, 4 Absätze 1 und 2, 5 Absatz 1 und 6 Absatz 1 der Sechsten Richtlinie 77/388 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern in ihrer durch die Richtlinie 95/7 geänderten Fassung, wenn sie die objektiven Kriterien erfüllen, auf denen diese Begriffe beruhen.
Die Begriffe des Steuerpflichtigen und der wirtschaftlichen Tätigkeiten sowie der Lieferungen von Gegenständen und der Dienstleistungen, die die nach der Sechsten Richtlinie steuerbaren Umsätze definieren, haben nämlich sämtlich objektiven Charakter und sind unabhängig von Zweck und Ergebnis der betroffenen Umsätze anwendbar. Insoweit wäre eine Verpflichtung der Steuerverwaltung, Untersuchungen anzustellen, um die Absicht des Steuerpflichtigen zu ermitteln, unvereinbar mit den Zielen des gemeinsamen Mehrwertsteuersystems, Rechtssicherheit zu gewährleisten und die mit der Anwendung der Mehrwertsteuer verbundenen Maßnahmen dadurch zu erleichtern, dass, abgesehen von Ausnahmefällen, auf die objektive Natur des betreffenden Umsatzes abgestellt wird.
Auch wenn die genannten objektiven Kriterien im Fall einer Steuerhinterziehung z. B. durch falsche Steuererklärungen oder die Ausstellung nicht ordnungsgemäßer Rechnungen zwar nicht erfüllt sind, ändert das doch nichts daran, dass es bei der Feststellung, ob ein Umsatz eine Lieferung von Gegenständen oder eine Dienstleistung und eine wirtschaftliche Tätigkeit darstellt, nicht darauf ankommt, ob der betreffende Umsatz ausschließlich zur Erlangung eines Steuervorteils getätigt wurde.
(vgl. Randnrn. 55-57, 59-60, Tenor 1)
2. Die Sechste Richtlinie 77/388 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern in ihrer durch die Richtlinie 95/7 geänderten Fassung ist dahin auszulegen, dass sie dem Recht des Steuerpflichtigen auf Vorsteuerabzug entgegensteht, wenn die Umsätze, die dieses Recht begründen, eine missbräuchliche Praxis darstellen.
Die Feststellung einer missbräuchlichen Praxis erfordert zum einen, dass die fraglichen Umsätze trotz formaler Anwendung der Bedingungen der einschlägigen Bestimmungen der Sechsten Richtlinie und des zu ihrer Umsetzung erlassenen nationalen Rechts einen Steuervorteil zum Ergebnis haben, dessen Gewährung dem mit diesen Bestimmungen verfolgten Ziel zuwiderlaufen würde. Zum anderen muss auch aus einer Reihe objektiver Anhaltspunkte ersichtlich sein, dass mit den fraglichen Umsätzen im Wesentlichen ein Steuervorteil bezweckt wird.
Würde Steuerpflichtigen der Abzug der gesamten Vorsteuer gestattet, während ihnen im Rahmen ihrer normalen Geschäftstätigkeit kein der Vorsteuerabzugsregelung der Sechsten Richtlinie oder dem zu ihrer Umsetzung erlassenen nationalen Recht entsprechender Umsatz den Vorsteuerabzug erlaubt hätte oder ihnen nur ein teilweiser Abzug möglich gewesen wäre, so liefe dies dem Grundsatz der steuerlichen Neutralität und damit dem Ziel der genannten Regelung zuwider.
Zum zweiten Kriterium, nach dem mit den fraglichen Umsätzen im Wesentlichen ein Steuervorteil bezweckt werden muss, ist darauf hinzuweisen, dass es Sache des nationalen Gerichts ist, den tatsächlichen Inhalt und die wirkliche Bedeutung der fraglichen Umsätze festzustellen. Dabei kann es den rein willkürlichen Charakter dieser Umsätze sowie die rechtlichen, wirtschaftlichen und/oder personellen Verbindungen zwischen den Wirtschaftsteilnehmern berücksichtigen, die in einen Steuersparplan einbezogen sind.
Ist eine missbräuchliche Praxis festgestellt worden, so sind die diese Praxis bildenden Umsätze in der Weise neu zu definieren, dass auf die Lage abgestellt wird, die ohne die diese missbräuchliche Praxis begründenden Umsätze bestanden hätte.
Insoweit kann die Steuerverwaltung rückwirkend die Erstattung der abgezogenen Beträge für alle Umsätze verlangen, hinsichtlich deren sie feststellt, dass das Recht auf Vorsteuerabzug in missbräuchlicher Weise ausgeübt wurde. Sie muss davon jedoch auch alle Steuern auf Ausgangsumsätze abziehen, die der betreffende Steuerpflichtige im Rahmen des Steuersparplans willkürlich geschuldet hat, und sie muss gegebenenfalls überschießende Beträge erstatten. Genauso muss sie dem Steuerpflichtigen, der ohne eine missbräuchliche Praxis darstellende Umsätze der Begünstigte des ersten derartigen Umsatzes gewesen wäre, gestatten, die Steuer auf diesen Eingangsumsatz gemäß der Vorsteuerabzugsregelung der Sechsten Richtlinie abzuziehen.
(vgl. Randnrn. 74-75, 80-81, 85-86, 94-98, Tenor 2-3)