SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS

JEAN MISCHO

vom 3. April 2003 ( 1 )

I — Einleitung

1.

Das Ausgangsverfahren richtet sich auf Betreiben der Staatsanwaltschaft beim Amtsgericht Augsburg (Deutschland) gegen Herrn Bruno Schnitzer, dem vorgeworfen wird, gegen die deutschen Rechtsvorschriften zur Bekämpfung der Schwarzarbeit verstoßen zu haben. Herr Schnitzer hatte ein portugiesisches Unternehmen mit der Ausführung von Verputzarbeiten in erheblichem Umfang in Deutschland beauftragt, die dieses Unternehmen erledigte, ohne in die deutsche Handwerksrolle eingetragen zu sein.

2.

Vom Amtsgericht Augsburg mit einer Vorabentscheidungsfrage nach der Auslegung der Artikel 49 EG, 50 EG, 54 EG und 55 EG sowie der Richtlinie 64/427/EWG des Rates vom 7. Juli 1964 über die Einzelheiten der Übergangsmaßnahmen auf dem Gebiet der selbständigen Tätigkeiten der be- und verarbeitenden Gewerbe der CITI-Hauptgruppen 23—40 (Industrie und Handwerk) ( 2 ) befasst, hatte der Gerichtshof zunächst beschlossen, ohne mündliche Anhörung der Beteiligten zu entscheiden. Keiner der Beteiligten des Ausgangsverfahrens hatte nämlich eine solche Anhörung beantragt.

3.

Am 17. September 2002 habe ich meine Schlussanträge in dieser Rechtssache vorgetragen.

4.

Mit Beschluss vom 10. Januar 2003 hat der Gerichtshof die mündliche Verhandlung wiedereröffnet, da nicht ausgeschlossen werden könne, dass Herr Schnitzer weder von den in dieser Rechtssache abgegebenen schriftlichen Erklärungen noch von der Aufforderung Kenntnis erhalten habe, mitzuteilen, ob er gemäß Artikel 104 § 4 der Verfahrensordnung beantrage, seinen Standpunkt mündlich zu Gehör bringen zu können.

5.

Am 27. Februar 2003 hat eine mündliche Anhörung stattgefunden.

6.

Bei dieser Anhörung hat die Anwältin von Herrn Schnitzer eine Reihe von Argumenten vorgetragen, die sich auf die mangelnde Klarheit der Regelung über die Handwerksrolle und ihre Unvereinbarkeit mit der deutschen Verfassung beziehen. Der Gerichtshof hat sich jedoch auf die Auslegung der einschlägigen Bestimmungen des Gemeinschaftsrechts zu beschränken.

II — Analyse

7.

Erinnern wir uns daran, dass das nationale Gericht wissen möchte, ob es mit dem EG-Recht über den freien Dienstleistungsverkehr ( 3 ) vereinbar ist, wenn ein portugiesisches Unternehmen, das im Heimatland die Voraussetzungen für eine gewerbliche Tätigkeit erfüllt, weiter gehende, wenn auch nur formale Voraussetzungen erfüllen muss (hier: Eintragung in die Handwerksrolle), um diese Tätigkeit in Deutschland nicht nur kurzfristig, sondern auch über einen längeren Zeitraum hinweg auszuüben.

8.

Bei der mündlichen Anhörung hat die Anwältin von Herrn Schnitzer genauer erläutert, wie die streitige Regelung in Deutschland angewandt wird. Daraus ergibt sich, dass die Eintragung in die Handwerksrolle seit dem Urteil Corsten ( 4 ) kostenlos ist. Im Übrigen erklären sich die Zeiträume, die verstreichen können, bis die Eintragung erfolgt, dadurch, dass die Dienstleister nicht immer in der Lage sind, sofort nachzuweisen, dass sie in dem fraglichen Handwerk sechs Jahre lang ununterbrochen als Selbständiger oder als Betriebsleiter tätig waren. Dies ist eine in Artikel 3 der Richtlinie 64/427, die zur maßgebenden Zeit anwendbar war, aufgestellte Voraussetzung.

9.

Es ist also nicht die Verpflichtung zur Eintragung in die Handwerksrolle, die die fraglichen Verzögerungen verursacht hat.

10.

In meinen Schlussanträgen vom 17. September 2002 habe ich die Meinung vertreten, dass die einschlägigen Bestimmungen des Vertrages und der Richtlinie 64/427 dem Erfordernis einer Eintragung in die Handwerksrolle nicht entgegenstehen, wenn dieses Erfordernis nicht geeignet ist, die Ausübung des Rechts auf freien Dienstleistungsverkehr zu verzögern oder zu erschweren, und weder zusätzliche Verwaltungskosten noch die obligatorische Zahlung von Beiträgen an die Handwerkskammer nach sich zieht.

11.

Es lässt sich nämlich nicht leugnen, dass die Überprüfung der Voraussetzungen hinsichtlich der Berufserfahrung, die die Richtlinie für Handwerker aufstellt, die keinen berufsqualifizierenden Abschluss besitzen, völlig berechtigt ist.

12.

In Bezug auf das Erfordernis einer Eintragung in die Handwerksrolle hat der Gerichtshof in Randnummer 38 des Urteils Corsten festgestellt, dass es darauf abziele, die Qualität der durchgeführten Handwerksarbeiten zu gewährleisten und deren Abnehmer vor Schäden zu bewahren.

13.

Der Gerichtshof hat außerdem anerkannt, dass dies einen zwingenden Grund des Allgemeininteresses darstelle, der eine Beschränkung der Dienstleistungsfreiheit rechtfertigen könne, und dass dieses Erfordernis geeignet erscheine, das damit verfolgte Ziel zu sichern.

14.

Es bleibt daher die Frage, ob die Eintragung in die Handwerksrolle über das hinausgeht, was zur Erreichung des verfolgten Zieles erforderlich ist.

15.

Wenn diese Eintragung als solche weder eine nennenswerte Verzögerung über die zur Überprüfung der Voraussetzungen hinsichtlich der Berufserfahrung erforderlichen Fristen hinaus noch Verwaltungskosten mit sich bringt, kann nicht davon ausgegangen werden, dass sie über das hinausgeht, was zur Erreichung des verfolgten Zieles erforderlich ist.

16.

Ich erhalte daher den ersten Punkt der Antwort, die ich für die Vorlagefrage vorgeschlagen habe, aufrecht.

17.

Bei der mündlichen Anhörung ist auch die Frage erörtert worden, von welchem Zeitpunkt an eine Niederlassung im Aufnahmestaat gegeben war.

18.

Dazu habe ich in Nummer 65 meiner Schlussanträge vom 17. September 2002 ausgeführt, dass das vorlegende Gericht „unter Berücksichtigung von Dauer, Häufigkeit, Periodizität und Kontinuität der Tätigkeit [der portugiesischen Firma] zu prüfen [hat], ob diese ihre Tätigkeit in Deutschland vorübergehend im Sinne des EG-Vertrags ausübt“ ( 5 ). Sollte sich herausstellen, dass diese Tätigkeit von einem bestimmten Zeitpunkt an diesen vorübergehenden Charakter verloren hat oder dass sie vollständig oder überwiegend auf das deutsche Hoheitsgebiet ausgerichtet war, käme das Erfordernis der Eintragung in die Handwerksrolle (einschließlich des Erfordernisses der Zahlung von Beiträgen an die Handwerkskammer) ohne Einschränkung zum Tragen.

19.

Die Kommission hat darauf hingewiesen, dass sie am 7. März 2002 einen Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über die Anerkennung von Berufsqualifikationen (KOM[2002] 119 endgültig) vorgelegt habe.

20.

Artikel 5 Absatz 2 dieses Vorschlags sieht vor: „In dem Fall, in dem sich der Dienstleister in den Aufnahmemitgliedstaat begibt, gilt für die Zwecke dieser Richtlinie als ‚Erbringung von Dienstleistungen‘ die Ausübung einer beruflichen Tätigkeit in einem Mitgliedstaat während höchstens sechzehn Wochen pro Jahr durch einen in einem anderen Mitgliedstaat niedergelassenen Berufsangehörigen. Das Kriterium nach Unterabsatz 1 schließt eine Einzelfallbewertung insbesondere unter Berücksichtigung der Dauer, der Häufigkeit, der regelmäßigen Wiederkehr und der Kontinuität der Dienstleistung nicht aus.“

21.

Dieser Vorschlag zeigt, dass — und dies hat die Kommission bei der mündlichen Anhörung mit großem Nachdruck vorgetragen — ein Bedarf besteht, eine klarere Trennungslinie zwischen der freien Dienstleistung und der Niederlassung zu ziehen, so dass potenzielle Dienstleister wissen, woran sie sich halten müssen, bevor sie ihre Tätigkeit in einem anderen Mitgliedstaat aufnehmen.

22.

Im vorliegenden Fall hat das portugiesische Unternehmen, das für Herrn Schnitzer arbeitete, dem vorlegenden Gericht zufolge zwischen November 1994 und November 1997 Verputzarbeiten in erheblichem Umfang in Südbayern ausgeführt. Sollte diese Tätigkeit ununterbrochen gewesen sein, so hätte die genannte Gesellschaft demnach den Zeitraum von sechzehn Wochen, der im Vorschlag der Kommission erwähnt ist, sehr weit überschritten.

23.

Es ist jedenfalls Sache des nationalen Gerichts, aufgrund aller verfügbaren Kriterien, insbesondere auch der in Nummer 24 meiner Schlussanträge vom 17. September 2002 genannten, festzustellen, ob es sich vorliegend um einen Fall der Niederlassung handelt.

24.

All das veranlasst mich, auch den zweiten Punkt des Antwortvorschlags zu bestätigen, den ich auf die Vorlagefrage in meinen Schlussanträgen vom 17. September 2002 gemacht habe, dass nämlich, wenn „sich die Tätigkeiten der Person oder des Unternehmens im Hoheitsgebiet des aufnehmenden Mitgliedstaats — in quasi kontinuierlicher Weise[,]... auf der Grundlage einer ganzen Reihe von Verträgen — über einen längeren Zeitraum erstreckt [haben],... es Sache des zuständigen Gerichts [ist], zu bestimmen, von welchem Zeitpunkt an die Situation einer Niederlassung gleichzustellen ist und daher zur Zahlung von Beiträgen an die Handwerkskammer zu führen hat“.

25.

Die Kommission ist in der mündlichen Anhörung ebenso wie in ihren schriftlichen Erklärungen auch auf das Problem der Härte der in Deutschland anwendbaren Sanktionen eingegangen. Insoweit hat das nationale Gericht zu beurteilen, ob ein Unternehmen, bei dem eine Prüfung der in der Richtlinie vorgesehenen Voraussetzungen für den Zugang zu den betreffenden Tätigkeiten vorgenommen wurde und zu einer ausdrücklichen positiven Antwort geführt hat, das aber — auch nach einer ziemlich langen Tätigkeit — nicht in die Handwerksrolle eingetragen wurde, ebenso harten Sanktionen für „Schwarzarbeit“ unterworfen werden kann wie eine Gesellschaft, die dieser Kontrolle nicht unterliegt Voraussetzungen hinsichtlich der Berufsoder die nicht einmal die erforderlichen erfahrung erfüllt.

III — Ergebnis

26.

Aus den angeführten Gründen erhalte ich meine Schlussfolgerungen aufrecht, zu denen ich am 17. September 2002 gelangt bin und die wie folgt lauteten:

1.

Die Artikel 49 EG, 50 EG, 54 EG und 55 EG sowie Artikel 4 der Richtlinie 64/427/EWG des Rates vom 7. Juli 1964 über die Einzelheiten der Übergangsmaßnahmen auf dem Gebiet der selbständigen Tätigkeiten der be- und verarbeitenden Gewerbe der CITI-Hauptgruppen 23—40 (Industrie und Handwerk) stehen der Regelung eines Mitgliedstaats nicht entgegen, mit der die Ausübung von handwerklichen Tätigkeiten im Inland durch in anderen Staaten niedergelassene Dienstleistungserbringer zusätzlich zur Überprüfung der Voraussetzungen des Zugangs zu den betreffenden Tätigkeiten vom Erfordernis einer Eintragung in die Handwerksrolle abhängig gemacht wird, sofern dieses Erfordernis nicht geeignet ist, die Ausübung des Rechts auf freien Dienstleistungsverkehr zu verzögern oder zu erschweren, und weder zusätzliche Verwaltungskosten noch die obligatorische Zahlung von Beiträgen an die Handwerkskammer nach sich zieht.

2.

Haben sich die Tätigkeiten der Person oder des Unternehmens im Hoheitsgebiet des aufnehmenden Mitgliedstaats — in quasi kontinuierlicher Weise und auf der Grundlage einer ganzen Reihe von Verträgen — über einen längeren Zeitraum erstreckt, so ist es Sache des zuständigen Gerichts, zu bestimmen, von welchem Zeitpunkt an die Situation einer Niederlassung gleichzustellen ist und daher zur Zahlung von Beiträgen an die Handwerkskammer zu führen hat.


( 1 ) Originalsprache: Französisch.

( 2 ) ABI. 1964, 117, S. 1863.

( 3 ) Hervorhebung von mir.

( 4 ) Urteil vom 3. Oktober 2000 in der Rechtssache C-58/98 (Slg. 2000,I-7919).

( 5 ) Vgl. Urteil vom 12. Dezember 1996 in der Rechtssache C-3/95 (Reisebüro Broede, Slg. 1996, I-6511, Randnr. 22).