61999C0238

Schlussanträge des Generalanwalts Mischo vom 25. Oktober 2001. - Limburgse Vinyl Maatschappij NV (LVM) gegen Kommission der Europäischen Gemeinschaften. - Rechtsmittel - Wettbewerb - Polyvinylchlorid (PVC) - Artikel 85 Absatz 1 EG-Vertrag (jetzt Artikel 81 Absatz 1 EG) - Nichtigerklärung einer Entscheidung der Kommission - Neue Entscheidung - Handlungen, die der ersten Entscheidung vorausgegangen sind - Rechtskraft - Grundsatz ne bis in idem - Verjährung - Angemessener Zeitraum - Begründung - Akteneinsicht - Fairer Prozess - Berufsgeheimnis - Selbstbelastung - Privatleben - Geldbußen. - Rechtssache C-238/99 P.

Sammlung der Rechtsprechung 2002 Seite I-08375


Schlußanträge des Generalanwalts


I - Einleitung

A - Sachverhalt

1. Nachdem die Kommission der Europäischen Gemeinschaften am 13. und 14. Oktober 1983 eine Nachprüfung gemäß Artikel 14 der Verordnung Nr. 17 des Rates vom 6. Februar 1962, erste Durchführungsverordnung zu den Artikeln 85 und 86 des Vertrages, im Polypropylensektor vorgenommen hatte, legte sie eine Akte für Polyvinylchlorid (PVC) an. In der Folge nahm sie in den Geschäftsräumen der betroffenen Unternehmen mehrere Nachprüfungen vor und richtete an diese Unternehmen mehrere Auskunftsverlangen.

2. Am 24. März 1988 eröffnete die Kommission gegen 14 PVC-Hersteller von Amts wegen ein Verfahren nach Artikel 3 Absatz 1 der Verordnung Nr. 17. Am 5. April 1988 übermittelte sie allen diesen Unternehmen gemäß Artikel 2 Absatz 1 der Verordnung Nr. 99/63/EWG der Kommission vom 25. Juli 1963 über die Anhörung nach Artikel 19 Absätze 1 und 2 der Verordnung Nr. 17 eine Mitteilung der Beschwerdepunkte. Sämtliche Adressaten beantworteten die Mitteilung der Beschwerdepunkte im Juni 1988. Sie wurden mit Ausnahme von Shell International Chemical Company Ltd, die keinen entsprechenden Antrag gestellt hatte, im September 1988 mündlich angehört.

3. Am 1. Dezember 1988 gab der Beratende Ausschuss für Kartell- und Monopolfragen (im Folgenden: Beratender Ausschuss) zu dem Entscheidungsvorschlag der Kommission seine Stellungnahme ab.

4. Nach Abschluss des Verfahrens erließ die Kommission die Entscheidung 89/190/EWG vom 21. Dezember 1988 betreffend ein Verfahren nach Artikel 85 des EWG-Vertrags (IV/31.865, PVC, im Folgenden: Entscheidung PVC I). Mit dieser Entscheidung setzte sie eine Geldbuße wegen Verstoßes gegen Artikel 85 Absatz 1 EG-Vertrag (jetzt Artikel 81 Absatz 1 EG) gegen folgende PVC-Hersteller fest: Atochem SA, BASF AG, DSM NV, Enichem SpA, Hoechst AG (im Folgenden: Hoechst), Hüls AG, Imperial Chemical Industries plc (im Folgenden: ICI), Limburgse Vinyl Maatschappij NV, Montedison SpA, Norsk Hydro AS, Société artésienne de vinyle SA, Shell International Chemical Company Ltd, Solvay et Cie (im Folgenden: Solvay) und Wacker-Chemie GmbH.

5. Alle diese Unternehmen mit Ausnahme von Solvay erhoben gegen diese Entscheidung beim Gemeinschaftsrichter Klage auf Nichtigerklärung.

6. Mit Beschluss vom 19. Juni 1990 erklärte das Gericht in der Rechtssache Norsk Hydro/Kommission die Klage der Norsk Hydro für unzulässig.

7. Die übrigen Rechtssachen wurden zu gemeinsamer mündlicher Verhandlung und Entscheidung verbunden.

8. Mit Urteil vom 27. Februar 1992 erklärte das Gericht in den Rechtssachen BASF u. a./Kommission die Entscheidung PVC I für inexistent.

9. Auf das Rechtsmittel der Kommission hin hob der Gerichtshof mit Urteil vom 15. Juni 1994 in der Rechtssache Kommission/BASF u. a. das Urteil des Gerichts auf und erklärte die Entscheidung PVC I für nichtig.

10. Auf dieses Urteil hin erließ die Kommission am 27. Juli 1994 eine neue Entscheidung gegen die von der Entscheidung PVC I betroffenen Hersteller mit Ausnahme von Solvay und von Norsk Hydro AS (Entscheidung 94/599/EG der Kommission vom 27. Juli 1994 betreffend ein Verfahren nach Artikel 85 EG-Vertrag [IV/31.865, PVC] [ABl. L 239, S. 14, im Folgenden: Entscheidung PVC II]). Mit dieser Entscheidung wurden den betroffenen Unternehmen Geldbußen in derselben Höhe wie in der Entscheidung PVC I auferlegt.

11. Die Entscheidung PVC II enthält u. a. folgende Artikel:

Artikel 1

BASF AG, DSM NV, Elf Atochem SA, Enichem SpA, Hoechst AG, Hüls AG, Imperial Chemical Industries Plc, Limburgse Vinyl Maatschappij NV, Montedison SpA, Société artésienne de vinyle SA, Shell International Chemical [Company] Ltd und Wacker-Chemie GmbH haben gegen Artikel 85 EWG-Vertrag verstoßen, indem sie (zusammen mit Norsk Hydro ... und Solvay ...) an einer Vereinbarung und/oder aufeinander abgestimmten Verhaltensweise beteiligt waren, die etwa im August 1980 beschlossen wurde und auf deren Grundlage die PVC-Hersteller, die die EWG beliefern, an regelmäßigen Sitzungen teilnahmen, um Zielpreise und Zielquoten festzusetzen, abgestimmte Initiativen zur Anhebung des Preisniveaus zu planen und die Anwendung der besagten geheimen Vereinbarungen zu kontrollieren.

Artikel 2

Die in Artikel 1 genannten Unternehmen, die nach wie vor auf dem PVC-Sektor in der EG tätig sind, sind verpflichtet (außer Norsk Hydro und Solvay, die bereits einer bestandskräftigen Abstellungsentscheidung unterliegen), die festgestellte Zuwiderhandlung unverzüglich abzustellen (falls sie dies noch nicht getan haben) und in Zukunft bezüglich ihrer PVC-Geschäfte von allen Vereinbarungen oder aufeinander abgestimmten Verhaltensweisen, die dasselbe oder Ähnliches bezwecken oder bewirken, Abstand zu nehmen. Dazu gehört der Austausch von Informationen, die normalerweise dem Geschäftsgeheimnis unterliegen und durch die die Teilnehmer direkt oder indirekt über Produktion, Absatz, Lagerhaltung, Verkaufspreise, Kosten oder Investitionspläne anderer Hersteller informiert oder aufgrund deren sie in die Lage versetzt werden, die Befolgung ausdrücklicher oder stillschweigender Preis- oder Marktaufteilungsabsprachen innerhalb der Gemeinschaft zu kontrollieren. Ein Verfahren zum Austausch von den PVC-Sektor betreffenden Informationen, dem sich die Hersteller anschließen, muss unter Ausschluss sämtlicher Informationen geführt werden, aus denen sich das Marktverhalten einzelner Hersteller ableiten lässt, insbesondere dürfen die Unternehmen untereinander keine zusätzlichen wettbewerbsrelevanten Informationen austauschen, die ein solches System nicht erfasst.

Artikel 3

Gegen die in dieser Entscheidung genannten Unternehmen werden wegen des in Artikel 1 festgestellten Verstoßes folgende Geldbußen festgesetzt:

i) BASF AG: eine Geldbuße von 1 500 000 ECU,

ii) DSM NV: eine Geldbuße von 600 000 ECU,

iii) Elf Atochem SA: eine Geldbuße von 3 200 000 ECU,

iv) Enichem SpA: eine Geldbuße von 2 500 000 ECU,

v) Hoechst AG: eine Geldbuße von 1 500 000 ECU,

vi) Hüls AG: eine Geldbuße von 2 200 000 ECU,

vii) Imperial Chemical Industries Plc: eine Geldbuße von 2 500 000 ECU,

viii) Limburgse Vinyl Maatschappij NV: eine Geldbuße von 750 000 ECU,

ix) Montedison SpA: eine Geldbuße von 1 750 000 ECU,

x) Société artésienne de vinyle SA: eine Geldbuße von 400 000 ECU,

xi) Shell International Chemical Company Ltd: eine Geldbuße von 850 000 ECU,

xii) Wacker-Chemie GmbH: eine Geldbuße von 1 500 000 ECU."

B - Das Verfahren vor dem Gericht

12. Die Unternehmen Limburgse Vinyl Maatschappij NV, Elf Atochem SA (im Folgenden: Elf Atochem), BASF AG, Shell International Chemical Company Ltd, DSM NV und DSM Kunststoffen BV, Wacker-Chemie GmbH, Hoechst, Société artésienne de vinyle SA, Montedison SpA, ICI, Hüls AG und Enichem SpA erhoben mit Klageschriften, die zwischen dem 5. und 14. Oktober bei der Kanzlei des Gerichts eingingen, beim Gericht Klage.

13. Alle Unternehmen beantragten, die Entscheidung PVC II ganz oder teilweise für nichtig zu erklären, hilfsweise, die verhängte Geldbuße für nichtig zu erklären oder herabzusetzen. Montedison SpA beantragte außerdem, die Kommission wegen der Aufwendungen für die Sicherheitsleistung und der sonstigen sich aus der Entscheidung PVC II ergebenden Kosten zu Schadensersatz zu verurteilen.

C - Das Urteil des Gerichts

14. Mit Urteil vom 20. April 1999 hat das Gericht in den Rechtssachen Limburgse Vinyl Maatschappij u. a./Kommission (im Folgenden: angefochtenes Urteil)

- die Rechtssachen zu gemeinsamer Entscheidung verbunden,

- Artikel 1 der Entscheidung PVC II insoweit für nichtig erklärt, als dort festgestellt wird, dass die Société artésienne de vinyle SA nach dem ersten Halbjahr 1981 an der beanstandeten Zuwiderhandlung beteiligt gewesen ist,

- die gegen Elf Atochem, Société artésienne de vinyle SA und ICI verhängten Geldbußen auf 2 600 000 Euro, 135 000 Euro bzw. 1 550 000 Euro herabgesetzt,

- im Übrigen die Klagen abgewiesen und

- über die Kosten entschieden.

D - Das Verfahren vor dem Gerichtshof

15. Mit Schriftsatz, der am 29. Juni 1999 bei der Kanzlei des Gerichtshofes eingegangen ist, hat LVM gemäß Artikel 49 der EG-Satzung des Gerichtshofes Rechtsmittel eingelegt.

16. LVM beantragt,

- das angefochtene Urteil ganz oder teilweise aufzuheben und das Verfahren zu beenden, hilfsweise die Sache an das Gericht zur Wiederaufnahme des Verfahrens zurückzuverweisen,

- die Entscheidung PVC II ganz oder teilweise für nichtig zu erklären,

- die gegen die Rechtsmittelführerin festgesetzte Geldbuße für nichtig zu erklären oder herabzusetzen,

- der Kommission die Kosten des Verfahrens erster Instanz und dieses Verfahrens aufzuerlegen.

17. Die Kommission beantragt,

- das Rechtsmittel zurückzuweisen,

- der Rechtsmittelführerin die Kosten des Verfahrens erster Instanz und dieses Verfahrens aufzuerlegen.

II - Prüfung des Falles

18. LVM führt zur Begründung ihres Rechtsmittels folgende Gründe an:

- Verstoß gegen die Rechtskraft;

- Verstoß gegen den Grundsatz ne bis in idem;

- Verstoß gegen den Grundsatz der angemessenen Verfahrensdauer;

- Ungültigkeit der Verfahrenshandlungen vor Erlass der Entscheidung PVC I;

- Unregelmäßigkeiten bei Erlass der Entscheidung vom 27. Juli 1994;

- unzureichende Begründung;

- Verstoß gegen das Recht, sich nicht selbst belasten zu müssen;

- Verstoß gegen das Recht auf Zugang zu den Akten der Kommission;

- Verjährung.

19. LVM weist darauf hin, dass ihre Rechtsmittelgründe dem Umfang und dem Inhalt nach mit denen übereinstimmten, die DSM NV und DSM Kunststoffen in der Rechtssache C-244/99 P geltend gemacht hätten. Diese Rechtsmittelführerinnen hätten allerdings noch zwei zusätzliche Rechtsmittelgründe vorgetragen.

20. Ich kann daher hier auf meine Schlussanträge vom heutigen Tage in der Rechtssache C-244/99 P verweisen. Aus den dort dargelegten Gründen folgt, dass sämtliche Rechtsmittelgründe zurückzuweisen sind.

III - Ergebnis

21. Ich möchte dem Gerichtshof vorschlagen,

- das Rechtsmittel zurückzuweisen;

- der Rechtsmittelführerin die Kosten aufzuerlegen.