61999C0285

Schlussanträge des Generalanwalts Ruiz-Jarabo Colomer vom 5. Juni 2001. - Impresa Lombardini SpA - Impresa Generale di Costruzioni gegen ANAS - Ente nazionale per le strade und Società Italiana per Condotte d'Acqua SpA (C-285/99) und Impresa Ing. Mantovani SpA gegen ANAS - Ente nazionale per le strade und Ditta Paolo Bregoli (C-286/99). - Ersuchen um Vorabentscheidung: Consiglio di Stato - Italien. - Richtlinie 93/37/EWG - Öffentliche Bauaufträge - Erteilung des Zuschlags - Ungewöhnlich niedrige Angebote - In einem Mitgliedstaat geltende Erläuterungs- und Ausschlussmodalitäten - Gemeinschaftsrechtliche Verpflichtungen des öffentlichen Auftraggebers. - Verbundene Rechtssachen C-285/99 und C-286/99.

Sammlung der Rechtsprechung 2001 Seite I-09233


Schlußanträge des Generalanwalts


I - Einleitung

1. Der Consiglio di Stato der Italienischen Republik (Vierte Kammer) hat in seiner Eigenschaft als Gericht dem Gerichtshof fünf Fragen zur Vorabentscheidung über die Auslegung von Artikel 30 Absatz 4 der Richtlinie 93/37/EWG des Rates vom 14. Juni 1993 zur Koordinierung der Verfahren zur Vergabe öffentlicher Bauaufträge (im Folgenden: Richtlinie" oder Richtlinie 93/37/EWG") vorgelegt, um über gegen zwei Urteile des Tribunale Amministrativo Regionale per il Lazio jeweils eingelegte Berufungen befinden zu können.

2. Den Hintergrund des vom Consiglio di Stato an den Gerichtshof gerichteten Ersuchens bilden wesentliche und unverzichtbare, die öffentlichen Aufträge betreffende Grundsätze des Gemeinschaftsrechts über die Festlegung objektiver Kriterien für die Teilnahme an Ausschreibungen öffentlicher Aufträge und die Vergabe solcher Aufträge im Rahmen eines transparenten, von Maßnahmen und Klauseln, die diskriminierende Wirkungen haben können, freien Verfahrens.

3. Innerhalb dieser Szenerie liegt der Schwerpunkt hier bei den im Verhältnis zur vertraglichen Leistung ungewöhnlich niedrigen Angeboten, insbesondere bei dem Verfahren für den Ausschluss solcher Angebote als einem Mittel dazu, den Weg zur Vergabe des Auftrags durch die Ablehnung von Vorschlägen freizumachen, denen es an der erforderlichen Vertrauenswürdigkeit fehlt. Es geht darum, einem anderen Grundsatz des gemeinschaftlichen Rechts der öffentlichen Aufträge Geltung zu verschaffen, nämlich dem der Effizienz.

4. Was diese Art von Angeboten betrifft, so äußert der Consiglio di Stato Zweifel an der Vereinbarkeit folgender Maßnahmen mit Artikel 30 Absatz 4 der Richtlinie:

1. Einführung eines automatischen Mechanismus für die Festlegung der Schwelle für die Erachtung eines Angebots als ungewöhnlich niedrig, durch den die Bieter daran gehindert werden, vor der Einreichung ihrer Vorschläge von dieser Schwelle Kenntnis zu erhalten;

2. von vornherein vorgenommener Ausschluss von Angeboten, denen keine Erläuterung des in ihnen angegebenen Preises mindestens in Höhe von 75 % des in der Ausschreibung genannten Richtpreises beigefügt ist, sowie die Vorschrift, wonach nur bestimmte Erläuterungen zulässig sind und so diejenigen ausgeschlossen werden, die sich auf Faktoren beziehen, deren Mindestwerte sich amtlichen Verzeichnissen entnehmen lassen;

3. Einrichtung eines Verfahrens, in dem die Unternehmen, die ungewöhnliche Angebote unterbreitet haben, nach der Öffnung der Umschläge vor Erlass der sie ausschließenden Entscheidung keine Gelegenheit erhalten, ihre Gründe geltend zu machen und ihre Haltung zu erläutern.

II - Rechtlicher Rahmen

1. Gemeinschaftsrechtliche Vorschriften

5. Die Richtlinie 71/305/EWG, mit der die Koordinierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten auf dem Gebiet der öffentlichen Aufträge aufgenommen wurde, zielte hauptsächlich auf die gleichzeitige Verwirklichung der Niederlassungsfreiheit und des freien Dienstleistungsverkehrs auf dem Gebiet der öffentlichen Bauaufträge ab. Sie befasste sich bereits mit der eventuellen Abgabe ungewöhnlich niedriger Angebote; ihr Artikel 29 Absatz 5 handelte von der Möglichkeit, derartige Angebote abzulehnen.

6. Die Richtlinie 71/305/EWG wurde mehrfach in verstreuten Punkten geändert, was ihre Kodifizierung nahelegte; diese erfolgte durch die Richtlinie 97/37/EWG. Artikel 30 Absatz 4 dieser neuen Vorschrift beschränkte sich darauf, den Wortlaut von Artikel 29 Absatz 5 der Richtlinie 71/305/EWG, so wie er nach der 1989 erfolgten Änderung abgefasst war, mit geringfügigen Abweichungen wiederzugeben. Dieser Artikel 30 Absatz 4 lautet wie folgt:

Scheinen bei einem Auftrag Angebote im Verhältnis zur Leistung ungewöhnlich niedrig, so muss der öffentliche Auftraggeber vor der Ablehnung dieser Angebote schriftlich Aufklärung über die Einzelposten der Angebote verlangen, wo er dies für angezeigt hält; die anschließende Prüfung dieser Einzelposten erfolgt unter Berücksichtigung der eingegangenen Erläuterungen.

Der öffentliche Auftraggeber kann Erläuterungen bezüglich der Wirtschaftlichkeit des Bauverfahrens, der gewählten technischen Lösungen, außergewöhnlich günstiger Bedingungen, über die der Bieter bei der Durchführung der Arbeiten verfügt, oder der Originalität des Projekts des Bieters anerkennen.

Wenn die Auftragsunterlagen den Zuschlag auf das niedrigste Angebot vorsehen, muss der öffentliche Auftraggeber der Kommission die Ablehnung von als zu niedrig erachteten Angeboten mitteilen.

..."

2. Die italienischen Rechtsvorschriften

7. Artikel 30 Absatz 4 der Richtlinie wurde durch Artikel 21 Absatz 1a des Gesetzes Nr. 109/1994 vom 11. Februar 1994, des Rahmengesetzes über öffentliche Bauarbeiten, in das italienische Recht eingegliedert; der letztgenannte Artikel wurde dem ursprünglichen Text durch Artikel 7 des Gesetzes Nr. 216/1995 vom 2. Juni 1995 hinzugefügt. Diese Bestimmung lautet wie folgt:

Werden Aufträge über 5 Millionen ECU oder mehr nach dem- Kriterium des niedrigsten Preises gemäß Absatz 1 vergeben, so bewertet die zuständige Verwaltung die Ungewöhnlichkeit der Angebote im Sinne des Artikels 30 der Richtlinie 93/37/EWG des Rates vom 14. Juni 1993 in Bezug auf alle Angebote, die einen Preisnachlass aufweisen, der über dem Prozentsatz liegt, der alljährlich nach Anhörung des Osservatorio (Beobachtungsstelle) für öffentliche Bauaufträge bis zum 1. Januar nach Maßgabe der Entwicklung der Angebote, die im Vorjahr zu den durchgeführten Ausschreibungen abgegeben wurden, durch ein Dekret des Ministers für öffentliche Arbeiten festgelegt wird.

Die öffentliche Verwaltung kann dabei nur Erläuterungen bezüglich der Wirtschaftlichkeit des Bauverfahrens, der gewählten technischen Lösungen oder besonders günstiger Bedingungen, über die der Bieter verfügt, berücksichtigen, mit Ausnahme jedoch von Erläuterungen zu Elementen, für die ein Mindestwert in Rechts- oder Verwaltungsvorschriften festgelegt ist oder amtlichen Angaben entnommen werden kann. Die Angebote sind mit Erläuterungen zu den wichtigsten in der Ausschreibung oder in der brieflichen Aufforderung zur Angebotsabgabe genannten Preisposten zu unterbreiten, die zusammen mindestens 75 % des als Richtwert festgelegten Auftragspreises entsprechen.

..."

8. In den zur Durchführung von Artikel 21 Absatz 1a des Gesetzes Nr. 109/1994 jeweils für die Jahre 1997 und 1998 erlassenen Dekreten vom 28. April und vom 18. Dezember 1997 setzte das Ministerium für öffentliche Arbeiten den Prozentsatz fest, von dem an der öffentliche Auftraggeber verpflichtet ist, ungewöhnliche Angebote einem Prüfungsverfahren zu unterwerfen, und zwar ... in Höhe des arithmetischen Mittels der prozentualen Preisnachlässe aller zugelassenen Angebote zuzüglich des arithmetischen Mittels der Abweichung der prozentualen Preisnachlässe, die das genannte Mittel übersteigen".

III - Sachverhalt und Ausgangsverfahren

1. Rechtssache C-285/99

9. Das Ente nazionale per le strade (im Folgenden: ANAS) veröffentlichte eine Ausschreibung für die - im nicht offenen Verfahren vorzunehmende - Vergabe eines Auftrags über Bauarbeiten mit der Bezeichnung RM 87/97 - Ringautobahn [um Rom] - Los 19 - Ausbau auf drei Fahrspuren je Fahrtrichtung von Kilometer 43,280 bis Kilometer 46,500".

10. Die aus den Firmen Lombardini SpA - Impresa Generale di Costruzioni (im Folgenden: Lombardini), Collini - Impresa di Costruzioni SpA und Trevi SpA bestehende, auf Zeit gegründete Arbeitsgemeinschaft (ARGE) wurde mit Schreiben Nr. 1723 vom 15. Oktober 1997 aufgefordert, an der Ausschreibung teilzunehmen. Soweit hier von Interesse, enthielt das Aufforderungsschreiben in Einklang mit Artikel 21 Absatz 1a des Gesetzes Nr. 109/1994 folgende nähere Angaben:

A. Die Bewerber hatten ihrem Angebot Erläuterungen zu den wichtigsten Einzelposten ihres Preises in Höhe von 75 % des in der Ausschreibung angegebenen Richtwertes beizufügen. Die Erläuterungen waren nach Maßgabe der der Aufforderung schriftlich beigefügten Regeln abzufassen und in einen Umschlag zu stecken, der die einzureichenden administrativen Unterlagen enthielt.

B. Die Unterlagen, die für die Überprüfung der zur Erläuterung des Angebots vorgelegten Angaben erforderlich waren, mussten in getrenntem Umschlag eingereicht werden. Dieser Umschlag durfte nur geöffnet und sein Inhalt nur geprüft werden, wenn das Angebot die arithmetische Schwelle der Ungewöhnlichkeit überschritt.

C. Die Nichtbefolgung irgendeiner der vorgenannten Anweisungen würde die Ablehnung des betreffenden Angebots zur Folge haben.

D. Die Kriterien, nach denen die etwaige Ungewöhnlichkeit der Angebote geprüft werden würde.

11. Das Angebot von Lombardini wurde als ungewöhnlich niedrig eingestuft, weswegen man zur Öffnung der Umschläge schritt, die die erläuternden Unterlagen enthielten. Nach deren Überprüfung wurde das Angebot abgelehnt und der Zuschlag der Società Italiana per Condotte d'Acqua erteilt.

12. Lombardini griff unverzüglich vor dem Tribunale Amministrativo Regionale per il Lazio die Bekanntmachung der Ausschreibung, das Aufforderungsschreiben, die Ablehnung ihres Angebots und die Auftragsvergabe an. Diese Anträge wurden von dem Gericht zurückgewiesen, weswegen Lombardini Berufung einlegte und neben anderen Berufungsgründen die irrige Auslegung von Artikel 30 der Richtlinie 93/37" geltend machte.

2. Rechtssache C-286/99

13. Zur Durchführung des zweiten Loses der Arbeiten zum Bau der Variante Bergamo-Zanica der Provinzstraße Nr. 115 veröffentlichte das ANAS eine Ausschreibung für die Vergabe des entsprechenden Auftrags im nicht offenen Verfahren.

14. Als federführende Firma eines Zusammenschlusses zu einer ARGE mit einem anderen Unternehmen wurde Mantovani SpA (im Folgenden: Mantovani) aufgefordert, sich an der Ausschreibung zu beteiligen, und zwar mit einem Schreiben, in dem angegeben war, dass die Ausschreibung in Einklang mit Artikel 21 Absatz 1a des Gesetzes Nr. 109/1994 in der Fassung von Artikel 7 des Gesetzes Nr. 216/1995 durchgeführt und dass die etwaige Ungewöhnlichkeit der Angebote im Sinne von Artikel 30 Absatz 4 der Richtlinie nach den im Ministerialdekret vom 28. April 1997 aufgeführten Kriterien beurteilt werden würde. Das Aufforderungsschreiben legte die gleichen Verpflichtungen für die Bieter fest und sprach die gleichen Warnungen vor einer Ablehnung aus wie diejenigen, die ich oben bei der Schilderung des der Rechtssache C-285/99 zugrunde liegenden Sachverhalts dargelegt habe.

15. Mantovani bot einen über der Ungewöhnlichkeitsschwelle liegenden Preisnachlass an, weshalb ihr Angebot als ungewöhnlich eingestuft wurde. Nach Prüfung ihres Angebots und der zugehörigen Erläuterungen sowie der für die Zwecke der Prüfung vorgelegten Angaben wurde das Angebot für unzulässig erklärt. Der Auftrag wurde an die ARGE Bregoli/Roda vergeben.

16. Mantovani bestritt die Unzulässigkeit ihres Angebots und erhob Klage gegen die Bekanntmachung der Ausschreibung, die schriftliche Aufforderung zur Teilnahme, den Beschluss, durch den sie vom Ausschreibungsverfahren ausgeschlossen wurde, und die Vergabe selbst. Das Tribunale Amministrativo Regionale per il Lazio wies die Klage mit Urteil Nr. 1498 vom 26. Juni 1998 ab.

17. Mantovani legte Berufung ein und machte eine Verletzung von Artikel 30 Absatz 4 der Richtlinie insoweit" geltend, als der Mechanismus der Prüfung der Ordnungsmäßigkeit der Angebote ... gegen die gemeinschaftsrechtlichen Grundsätze verstößt, die einen automatischen Ausschluss verbieten", und als er es versäumt, ein kontradiktorisches Verfahren für die Zeit nach der Feststellung der Ungewöhnlichkeit des Angebots vorzusehen".

IV - Die Vorlagefragen

18. Der Consiglio di Stato ist der Ansicht, für die Entscheidung in beiden Berufungssachen bedürfe es einer Ermittlung der genauen Tragweite von Artikel 30 Absatz 4 der Richtlinie, soweit diese das Verfahren für die Prüfung ungewöhnlicher Angebote regele; er legt deshalb dem Gerichtshof folgende Fragen vor:

1. Verstößt es gegen Artikel 30 Absatz 4 der Richtlinie 93/37/EWG des Rates zur Koordinierung der Verfahren zur Vergabe öffentlicher Bauaufträge, wenn in öffentlichen Ausschreibungen eine Klausel enthalten ist, die einer Teilnahme von Unternehmen entgegensteht, die die in ihren Angeboten genannten Preise nicht in Höhe von mindestens 75 % des als Richtwert festgelegten Auftragspreises mit Erläuterungen versehen haben?

2. Verstößt ein Verfahren gegen Artikel 30 Absatz 4 der Richtlinie 93/37, wonach sich die Schwelle der Ungewöhnlichkeit für auf ihre Angemessenheit zu überprüfende Angebote aufgrund eines fallbezogenen Maßstabs und eines arithmetischen Mittels automatisch bestimmt, so dass die Unternehmer diesen Schwellenwert nicht im Voraus kennen?

3. Verstößt ein vorweggenommenes kontradiktorisches Verfahren gegen Artikel 30 Absatz 4 der Richtlinie 93/37, wenn das Unternehmen, dessen vorgelegtes Angebot als ungewöhnlich angesehen wird, nicht die Möglichkeit hat, seine Gründe nach Öffnung der Umschläge vor Erlass der Ausschlussentscheidung geltend zu machen?

4. Verstößt es gegen Artikel 30 Absatz 4 der Richtlinie 93/37, wenn vorgesehen ist, dass der öffentliche Auftraggeber Erläuterungen ausschließlich bezüglich der Wirtschaftlichkeit des Bauverfahrens, der gewählten technischen Lösungen oder außergewöhnlich günstiger Bedingungen, über die der Bieter verfügt, berücksichtigen kann?

5. Verstößt es gegen Artikel 30 Absatz 4 der Richtlinie 93/37, wenn Erläuterungen zu Elementen ausgeschlossen werden, deren Mindestwert amtlichen Angaben entnommen werden kann?

V - Das Verfahren vor dem Gerichtshof

19. Durch Beschluss des Präsidenten des Gerichtshofes vom 14. September 1999 sind die beiden Rechtssachen wegen Zusammenhangs miteinander verbunden worden.

20. Die Kommission, die italienische und die österreichische Regierung, die Klägerinnen der Ausgangsverfahren Lombardini und Mantovani sowie Coopsette, eine am Ausgang des von der letztgenannten Gesellschaft anhängig gemachten Rechtsstreits interessierte Beteiligte, haben innerhalb der in Artikel 20 der EG-Satzung des Gerichtshofes vorgesehenen Frist schriftliche Erklärungen eingereicht.

21. In der mündlichen Verhandlung vom 3. Mai 2001 sind mit Ausnahme der österreichischen Regierung alle Beteiligten erschienen, um mündlichen Ausführungen zu machen.

VI - Prüfung der Vorlagefragen

22. Die fünf Fragen des Consiglio di Stato lassen sich in der in Nummer 4 dieser Schlussanträge angegebenen Weise systematisch zusammenfassen und in drei Komplexe gliedern:

1. Automatische Festsetzung der Ungewöhnlichkeitsschwelle. Es handelt sich um die zweite Frage.

2. Die Erläuterungen des gebotenen Preises und ihre Natur. Hier geht es um die erste, die vierte und die fünfte Frage.

3. Fehlen eines Verfahrens zur Anhörung der Unternehmen, deren Angebote ungewöhnlich niedrig sind, bevor ihr Angebot abgelehnt wird. Dies ist Gegenstand der dritten Vorlagefrage.

23. Meine Ausführungen werden sich an dieses Schema halten; zuvor ist es jedoch nicht überfluessig, zum besseren Verständnis von Artikel 30 Absatz 4 der Richtlinie einen sei es auch oberflächlichen Blick auf die Grundsätze zu werfen, die im Gemeinschaftsrecht für die Auswahl des Zuschlagsempfängers bei der Vergabe öffentlicher Aufträge gelten.

1. Die Grundsätze für die Auswahl des Zuschlagsemfängers

24. Die Richtlinien über die Vergabe öffentlicher Aufträge haben jeweils für ihren besonderen Bereich zum Ziel, die Entwicklung eines echten Wettbewerbs auf dem Gebiet der öffentlichen Aufträge zu fördern, und zwar durch Verwirklichung der drei für die europäische Integration wesentlichen Freiheiten (freier Warenverkehr, Niederlassungsfreiheit und freier Dienstleistungsverkehr). Sie sind darauf gerichtet, den Auftrag zu erfuellen, den der Verfassungsgeber der Gemeinschaft bereits in den Artikeln 9, 52 und 59 EG-Vertrag (nach Änderung jetzt Artikel 23, 43 und 49 EG) niedergelegt hat.

25. Die Durchführung dieses Auftrags und die Erreichung jenes Ziels können nur dann wirksam werden, wenn diejenigen, die einen öffentlichen Bauauftrag erhalten wollen, in der Lage sind, ihr Vorhaben unter den gleichen Bedingungen, ohne auch nur einen Anschein von Diskriminierung, zu betreiben, weshalb ein auf allen Ebenen, in Haupt- wie in Nebenpunkten, von Objektivität beherrschtes System unerlässlich ist. Dem dient zum einen die Festsetzung objektiver Kriterien für die Teilnahme an den Ausschreibungen und die Erteilung des Bauauftrags, zum anderen die Schaffung transparenter Verfahren, bei denen die Öffentlichkeit die Regel ist.

26. Die Kriterien für die Teilnahme oder die qualitative Auswahl betreffen die Eignung der Bewerber sowie deren berufliche, wirtschaftliche und technische Leistungsfähigkeit und Erfahrung. Die Verhinderung diskriminierender Wirkungen wird dadurch erreicht, dass in jedem Fall die Regeln, nach denen das Verfahren abzulaufen hat, sowie das erforderliche Niveau der Leistungsfähigkeit und der Erfahrung innerhalb des durch die Norm abgegrenzten Rahmens im Voraus bestimmt werden.

27. Sind die Bieter, die für die Erteilung des Zuschlags in Betracht kommen, in Anwendung der Vorschriften über die Teilnahme ausgewählt worden, so richtet sich die Erteilung ebenfalls nach objektiven Maßstäben, sei es nach dem niedrigsten Preis oder nach dem wirtschaftlich günstigsten Angebot. Wird auf den letztgenannten Gesichtspunkt abgestellt, so hat der öffentliche Auftraggeber in den Verdingungsunterlagen oder in der Bekanntmachung der Ausschreibung die Auswahlkriterien unter Angabe ihrer jeweiligen Gewichtung im Voraus festzulegen.

28. Wie man sieht, überlässt die Regelung nichts dem Zufall oder dem Wagemut desjenigen, der die Entscheidung über die Erteilung des Zuschlags zu treffen hat. Die Gleichbehandlung, die der öffentlichen Auftragsvergabe zugrunde zu liegen hat, macht es erforderlich, dass diejenigen, die einen Auftrag dieser Art erhalten möchten, von vornherein wissen, was sie zu tun haben, um dieses Ziel zu erreichen, so dass der öffentliche Auftraggeber sich darauf zu beschränken hat, im Rahmen des Beurteilungsspielraums, den die technische Ermessensfreiheit mit sich bringt, die in den betreffenden Regelung festgelegten Maßstäbe anzuwenden, sei es in der allgemein für öffentliche Aufträge geltenden, sei es in der für einen konkreten Fall festgelegten Regelung, d. h. in den Verdingungsunterlagen oder der Bekanntmachung der Ausschreibung.

29. Um diese Gleichbehandlung tatsächlich zu gewährleisten und jede Diskriminierung bei der Vergabe der Bauaufträge durch die Verwaltung wirksam auszuschließen, genügt es nicht, objektive Kriterien für die Teilnahme und die Erteilung des Zuschlags aufzustellen, sondern ist es auch erforderlich, dass deren Anwendung öffentlich erfolgt, und zwar von der Bekanntmachung der Ausschreibung an über die Verdingungsunterlagen bis hin zum eigentlichen Auswahlverfahren und sowohl bei den offenen als auch bei den nicht offenen Verfahren.

30. Bei der Anwendung dieser Grundsätze darf nicht übersehen werden, dass die Vergabe von Aufträgen durch die Verwaltung eine Form der Wahrnehmung öffentlicher Interessen ist; die Behörden fordern hier die Einzelnen - seien es natürliche oder juristische Personen - auf, an der Verwirklichung der ihnen aufgegebenen Ziele mitzuwirken, was in jedem Fall eine effiziente Reaktion erfordert. Eine solche Effizienz liegt gelegentlich in Streit mit der zeitlichen Gestaltung, die ein mit zahlreichen Garantien ausgestattetes Verfahren erfordert. Das ist der Grund dafür, dass die Richtlinie eine Reihe von Auftragsvergaben von ihrem Geltungsbereich ausschließt, bestimmte Fälle von der Durchführung eines normalen Vergabeverfahrens ausnimmt und mitunter die Fristen verkürzt.

2. Artikel 30 Absatz 4 der Richtlinie

31. Diese Bestimmung gehört zu den Vorschriften über die Auftragsvergabe; um den Weg frei zu machen, gestattet sie die Ablehnung von Angeboten, die im Verhältnis zur Leistung ungewöhnlich niedrig erscheinen. Die Ablehnung erfolgt jedoch nicht automatisch, denn das Gemeinschaftsrecht verpflichtet den öffentlichen Auftraggeber, 1. vor Erlass seiner Entscheidung dem Bieter die Gelegenheit zu geben, die Einzelposten seines Angebots zu erläutern, und von ihm die Aufklärung zu verlangen, die er, der Auftraggeber, für erforderlich hält, sowie 2. zu diesem Zweck die ihm gelieferten Erläuterungen zu berücksichtigen, insbesondere diejenigen, die sich auf die Wirtschaftlichkeit des Bauverfahrens, die gewählten technischen Lösungen, außergewöhnlich günstige Bedingungen, über die der Bieter bei der Durchführung der Arbeiten verfügt, oder die Originalität des Projekts beziehen.

32. Aus alledem ergeben sich drei Folgerungen:

1. Der Begriff des ungewöhnlich niedrigen Angebots ist nicht abstrakter Natur; er ist vielmehr im Hinblick auf den Auftrag, um dessen Erteilung es sich handelt, und in Zusammenhang mit der zu erbringenden Leistung zu verstehen.

2. Der öffentliche Auftraggeber muss die Angebote, die er für ungewöhnlich niedrig hält, prüfen, um sie ablehnen zu können.

3. Die Entscheidung, einen Bieter auszuschließen, darf nur getroffen werden, wenn diesem zuvor Gelegenheit gegeben worden ist, sein Angebot zu erläutern, d. h. nach der Durchführung eines kontradiktorischen Prüfungsverfahrens.

3. Zur automatischen Festsetzung der Ungewöhnlichkeitsschwelle

33. Wie wir gesehen haben, schaffen die italienischen Rechtsvorschriften einen mathematischen und somit automatischen Mechanismus für die Festsetzung der Ungewöhnlichkeitsschwelle. Er besteht in einem Prozentsatz, den das Ministerium für öffentliche Arbeiten am 1. Januar jedes Jahres bestimmt. Da es, was die Jahre 1997 und 1998 betraf, die Unmöglichkeit erkannte, für das gesamte Staatsgebiet eine einheitliche Schwelle festzusetzen, griff es insoweit auf ein fallbezogenes, von einer konkreten Ausschreibung zur anderen wechselndes Kriterium zurück, nämlich die Höhe des arithmetischen Mittels der prozentualen Preisnachlässe aller zugelassenen Angebote zuzüglich des arithmetischen Mittels der Abweichung der prozentualen Preisnachlässe, die das genannte Mittel übersteigen". Der öffentliche Auftraggeber ist verpflichtet, alle Angebote zu prüfen, die diese Schwelle überschreiten.

34. Ein Mechanismus wie der hier beschriebene entspricht den Erfordernissen von Artikel 30 Absatz 4 der Richtlinie und den für die Auswahl des Zuschlagsempfängers geltenden Grundsätzen.

35. Wie ich dargelegt habe, ist der Begriff des ungewöhnlich niedrigen Angebots nach der genannten Vorschrift sehr klar; er bestimmt sich für jeden Auftrag nach Maßgabe des spezifischen Gegenstands der zu erbringenden Leistung. Meines Erachtens steht aber eine Ungewöhnlichkeitsschwelle, die anhand eines Mittelwerts zu berechnen ist, der aus den - zwangsläufig im Hinblick auf den Auftragsgegenstand ausgearbeiteten - bei einer Ausschreibung abgegebenen Angeboten abgeleitet wird, auch in vollem Einklang mit dem Konzept der Richtlinie. Wie der Vertreter von Mantovani in der mündlichen Verhandlung ausgeführt hat, ermöglicht es das System, dass der Markt selbst für jeden Auftrag die Grenze festlegt, von der ab ein Angebot als anomal angesehen werden kann. Überdies werden dank der objektiven Natur des Kriteriums alle Bewerber gleich behandelt. Niemand genießt bei der Ausarbeitung seines Angebots einen Vorteil gegenüber den anderen.

36. Dagegen leidet die Transparenz. Wer sich um den Zuschlag für den Auftrag bemühen will, kennt bei der Ausarbeitung seines Angebots nicht die Schwelle, von der an dieses als ungewöhnlich niedrig eingestuft werden kann. Sogar der öffentliche Auftraggeber selbst kennt sie nicht. Diese Folge ist aber der Preis dafür, dass die Ungewöhnlichkeit von Angeboten ein zwar zunächst unbestimmter, später aber in Bezug auf jeden einzelnen Auftrag voll bestimmbarer Rechtsbegriff ist, wie dies Artikel 30 Absatz 4 der Richtlinie fordert.

37. Es trifft zu, dass dieses Merkmal zusammen mit der Verpflichtung, dem Angebot Erläuterungen des Preises beizugeben, und dem Ausschluss der sich als ungewöhnlich niedrig erweisenden Angebote ohne vorherige Prüfung und Anhörung den Erfordernissen der Richtlinie zuwiderlaufen kann. Diese Folge ist jedoch für sich allein nicht dem Mechanismus der Festsetzung der Ungewöhnlichkeitsschwelle an sich zuzuschreiben, sondern der Auferlegung jener Verpflichtung oder der Einleitung des Ausschlusses.

38. Es trifft auch zu, dass der Gerichtshof in dem Urteil Fratelli Costanzo festgestellt hat, dass die Richtlinie automatische Ausschlussmechanismen verbietet. Aber der Automatismus, gegen den sich der Gerichtshof wendet, ist derjenige des Ausschlusses ohne vorheriges kontradiktorisches Überprüfungsverfahren, nicht jedoch derjenige der Berechnung der Ungewöhnlichkeitsschwelle nach mathematischen Kriterien.

39. Nach alledem schlage ich dem Gerichtshof vor, die zweite Frage des Consiglio di Stato dahin zu beantworten, dass ein mathematischer Mechanismus für die Festsetzung der Ungewöhnlichkeitsschwelle, der so gestaltet ist, dass die Bieter daran gehindert sind, vor Abgabe ihrer Angebote von ihm Kenntnis zu erlangen, nicht gegen Artikel 30 Absatz 4 der Richtlinie verstößt.

4. Zur Rechtfertigung des gebotenen Preises

A - Zu den zusammen mit dem Angebot einzureichenden Erläuterungen

40. Die Grundsätze, nach denen sich die Auswahl bei öffentlichen Ausschreibungen zu richten hat und die ich weiter oben in rein beschreibender Weise dargelegt habe, gestatten die Feststellung, dass weder die Richtlinie im Allgemeinen noch ihr Artikel 30 Absatz 4 im Besonderen Bestimmungen enthält, die einer Regelung entgegenstehen, wonach dem Angebot bei Vermeidung seines Ausschlusses Erläuterungen beizufügen sind, die mindestens 75 % des Richtwertes der Ausschreibung betreffen. Es handelt sich um ein objektives Erfordernis, dem alle Teilnehmer genügen müssen.

41. Die genannte gemeinschaftsrechtliche Vorschrift fordert zwar nicht, dass diejenigen, die den Auftrag zu erhalten wünschen, im Voraus Zusammensetzung und Inhalt ihres Angebots erläutern, sie steht dem aber auch nicht entgegen. Eine Bestimmung dieser Art beseitigt nicht die Gleichheit der Bedingungen, von denen die am Bieten teilnehmenden Wettbewerber auszugehen haben. Ausnahmslos alle sind gehalten, ihrem Angebot Erläuterungen über die wichtigsten Einzelposten des Preises in Höhe von 75 % des Richtwerts der Ausschreibung beizufügen und in getrenntem, versiegeltem Umschlag die Unterlagen einzureichen, die es gestatten, die Angaben zu überprüfen, auf die sich jene Erläuterungen stützen.

42. Auf diese Weise wird das Auswahlverfahren flexibler, und damit wächst seine Effizienz, ein Erfordernis, das sich, wie ich bereits ausgeführt habe, auch aus der gemeinschaftsrechtlichen Regelung der Vergabe öffentlicher Aufträge ergibt. Ist ein Angebot einmal unter Anwendung des oben geschilderten Mechanismus als ungewöhnlich niedrig eingestuft worden, so ist der öffentliche Auftraggeber in der Lage, ohne weitere Verzögerung zur Prüfung von dessen Inhalt und zur Untersuchung der eingereichten Erläuterungen zu schreiten, ohne warten zu müssen, bis sie ihm vom Bieter geliefert werden; dieser kann in dem unerlässlichen Anhörungsverfahren, das ihm vor der etwaigen Ablehnung seines Angebots zu gewähren ist, zusätzliche Erklärungen abgeben.

In der Tat kann es geschehen, dass der öffentliche Auftraggeber angesichts der dem Angebot beigefügten Unterlagen und der bei dieser Gelegenheit abgegebenen Erklärungen beschließt, das Angebot zuzulassen. Das Ausschreibungsverfahren kann ohne die Verzögerung fortgesetzt werden, die eintreten würde, wenn nicht von vornherein erläuternde Unterlagen eingereicht worden wären und es deshalb notwendig wäre, erst den Bieter anzuhören, damit er sie nunmehr liefert.

43. Ich schlage daher vor, die erste Frage des Consiglio di Stato dahin zu beantworten, dass es nicht gegen Artikel 30 Absatz 4 der Richtlinie verstößt, wenn die Bekanntmachung der Ausschreibung eine Klausel enthält, wonach Unternehmen ausgeschlossen werden, die ihren Angeboten keine Erläuterungen des von ihnen geforderten Preises in Höhe von mindestens 75 % des Richtwertes der Ausschreibung beifügen.

B - Zur Natur der Erläuterungen

44. Nach Artikel 30 Absatz 4 Unterabsatz 2 der Richtlinie kann der öffentliche Auftraggeber bei der Prüfung der ungewöhnlich niedrigen Angebote Erläuterungen berücksichtigen, die sich auf die Wirtschaftlichkeit des Bauverfahrens, die in dem vorgelegten Projekt gewählten technischen Lösungen, dessen Originalität oder außergewöhnlich günstige Bedingungen, über die der Bieter verfügt, beziehen.

45. Diese Bestimmung enthält lediglich eine Präzisierung der in Absatz 4 Unterabsatz 1 niedergelegten Bestimmung, wonach der öffentliche Auftraggeber von dem Bieter die Erläuterungen verlangen kann, die er für angezeigt hält, und die Einzelposten des Angebots unter Berücksichtigung der eingegangenen Erläuterungen überprüft.

46. Aus einer zusammenhängenden Auslegung beider Vorschriften ergibt sich, dass der öffentliche Auftraggeber ein Angebot erst dann als ungewöhnlich niedrig zurückweisen darf, wenn er zuvor von dem Bieter Aufklärung und Klarstellungen verlangt hat, wo er dies für angezeigt hält. Auf dieses Verlangen hin kann der Bieter zur Untermauerung seines Angebots ohne irgendwelche Einschränkungen die Erläuterungen vortragen, die er für angemessen hält, darunter die in Unterabsatz 2 genannten.

Der öffentliche Auftraggeber hat all diese Erläuterungen zu berücksichtigen, wenn er schließlich darüber entscheidet, ob er das Angebot einschließlich der in Unterabsatz 2 genannten Erläuterungen annehmen oder ablehnen will. Die letztgenannte Bestimmung ist keine Sperrklausel; sie enthält keine geschlossene Liste der Gründe und Erläuterungen, die vorgebracht werden können, sondern beschränkt sich vielmehr darauf, die allgemeine Norm des Unterabsatzes 1 näher zu bestimmen.

47. Eine Vorschrift, die die Art der Erläuterungen, die der Autor eines ungewöhnlich niedrigen Angebots vorbringen kann, auf die in Artikel 30 Absatz 4 Unterabsatz 2 aufgeführten Punkte beschränken würde, stuende daher in Widerspruch zu Wortlaut und Geist der Richtlinie, die darauf abzielt, dass der Urheber eines Angebots ohne jede Einschränkung Erklärungen hierzu abgeben kann, bevor das Angebot eventuell als ungewöhnlich niedrig abgelehnt wird. Eine solche Vorschrift ist aber in Artikel 7 des italienischen Gesetzes Nr. 216/95 enthalten.

48. Es geht darum, dass derjenige, der ein über der Ungewöhnlichkeitsschwelle liegendes Angebot abgegeben hat, Erklärungen hierzu abgeben und, um die Seriosität seines Vorschlags glaubhaft zu machen, alle Erläuterungen vorbringen kann, die er für angebracht hält. Die Erklärungen können jedoch nur Punkte betreffen, bei denen der Unternehmer über einen Handlungsspielraum verfügt, um in freiem Wettbewerb niedrigere Preise als seine Mitbewerber anbieten und auf diese Weise eine dem öffentlichen Interesse möglichst dienliche Durchführung des Auftrags in Aussicht stellen zu können; wo ein solcher Spielraum nicht besteht, ist jede Erläuterung überfluessig.

49. Eine solche Situation soll vorliegen, wenn die Preise amtlich festgesetzt worden sind. Stuenden die Preise fest, so bedürfe es keiner Erläuterung, weil sie bereits in der betreffenden Norm enthalten sei. Habe der Bieter andere Preise angeboten, so sei sein Angebot insoweit nicht zulässig. In einem solchen Fall würde der Ausschluss von Erläuterungen nicht gegen die Richtlinie verstoßen.

50. Meiner Meinung nach werden mit dieser Auffassung indessen zwei entscheidende Überlegungen verkannt: zum einen, dass festgesetzte Preise" nicht gleichbedeutend mit unveränderliche Preise" ist, und zum anderen, dass die Richtlinie den freien Wettbewerb zwischen Unternehmern erleichtern soll.

51. Nichts hindert ein Unternehmen daran, für bestimmte Teile der auszuführenden Arbeiten einen anderen - niedrigeren - Preis zu bieten als denjenigen, der in amtlichen Verzeichnissen als Mindestpreis genannt wird. Der Vorschlag, den ein Bieter unterbreitet, hat einen komplexen Inhalt, er ist nicht monolithisch; dies erlaubt es seinem Urheber, die einzelnen Bestandteile miteinander zu kombinieren, um zu einem Preis und zu Ausführungsbedingungen zu gelangen, die den Vorschlag für das öffentliche Interesse so attraktiv wie möglich machen. Denjenigen, der den Zuschlag erhalten möchte, der Möglichkeit zu berauben, zu begründen, weshalb er einen niedrigeren Preis bietet als den in amtlichen Verzeichnissen festgelegten, läuft darauf hinaus, die günstigen Wirkungen eines zulässigen Wettbewerbs zu übersehen und dem Betroffenen den automatischen Ausschluss seines Angebots aufzuzwingen.

52. Nach alledem schlage ich vor, die vierte und die fünfte Frage des Consiglio di Stato dahin zu beantworten, dass es gegen Artikel 30 Absatz 4 der Richtlinie verstößt, wenn eine Vorschrift des innerstaatlichen Rechts den öffentlichen Auftraggeber verpflichtet, bei der Prüfung der ungewöhnlich niedrigen Angebote lediglich bestimmte hierzu abgegebene Erläuterungen zu berücksichtigen und diejenigen auszuschließen, die sich auf Mindestwerte beziehen, die amtlichen Verzeichnissen entnommen werden können.

5. Zum Verfahren der kontradiktorischen Prüfung der Angebote

53. Im Rahmen dieser Schlussanträge habe ich wiederholt und in unterschiedlicher Weise betont, dass Artikel 30 Absatz 4 der Richtlinie einem automatischen Ausschluss von Angeboten entgegensteht, die als ungewöhnlich niedrig eingestuft werden. Bevor der öffentliche Auftraggeber eine derartige Entscheidung trifft, hat er schriftlich die Aufklärung über die Einzelposten des Angebots anzufordern, die er für angezeigt hält. Der Gemeinschaftsgesetzgeber wollte, dass kein Angebot abgelehnt wird, ohne dass sich sein Autor ausführlich dazu hat äußern können. Das Verfahren der kontradiktorischen Prüfung ist unerlässlich. Der Gerichtshof hat dies in seinen Urteilen Transporoute, Fratelli Costanzo und Donà Alfonso ausgesprochen.

54. Kontradiktorisches Verfahren bedeutet Dialog, Diskussion und Debatte. Kann derjenige, den die Entscheidung betreffen wird, sich nicht äußern, so findet nur ein Monolog statt. So liegen die Dinge aber bei dem System, das das italienische Gesetz geschaffen hat und demzufolge die Entscheidung, einen Bieter auszuschließen, unter alleiniger Berücksichtigung der zugleich mit dem Angebot eingereichten Erläuterungen getroffen werden kann, ohne dass der öffentliche Auftraggeber Aufklärung verlangen könnte und dem betroffenen Bieter Gelegenheit gegeben würde, seine fürs Erste eingereichten Erläuterungen zu ergänzen.

55. Ist ein Angebot als ungewöhnlich niedrig eingestuft worden, nachdem der Umschlag mit den Unterlagen, die die zur Stützung der zunächst eingereichten Erläuterungen dienenden Angaben enthalten, geöffnet und bevor über das Schicksal dieses Angebots entschieden worden ist, so ist der öffentliche Arbeitgeber verpflichtet, die Erläuterungen anzufordern, die er für angezeigt hält. Unter Berücksichtigung dieser Erläuterungen und derjenigen, die bereits zu Beginn eingereicht worden waren, sowie der zur Stützung der einen wie der anderen vorgelegten Unterlagen hat er seine Entscheidung zu treffen, nämlich das Angebot entweder abzulehnen oder zuzulassen.

56. Somit ist die dritte Vorlagefrage dahin zu beantworten, dass ein Verfahren, das ungewöhnlich niedrige Angebote ausschließt und in dem die bietenden Unternehmen nicht die Möglichkeit haben, sich nach der Öffnung der Umschläge vor Erlass der ablehnenden Entscheidung zu äußern, mit Artikel 30 Absatz 4 der Richtlinie unvereinbar ist.

IV - Ergebnis

57. Nach alledem schlage ich dem Gerichtshof vor, die Fragen des Consiglio di Stato der Italienischen Republik dahin zu beantworten, dass Artikel 30 Absatz 4 der Richtlinie 93/37/EWG des Rates vom 14. Juni 1993 zur Koordinierung der Verfahren zur Vergabe öffentlicher Bauaufträge:

a) einem mathematischen Verfahren zur Festsetzung der Ungewöhnlichkeitsschwelle, das so gestaltet ist, dass die Bieter diese vor Abgabe ihrer Angebote nicht kennen können, nicht entgegensteht;

b) es nicht verbietet, dass die Bekanntmachung einer Ausschreibung eine Klausel enthält, wonach Unternehmen ausgeschlossen werden, die ihren Angeboten keine Erläuterungen des von ihnen angebotenen Preises in Höhe von mindestens 75 % des Richtwerts der Ausschreibung beifügen;

c) einer innerstaatlichen Rechtsvorschrift entgegensteht, die den öffentlichen Auftraggeber verpflichtet, bei der Prüfung der ungewöhnlich niedrigen Angebote lediglich bestimmte Erläuterungen zu berücksichtigen und diejenigen auszuschließen, die sich auf Mindestwerte beziehen, die amtlichen Verzeichnissen entnommen werden können;

d) einem Verfahren zum Ausschluss ungewöhnlich niedriger Angebote entgegensteht, in dem die bietenden Unternehmen nicht die Möglichkeit haben, sich nach der Öffnung der Umschläge vor Erlass der den Ausschluss verfügenden Entscheidung zu äußern.