61999C0205

Schlussanträge des Generalanwalts Mischo vom 30. November 2000. - Asociación Profesional de Empresas Navieras de Líneas Regulares (Analir) und andere gegen Administración General del Estado. - Ersuchen um Vorabentscheidung: Tribunal Supremo - Spanien. - Freier Dienstleistungsverkehr - Seekabotage - Erteilung und Aufrechterhaltung einer vorherigen behördlichen Genehmigung - Auferlegung gemeinwirtschaftlicher Verpflichtungen bei gleichzeitigem Abschluss eines Vertrages über gemeinwirtschaftliche Verkehrsdienste. - Rechtssache C-205/99.

Sammlung der Rechtsprechung 2001 Seite I-01271


Schlußanträge des Generalanwalts


1. In dieser Rechtssache ersucht das Tribunal Supremo (Spanien) um Vorabentscheidung über die Auslegung der Verordnung (EWG) Nr. 3577/92 des Rates vom 7. Dezember 1992 zur Anwendung des Grundsatzes des freien Dienstleistungsverkehrs auf den Seeverkehr in den Mitgliedstaaten (Seekabotage) (im Folgenden: Verordnung), um die Vereinbarkeit des spanischen Dekrets Nr. 1466/1997 vom 19. September 1997 zur rechtlichen Regelung der Seekabotage im Liniendienst und der Schifffahrtsverbindungen von öffentlichem Interesse (BOE Nr. 226 vom 20. September 1997, S. 27712, im Folgenden: Real Decreto Nr. 1466) beurteilen zu können.

Rechtlicher Rahmen

A - Gemeinschaftsrecht

2. In Artikel 1 Absatz 1 der Verordnung heißt es:

Mit Wirkung vom 1. Januar 1993 gilt der Grundsatz des freien Dienstleistungsverkehrs im Seeverkehr innerhalb eines Mitgliedstaats (Seekabotage) für Gemeinschaftsreeder, deren Schiffe in einem Mitgliedstaat registriert sind ..."

3. Nach Artikel 2 Nummer 3 der Verordnung sind

,Verträge über Verkehrsdienste aufgrund von Verpflichtungen des öffentlichen Dienstes Verträge, die zwischen den zuständigen Behörden eines Mitgliedstaats und einem Gemeinschaftsreeder abgeschlossen werden, um der Allgemeinheit ausreichende Verkehrsdienste zu bieten.

Ein Vertrag über Verkehrsdienste aufgrund von Verpflichtungen des öffentlichen Dienstes kann insbesondere Folgendes umfassen:

- Verkehrsdienste, die bestimmten Anforderungen an die Kontinuität, Regelmäßigkeit, Leistungsfähigkeit und Qualität genügen;

- zusätzliche Verkehrsdienste;

- Verkehrsdienste zu besonderen Tarifen und Bedingungen, vor allem für bestimmte Personengruppen oder auf bestimmten Verkehrsverbindungen;

- eine Anpassung der Dienste an den tatsächlichen Bedarf".

4. Nach Artikel 2 Nummer 4 sind unter Verpflichtungen des öffentlichen Dienstes" Verpflichtungen zu verstehen, die der betreffende Gemeinschaftsreeder im eigenen wirtschaftlichen Interesse nicht oder nicht im gleichen Umfang und nicht unter den gleichen Bedingungen übernehmen würde.

5. In Artikel 4 der Verordnung heißt es:

(1) Ein Mitgliedstaat kann mit Schifffahrtsgesellschaften, die sich an Liniendiensten von, zwischen und nach Inseln beteiligen, als Voraussetzung für das Recht zur Erbringung von Kabotageleistungen Verträge über Verkehrsdienste aufgrund von Verpflichtungen des öffentlichen Dienstes schließen oder ihnen entsprechende Verpflichtungen auferlegen.

...

(2) Bei der Auferlegung von Verpflichtungen des öffentlichen Dienstes beschränken sich die Mitgliedstaaten auf Auflagen hinsichtlich der anzulaufenden Häfen, der Regelmäßigkeit, Beständigkeit und Häufigkeit des Verkehrs, der Dienstleistungskapazität, der zu erhebenden Gebühren sowie der Schiffsbesatzung.

Für die etwaige Gewährung eines Ausgleichs für solche Verpflichtungen kommen stets alle Gemeinschaftsreeder in Betracht."

B - Nationales Recht

6. Nach dem Real Decreto Nr. 1466 sind alle Liniendienste zwischen dem Festland und den Inseln, zwischen dem Festland und Ceuta oder Melilla sowie zwischen den Inseln Schifffahrtsverbindungen von öffentlichem Interesse.

7. Das Real Decreto Nr. 1466 sieht drei verschiedene Systeme vor:

- ein Meldesystem für die Festlandskabotage (Artikel 3),

- den Abschluss von Verträgen von öffentlichem Interesse (Artikel 4) und

- die Erteilung einer vorherigen behördlichen Genehmigung (Artikel 6 und 8).

8. Für die im Real Decreto Nr. 1466 vorgesehene behördliche Genehmigung gelten zwei Arten von Voraussetzungen:

- das Erfordernis, den Verpflichtungen in Bezug auf Steuern und Sozialabgaben nachgekommen zu sein (Artikel 6), und

- Anforderungen in Bezug auf die Regelmäßigkeit und die Beständigkeit des Verkehrs, die Dienstleistungskapazität, die Besatzung und gegebenenfalls die anzulaufenden Häfen, die Häufigkeit des Verkehrs sowie unter Umständen die Gebühren (Artikel 8).

Die Vorlagefragen

9. Im Hinblick auf die von der Asociación Profesional de Empresas Navieras de Líneas Regulares (Analir) u. a. (im Folgenden: Klägerinnen des Ausgangsverfahrens) erhobene Klage auf Nichtigerklärung des Real Decreto Nr. 1466, die sie auf dessen Unvereinbarkeit mit dem Gemeinschaftsrecht stützen, hat das vorlegende Gericht um Vorabentscheidung über folgende Fragen ersucht:

1. Kann Artikel 4 in Verbindung mit Artikel 1 der Verordnung (EWG) Nr. 3577/92 des Rates vom 7. Dezember 1992 zur Anwendung des Grundsatzes des freien Dienstleistungsverkehrs auf den Seeverkehr in den Mitgliedstaaten (Seekabotage) dahin ausgelegt werden, dass die Erbringung von Inselkabotagediensten durch Unternehmen, die Seeverkehrslinien betreiben, von einer vorherigen behördlichen Genehmigung abhängig gemacht werden darf?

2. Können im Fall der Bejahung der ersten Frage die Erteilung und die Aufrechterhaltung der genannten behördlichen Genehmigung von der Erfuellung anderer als der in Artikel 4 Absatz 2 der genannten Verordnung erwähnten Auflagen abhängig gemacht werden, wie derjenigen, den Verpflichtungen in Bezug auf Steuern und Sozialabgaben nachgekommen zu sein?

3. Kann Artikel 4 Absatz 1 der Verordnung Nr. 3577/92 dahin ausgelegt werden, dass auf ein und derselben Seeverkehrslinie oder -verbindung zur Durchführung desselben Liniendienstes von, zwischen oder nach Inseln einigen Schifffahrtsunternehmen gemeinwirtschaftliche Verpflichtungen auferlegt und gleichzeitig mit anderen Unternehmen Verträge über gemeinwirtschaftliche Verkehrsdienste im Sinne von Artikel 1 Nummer 3 der Verordnung geschlossen werden dürfen?

10. Das vorlegende Gericht weist darauf hin, dass für das Königreich Spanien zum Zeitpunkt des Erlasses des Real Decreto Nr. 1466, dessen Nichtigerklärung im Ausgangsverfahren begehrt wird, bis zum 1. Januar 1999 eine Ausnahme von der Pflicht zur Liberalisierung der Seekabotage gegolten habe. Es fügt jedoch - meines Erachtens zu Recht - hinzu, dass die gestellten Fragen in zeitlicher Hinsicht nicht irrelevant seien. Es stellt nämlich in seinem Beschluss, der am 12. Mai 1999 und somit nach Ablauf der Ausnahmeregelung ergangen ist, fest, dass die nationalen Bestimmungen, deren Gültigkeit es zu beurteilen habe, nach dem Ende der Ausnahmeregelung nicht geändert worden und auf Dauer angelegt seien.

Zur ersten Vorlagefrage

11. Diese Frage geht dahin, ob ein Mitgliedstaat die Möglichkeit hat, ein mit der Auferlegung gemeinwirtschaftlicher Verpflichtungen verknüpftes System vorheriger Genehmigungen anzuwenden. Es geht somit nicht darum, welche Maßnahmen ein Mitgliedstaat zur Wahrung der Sicherheit des Schiffsverkehrs treffen kann, oder um Anforderungen in Bezug auf den Betrieb von Hafenanlagen (z. B. den Zugang zu Anlegestellen).

12. Es ist unstreitig, dass die Verordnung zur Umsetzung des Grundsatzes des freien Dienstleistungsverkehrs im Bereich der Seekabotage dient.

13. Dies ergibt sich sowohl aus ihrem oben genannten Titel als auch aus den Begründungserwägungen, in denen es heißt: Für die Vollendung des Binnenmarktes ist die Aufhebung der Beschränkungen des freien Dienstleistungsverkehrs im Seeverkehr in den Mitgliedstaaten notwendig. Der Binnenmarkt umfasst einen Raum, in dem der freie Verkehr von Waren, Personen, Dienstleistungen und Kapital gewährleistet ist. Daher sollte der Grundsatz des freien Dienstleistungsverkehrs auch auf den Seeverkehr in den Mitgliedstaaten angewandt werden."

14. Dieser Grundsatz kommt in Artikel 1 Absatz 1 der Verordnung zum Ausdruck.

15. Die Parteien sind sich auch darüber einig, dass das Erfordernis einer vorherigen Genehmigung, das definitionsgemäß bedeutet, dass keine Dienstleistungen erbracht werden dürfen, solange keine Genehmigung erteilt wurde, eine Beschränkung des freien Dienstleistungsverkehrs darstellt.

16. Die Meinungsverschiedenheiten zwischen den Verfahrensbeteiligten betreffen die Frage, ob und, wenn ja, in welchem Umfang eine solche Beschränkung mit den in der Verordnung angesprochenen Gemeinwirtschaftlichkeitserfordernissen gerechtfertigt werden kann.

17. Die Klägerinnen des Ausgangsverfahrens räumen ein, dass die Mitgliedstaaten es als erforderlich ansehen können, Wirtschaftsteilnehmern gemeinwirtschaftliche Verpflichtungen aufzuerlegen, halten sie aber nicht für verpflichtet, die Erbringung von Dienstleistungen von einer vorherigen Genehmigung abhängig zu machen. Ihres Erachtens könnte die Erfuellung solcher Verpflichtungen durch ein System der Erteilung von Gruppenlizenzen und durch Meldeverfahren gewährleistet werden.

18. Das Königreich Spanien und die Hellenische Republik vertreten den entgegengesetzten Standpunkt und machen geltend, ein System vorheriger Genehmigungen sei eindeutig erforderlich, um die Erfuellung gemeinwirtschaftlicher Verpflichtungen zu garantieren.

19. Die spanische Regierung stützt ihre These, dass das Erfordernis einer behördlichen Genehmigung der Liberalisierung der Inselkabotage nicht entgegenstehe, auf folgende Argumente.

20. Zunächst weist sie auf die Bedeutung hin, die sowohl in der spanischen Verfassung als auch im Gemeinschaftsrecht die Tatsache habe, dass es sich um Verbindungen zu Inseln handele; sie verweist dabei u. a. auf Artikel 227 Absatz 2 EG-Vertrag (nach Änderung jetzt Artikel 299 Absatz 2 EG) und die dem Vertrag über die Europäische Union beigefügte Erklärung Nr. 30 zu den Inselgebieten.

21. Sie zieht daraus folgenden Schluss: Die Insellage ist ... durch Merkmale und Besonderheiten gekennzeichnet, deren Schutz nach der jedem Staat obliegenden Beurteilung besondere Schutzsysteme verdienen kann."

22. Zudem werde im spanischen Recht zutreffend davon ausgegangen, dass die Inselkabotage zu den gemeinwirtschaftlichen Dienstleistungen gehöre. Sie erfuelle nämlich die in der Rechtsprechung des Gerichtshofes aufgestellten Voraussetzungen, da sie allgemein und beständig sei, im öffentlichen Interesse liege und durch die Verwaltung geregelt werde.

23. Die Kommission hebt jedoch - meines Erachtens zu Recht - hervor, dass die Frage, ob ein Mitgliedstaat befugt sei, bestimmte Kabotageleistungen als gemeinwirtschaftliche Dienstleistungen einzustufen, im vorliegenden Fall nicht gestellt werde. Der Rechtsstreit betreffe in Wirklichkeit die Konsequenzen, die ein Mitgliedstaat an eine solche Einstufung knüpfen dürfe.

24. Ein Mitgliedstaat könne die gesamte Inselkabotage zur gemeinwirtschaftlichen Dienstleistung erklären, die deshalb gemeinwirtschaftlichen Verpflichtungen unterliegen müsse, deren Einhaltung nur durch ein System vorheriger Genehmigungen gewährleistet werden könne.

25. Die Kommission vertritt dagegen mit Unterstützung der norwegischen Regierung die Ansicht, dass auf ein solches System nur unter genau festgelegten Voraussetzungen zurückgegriffen werden dürfe. Ich teile diesen Standpunkt.

26. Eine systematische Analyse der Bestimmungen der Verordnung lässt nämlich kaum Zweifel am Verhältnis zwischen Artikel 1, der den Grundsatz des freien Dienstleistungsverkehrs zum Ausdruck bringt, und Artikel 4, der den Mitgliedstaaten die Befugnis verleiht, Verträge über gemeinwirtschaftliche Verkehrsdienste zu schließen oder gemeinwirtschaftliche Verpflichtungen aufzuerlegen. Diese Möglichkeit ist als Ausnahme anzusehen, während der freie Dienstleistungsverkehr die Regel ist.

27. Über diesen Punkt besteht im Übrigen zwischen den Verfahrensbeteiligten kein Streit.

28. Folglich kann der freie Dienstleistungsverkehr nur dann aufgrund von Gemeinwirtschaftlichkeitserfordernissen eingeschränkt werden, wenn und soweit dies zur Gewährleistung ausreichender Verkehrsverbindungen unerlässlich ist.

29. Dies wird durch die neunte Begründungserwägung der Verordnung bestätigt, in der es heißt: Die Auferlegung gemeinwirtschaftlicher Leistungen mit bestimmten Rechten und Pflichten für die betreffenden Reeder kann vertretbar sein, um ausreichende Liniendienste von, zwischen und nach Inseln sicherzustellen ..."

30. Die These, dass auf gemeinwirtschaftliche Verpflichtungen nur dann zurückgegriffen werden sollte, wenn die Marktkräfte zur Bereitstellung ausreichender Verkehrsverbindungen nicht ausreichen, kommt auch in Artikel 2 Nummer 4 der Verordnung zum Ausdruck, wonach Verpflichtungen des öffentlichen Dienstes" Verpflichtungen sind, die der betreffende Gemeinschaftsreeder im eigenen wirtschaftlichen Interesse nicht oder nicht im gleichen Umfang und nicht unter den gleichen Bedingungen übernehmen würde".

31. Diese Analyse der Bestimmungen der Verordnung wird auch durch die Rechtsprechung des Gerichtshofes zum freien Dienstleistungsverkehr bestätigt, aus der hervorgeht, dass es sich dabei um eine Grundfreiheit des Gemeinschaftsrechts handelt und dass jede Ausnahme von ihr eng auszulegen ist und mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit und dem Diskriminierungsverbot im Einklang stehen muss.

32. Unter den Umständen des vorliegenden Falles bedeutet dies, dass die Einholung einer vorherigen Genehmigung nur vorgeschrieben werden darf, wenn sie erforderlich ist, um die Wirtschaftsteilnehmer zur Erbringung von Leistungen zu verpflichten, die sie bei freiem Wettbewerb nicht erbringen würden.

33. Dies setzt eine individuelle Analyse der betroffenen Linien voraus, um festzustellen, welche von ihnen bei freiem Wettbewerb nicht angemessen bedient würden.

34. Ein Mitgliedstaat kann dagegen nicht von vornherein und ohne Analyse des Einzelfalls festlegen, dass für eine ganze Gruppe von Verbindungen wie im vorliegenden Fall die Verbindungen von, zwischen und nach Inseln, zur Gewährleistung einer angemessenen Bedienung Maßnahmen erlassen werden müssen, die den freien Dienstleistungsverkehr beschränken.

35. Es ist sicher möglich, dass die zuständigen Behörden eines Mitgliedstaats nach einer solchen Analyse zu dem Ergebnis kommen, dass keine der zu dieser Gruppe gehörenden Verbindungen bei freiem Wettbewerb angemessen bedient würde.

36. Im vorliegenden Fall weist die spanische Regierung jedoch selbst auf die große Verschiedenartigkeit der Linien hin, die es zwischen dem Festland und den Inseln sowie zwischen letzteren gibt. Dies lässt darauf schließen, dass zumindest einige dieser Verbindungen bei freiem Wettbewerb angemessen bedient werden könnten und dass die Auferlegung gemeinwirtschaftlicher Verpflichtungen vielleicht nicht für alle Verbindungen zu den Inseln und zwischen ihnen erforderlich ist.

37. Es ist im Übrigen nicht ersichtlich, weshalb - wie die spanische Regierung offenbar geltend machen will - die Verschiedenartigkeit der fraglichen Linien ein Hindernis für ihre individuelle Analyse darstellen sollte. Gerade diese Verschiedenartigkeit macht vielmehr eine Einzelfallprüfung erforderlich, da sie bedeutet, dass eine für eine bestimmte Verbindung zutreffende Entscheidung bei einer anderen Verbindung unzutreffend sein kann. Nebenbei bemerkt sind die genannten Linien auch nicht so zahlreich, dass eine solche Einzelfallanalyse nicht durchführbar wäre.

38. Die spanische Regierung stellt einen Vergleich zwischen der Seekabotage und dem Telekommunikationssektor an, der ein Beispiel für einen anderen wirtschaftlich liberalisierten Bereich darstelle, in dem es für die Erbringung von Dienstleistungen noch ein Genehmigungssystem gebe.

39. Ein solcher Vergleich, der sich darauf beschränkt, dass es sich um zwei auf dem Weg der Liberalisierung befindliche Wirtschaftsbereiche handelt, kann jedoch in Anbetracht der obigen Ausführungen nicht zu dem Schluss berechtigen, dass ein System vorheriger Genehmigungen im Bereich der Seekabotage unbegrenzt zulässig wäre.

40. Die spanische Regierung, der die griechische Regierung beipflichtet, führt zur Stützung ihrer These ferner aus, nach Artikel 4 Absatz 1 der Verordnung könnten die Mitgliedstaaten gemeinwirtschaftliche Verpflichtungen als Voraussetzung für das Recht zur Erbringung von Kabotageleistungen von, zwischen und nach Inseln auferlegen.

41. Dieses Argument hat sicher großes Gewicht, aber aus ihm folgt nicht zwangsläufig, dass die Einhaltung dieser Voraussetzungen unbedingt im Voraus geprüft werden muss. Es ist ebenso denkbar, dass die zuständigen Behörden die erforderlichen Kontrollen mit Hilfe eines Meldesystems vornehmen. In der Rechtsprechung des Gerichtshofes gibt es im Übrigen Beispiele für solche Lösungen im Bereich der Grundfreiheiten des Gemeinschaftsrechts wie dem freien Kapitalverkehr.

42. Können wir somit den Schluss ziehen, dass das Erfordernis einer vorherigen Genehmigung im Zusammenhang mit gemeinwirtschaftlichen Verpflichtungen zulässig ist, wenn es sich auf Verbindungen beschränkt, die bei freiem Wettbewerb nicht angemessen bedient würden, und in nicht diskriminierender Weise angewandt wird?

43. Die Kommission gibt insoweit eine Reihe zutreffender Hinweise.

44. Zunächst hebt sie hervor, dass die nationalen Behörden auch in diesem Fall nur dann auf ein System vorheriger Genehmigungen zurückgreifen dürften, wenn die Prüfung der ordnungsgemäßen Durchführung der gemeinwirtschaftlichen Dienstleistung nicht mit anderen Mitteln gewährleistet werden könne.

45. Sie fügt hinzu, das System vorheriger Genehmigungen dürfe nicht zur Beschränkung des Marktzugangs, sondern nur zum Schutz der gemeinwirtschaftlichen Dienstleistung dienen. Ich teile diesen Standpunkt voll und ganz. Es sind nämlich allein die Gemeinwirtschaftlichkeitserfordernisse, die ein solches System rechtfertigen können. Dieses darf daher nur zur Aufrechterhaltung der gemeinwirtschaftlichen Dienstleistung dienen, und der Wettbewerb darf nur in dem dafür erforderlichen Umfang beschränkt werden. Jede Beschränkung des Marktzugangs, die im Hinblick auf die Gemeinwirtschaftlichkeitserfordernisse nicht notwendig ist, kann dagegen nicht gerechtfertigt werden.

46. Daraus folgt zwangsläufig - wie die Kommission im Übrigen ausführt -, dass den zuständigen Behörden im Rahmen der Voraussetzungen für die Erteilung der Genehmigung kein Ermessen eingeräumt werden darf. Jedes Unternehmen, das die vorgesehenen gemeinwirtschaftlichen Verpflichtungen erfuellt, die sich natürlich im Rahmen dessen bewegen müssen, was nach Artikel 4 Absatz 2 der Verordnung zulässig ist, muss automatisch eine Genehmigung erhalten können.

47. Außerdem ist ein echter Zugang zum betreffenden Markt nur dann gegeben, wenn die Voraussetzungen für die Genehmigung transparent sind und die Rechtssicherheit gewährleistet ist. Die Voraussetzungen für die Erteilung der Genehmigung müssen deshalb im Voraus bekannt, nach objektiven Kriterien gerechtfertigt und auf alle zugangsberechtigten Wirtschaftsteilnehmer in gleicher Weise anwendbar sein. Andernfalls könnte ein Wirtschaftsteilnehmer die von ihm zu tragenden Belastungen nicht vorhersehen und würde dadurch von der Beantragung einer Genehmigung abgehalten.

48. Die Kommission verweist ferner auf eine schriftliche Aufforderung zur Äußerung, die sie den spanischen Behörden am 22. Oktober 1997 übersandt habe und nach der das Real Decreto Nr. 1466 jedenfalls zu neuen Beschränkungen des freien Dienstleistungsverkehrs führe, die insbesondere in der Schaffung eines Systems vorheriger Genehmigungen für alle Verbindungen zu und zwischen den Inseln bestuenden. Es verstoße damit gegen Artikel 7 der Verordnung, der durch Verweisung auf Artikel 62 EG-Vertrag (aufgehoben durch den Vertrag von Amsterdam) eine Standstill"-Klausel für Beschränkungen im Bereich der Seekabotage aufstelle.

49. Das vorlegende Gericht fragt jedoch nicht nach der Anwendbarkeit von Artikel 7 auf den vorliegenden Fall.

50. Nach alledem ist die erste Vorlagefrage wie folgt zu beantworten:

Artikel 1 und Artikel 4 Absatz 2 der Verordnung sind dahin auszulegen, dass die Erbringung von Inselkabotagediensten durch Unternehmen, die Seeverkehrslinien betreiben, nur dann von einer vorherigen behördlichen Genehmigung abhängig gemacht werden darf, wenn der Mitgliedstaat nachweist,

- dass die gemeinwirtschaftliche Dienstleistung bei freiem Wettbewerb auf den genehmigungsbedürftigen Linien nicht in zufrieden stellender Weise erbracht würde;

- dass die Einhaltung der gemeinwirtschaftlichen Verpflichtungen durch die Wirtschaftsteilnehmer nur mittels eines Systems vorheriger Genehmigungen gewährleistet werden kann;

- dass die Voraussetzungen für die Erteilung der Genehmigung festgelegt, vorhersehbar, transparent und nicht diskriminierend sind;

- dass die Wirtschaftsteilnehmer, die die vom Mitgliedstaat festgelegten gemeinwirtschaftlichen Verpflichtungen erfuellen, automatisch eine Genehmigung erhalten.

Zur zweiten Vorlagefrage

51. Diese Frage wird zwar nur für den Fall einer Bejahung der ersten Frage gestellt. Da letztere bedingt bejaht wurde, halte ich eine Beantwortung der zweiten Frage jedoch für erforderlich.

52. Das vorlegende Gericht möchte wissen, ob die Erteilung und die Aufrechterhaltung der Genehmigung von der Erfuellung anderer als der in Artikel 4 Absatz 2 der genannten Verordnung erwähnten Auflagen - wie derjenigen, den Verpflichtungen in Bezug auf Steuern und Sozialabgaben nachgekommen zu sein - abhängig gemacht werden darf, die in keinem speziellen Zusammenhang mit den Leistungen stehen, die Gegenstand der Genehmigung sind.

53. Die Klägerinnen des Ausgangsverfahrens tragen vor, die Erteilung und die Aufrechterhaltung der im Real Decreto Nr. 1466 vorgesehenen Genehmigung für die Inselkabotage dürfe nicht von der Auflage abhängig gemacht werden, den Verpflichtungen in Bezug auf Steuern und Sozialabgaben nachgekommen zu sein.

54. Der Vertrag lasse Beschränkungen des tragenden Grundsatzes des freien Dienstleistungsverkehrs nur dann zu, wenn sie aufgrund nicht wirtschaftlicher Erfordernisse des Gemeinwohls gerechtfertigt seien, die frei von Diskriminierungen und verhältnismäßig sein müssten.

55. Dies sei hier nicht der Fall, da die fragliche Verpflichtung in keinem unmittelbaren Zusammenhang mit dem genehmigungspflichtigen Seeverkehr stehe.

56. Außerdem dürften die Mitgliedstaaten nach Artikel 5 EG-Vertrag (jetzt Artikel 10 EG) keine neuen Beschränkungen des freien Dienstleistungsverkehrs wie die streitigen Voraussetzungen einführen.

57. Die norwegische Regierung teilt den Standpunkt der Klägerinnen des Ausgangsverfahrens, dass Artikel 4 Absatz 2 der Verordnung die Auferlegung der fraglichen Verpflichtungen nicht gestatte. Sie würden nämlich in dieser Bestimmung nicht erwähnt, die nach Wortlaut und Zweck der Verordnung eine abschließende Regelung enthalte.

58. Die spanische Regierung führt dagegen aus, die streitigen Voraussetzungen seien keine gemeinwirtschaftlichen Verpflichtungen, sondern gehörten zu den allgemeinen Voraussetzungen für die Erteilung der behördlichen Genehmigung.

59. Sie verstießen folglich nicht gegen Artikel 4 der Verordnung, selbst wenn diese Bestimmung als abschließend anzusehen sein sollte.

60. Die spanische Regierung trägt ferner in Übereinstimmung mit der Kommission vor, die Verpflichtung, Steuern und Sozialabgaben gezahlt zu haben, sei unerlässlich, um eine gewisse Solvenz der Unternehmen zu gewährleisten, die gemeinwirtschaftliche Dienstleistungen erbringen sollten, und sorge somit dafür, dass deren Erbringung nicht durch Schulden des Dienstleistenden gefährdet werde.

61. Die Kommission führt hierzu aus, unter der Dienstleistungskapazität im Sinne von Artikel 4 Absatz 2 der Verordnung sei sowohl die wirtschaftliche als auch die finanzielle Leistungsfähigkeit zu verstehen.

62. Sowohl die Ausführungen des vorlegenden Gerichts als auch die Argumente der spanischen Regierung zeigen, dass hier zwei Arten von Erwägungen zu unterscheiden sind.

63. Zunächst stellt sich die Frage, ob die Mitgliedstaaten allgemein berechtigt sind, die Ausübung der fraglichen Tätigkeit von Voraussetzungen abhängig zu machen, die nicht von Artikel 4 Absatz 2 erfasste Bereiche betreffen.

64. Wie sich schon aus dem Wortlaut der Verordnung ergibt, ist dies der Fall.

65. Dort heißt es nämlich in Artikel 1 Absatz 1, dass der Grundsatz des freien Dienstleistungsverkehrs ... für Gemeinschaftsreeder [gilt], deren Schiffe in einem Mitgliedstaat registriert sind und unter der Flagge eines Mitgliedstaats fahren, sofern diese Schiffe alle Voraussetzungen erfuellen, um zur Kabotage in diesem Mitgliedstaat zugelassen zu werden ..."

66. Desgleichen sieht Artikel 3 Absatz 2 Folgendes vor: Bei Schiffen, die zur Inselkabotage eingesetzt werden, ist für alle Fragen im Zusammenhang mit der Besatzung des Schiffes der Staat zuständig, in dem das Schiff einen Seeverkehrsdienst erbringt (Aufnahmestaat)."

67. Daraus folgt zwingend, dass ein Mitgliedstaat aufgrund dieser beiden Bestimmungen Voraussetzungen aufstellen kann, die nicht von Artikel 4 Absatz 2 erfasste Bereiche betreffen.

68. Insbesondere folgt aus Artikel 1 Absatz 1, dass Schiffe, mit denen ein Reeder in Spanien Kabotageleistungen erbringen möchte und die in diesem Staat registriert sind und unter seiner Flagge fahren, die Voraussetzungen des spanischen Rechts erfuellen müssen, um zur Kabotage in Spanien zugelassen zu werden. In einem solchen Fall bestuende kein Hinderungsgrund, in diese Voraussetzungen gegebenenfalls die Verpflichtung einzubeziehen, Steuern und Sozialabgaben gezahlt zu haben.

69. Diese Erwägung bringt mich zum zweiten Problem, auf das im Rahmen dieser Vorlagefrage einzugehen ist.

70. Auch wenn nämlich - wie ausgeführt - die Verpflichtungen in Bezug auf Steuern und Sozialabgaben, auf die das vorlegende Gericht abstellt, unter den oben geschilderten Umständen eine andere Grundlage als Artikel 4 Absatz 2 finden können, schließt dies nicht aus, dass diese Verpflichtungen auch als gemeinwirtschaftliche Verpflichtungen im Sinne der genannten Bestimmung angesehen werden können, die den Reedern deshalb vom Aufnahmemitgliedstaat unabhängig davon auferlegt werden können, ob sie ihren Sitz in Spanien oder in einem anderen Mitgliedstaat haben.

71. Wie die Kommission und die spanische Regierung zu Recht hervorheben, kann die Tatsache, dass ein Reeder seine Steuern und Sozialabgaben nicht zahlen kann, ein Indiz für ernste wirtschaftliche Schwierigkeiten sein, die zu einem Konkurs und zu einer Unterbrechung der gemeinwirtschaftlichen Dienstleistung führen können.

72. Die Einbeziehung eines Kriteriums, das die Beurteilung der Solvenz des Reeders ermöglicht, in die Genehmigungsvoraussetzungen stellt somit keine übermäßig weite Auslegung von Artikel 4 Absatz 2 der Verordnung dar, auch wenn diese Bestimmung - wie dargelegt - als Ausnahme vom Grundsatz des freien Dienstleistungsverkehrs eng auszulegen ist.

73. Dieses Ergebnis wird auch durch den von den Klägerinnen des Ausgangsverfahrens und vom vorlegenden Gericht angeführten Umstand nicht in Frage gestellt, dass die fraglichen Voraussetzungen keinen speziellen Zusammenhang mit den zu leistenden Diensten aufweisen. Wie wir gesehen haben, stellen sie ganz allgemein ein Indiz für die finanzielle Befähigung dar, derartige Dienste dauerhaft zu erbringen.

74. Außerdem darf sich ein Unternehmen keinen Wettbewerbsvorteil gegenüber anderen Unternehmen verschaffen, die ihre Steuern und Sozialabgaben ordnungsgemäß zahlen.

75. In diesem Zusammenhang weist die spanische Regierung im Übrigen zutreffend darauf hin, dass derartige Voraussetzungen dem Gemeinschaftsrecht nicht fremd sind. In den Richtlinien über öffentliche Aufträge sind sie ausdrücklich vorgesehen. Diese betreffen aber a priori eine punktuellere Beziehung zwischen Wirtschaftsteilnehmern und Behörden.

76. Im vorliegenden Fall ist die Auferlegung solcher Voraussetzungen daher erst recht als zulässig anzusehen, da es um gemeinwirtschaftliche Dienstleistungen geht, die über längere Zeit und nicht nur sporadisch erbracht werden müssen.

77. Ferner ist der Kommission darin beizupflichten, dass diese Voraussetzungen in nicht diskriminierender Weise angewandt werden müssen.

78. Wie schon bei der Prüfung der ersten Frage ausgeführt worden ist, geht sowohl aus der Rechtsprechung des Gerichtshofes als auch aus allgemeinen Grundsätzen des Gemeinschaftsrechts hervor, dass eine Beschränkung einer dort verankerten Freiheit nur dann gerechtfertigt sein kann, wenn sie nicht zu Diskriminierungen führt.

79. Die Kommission weist auch noch zutreffend darauf hin, dass es die fraglichen Voraussetzungen schon vor dem Real Decreto Nr. 1466 in anderen Rechtstexten gab, so dass sie keine neue und deshalb mit den Bestimmungen der Verordnung unvereinbare Beschränkung darstellen.

80. Nach alledem schlage ich vor, die zweite Vorlagefrage wie folgt zu beantworten:

Artikel 4 Absatz 2 der Verordnung hindert nicht daran, die Erteilung oder die Aufrechterhaltung der in der ersten Frage angesprochenen Genehmigung von der Voraussetzung abhängig zu machen, dass der Dienstleistende den Verpflichtungen in Bezug auf Steuern und Sozialabgaben nachgekommen ist, sofern diese Voraussetzung in nicht diskriminierender Weise angewandt wird.

Zur dritten Vorlagefrage

81. Mit dieser Frage möchte das Tribunal Supremo wissen, ob nach der Verordnung auf ein und derselben Seeverkehrslinie oder -verbindung gemeinwirtschaftliche Verpflichtungen auferlegt und gleichzeitig mit anderen Unternehmen Verträge über gemeinwirtschaftliche Verkehrsdienste geschlossen werden dürfen. Es führt hierzu aus, in Spanien lasse das Real Decreto Nr. 1466 dies zu.

82. Nach Ansicht der Klägerinnen des Ausgangsverfahrens ist diese Frage zu verneinen. Die Behörden müssten sich darauf beschränken, für die angemessene, fortlaufende und ausreichende Erbringung der fraglichen Leistungen zu sorgen. Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofes müssten sie dieses dreifache Ziel in der für die Allgemeinheit kostengünstigsten Weise verfolgen.

83. Folglich seien Maßnahmen wie der Abschluss eines Vertrages über gemeinwirtschaftliche Verkehrsdienste oder die Auferlegung gemeinwirtschaftlicher Verpflichtungen nur zulässig, wenn die angebotenen Dienstleistungen diese drei Kriterien nicht erfuellten.

84. In einem solchen Fall seien gemeinwirtschaftliche Verpflichtungen aufzuerlegen, wenn die Unzulänglichkeit der angebotenen Dienstleistungen nur eines dieser Kriterien betreffe. Werde dagegen keinem der Kriterien genügt, dann sei auf den Abschluss eines Vertrages über gemeinwirtschaftliche Verkehrsdienste zurückzugreifen.

85. Es sei widersprüchlich, wenn ein Mitgliedstaat für dieselbe Verkehrsverbindung gleichzeitig einen Vertrag schließe und gemeinwirtschaftliche Verpflichtungen auferlege.

86. Außerdem sei mit dem Abschluss eines Vertrages die Gewährung besonderer Rechte verbunden, so dass Artikel 90 EG-Vertrag (jetzt Artikel 86 EG) beachtet werden müsse. Würden einem Unternehmen solche Vorteile eingeräumt und gleichzeitig anderen, die eine konkurrierende Dienstleistung anbieten könnten, gemeinwirtschaftliche Verpflichtungen auferlegt, so handele ein Mitgliedstaat unverhältnismäßig und verstoße gegen Artikel 86 EG-Vertrag (jetzt Artikel 82 EG), der in Verbindung mit Artikel 90 anzuwenden sei.

87. Die Voraussetzungen für die Anwendung der in dessen Absatz 2 vorgesehenen Ausnahmeregelung seien nicht erfuellt, da dieser unterstelle, dass die getroffenen Maßnahmen in angemessenem Verhältnis zu dem angeführten Ziel stuenden, was hier nicht der Fall sei.

88. Eine Studie zeige, dass die Liniendienste zu den Inseln ausreichten. Es sei daher nicht gerechtfertigt, alle diese Verbindungen zusammenzufassen und sie zum Gegenstand eines einzigen Vertrages über gemeinwirtschaftliche Verkehrsdienste zu machen.

89. In Wirklichkeit diene das Real Decreto Nr. 1466, das es gestatte, die Auferlegung gemeinwirtschaftlicher Verpflichtungen mit dem Abschluss eines Vertrages über gemeinwirtschaftliche Verkehrsdienste zu kombinieren, nur dazu, die Gesellschaft Transmed zu retten, die ohne staatliche Subventionen nicht überleben könnte.

90. Die norwegische Regierung, die in ihren schriftlichen Erklärungen die Meinung vertreten hatte, dass sich die beiden in Artikel 4 Absatz 2 der Verordnung aufgezählten Mittel zur Gewährleistung der gemeinwirtschaftlichen Dienstleistung gegenseitig ausschlössen, hat ihren Standpunkt in der mündlichen Verhandlung geändert.

91. Sie ist letztlich der Auffassung, dass beide Instrumente gleichzeitig auf dieselbe Linie oder Verbindung angewandt werden könnten, wobei ihre Kombination aber nicht zu einer Wettbewerbsverzerrung führen dürfe, die bei Heranziehung nur eines dieser Instrumente nicht eingetreten wäre.

92. Die französische Regierung ist entgegengesetzter Ansicht. Sie unterscheidet dabei zwei Sachverhalte.

93. Erstens sei ein Mitgliedstaat berechtigt, einen Vertrag über gemeinwirtschaftliche Verkehrsdienste für eine Verkehrsverbindung zu schließen, für die bereits gemeinwirtschaftliche Verpflichtungen bestuenden.

94. Es sei nämlich denkbar, dass die angebotene Dienstleistung trotz der behördlichen Auferlegung gemeinwirtschaftlicher Verpflichtungen keinen vom Mitgliedstaat als ausreichend angesehenen Umfang erreiche. In einem solchen Fall sei der Abschluss eines Vertrages über gemeinwirtschaftliche Verkehrsdienste angebracht, und der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit könne es gebieten, den Gegenstand dieses Vertrages auf das zur Deckung des nicht erfuellten Bedarfs an der gemeinwirtschaftlichen Dienstleistung erforderliche Maß zu beschränken.

95. Dann gebe es somit auf derselben Verbindung Liniendienste, die gemeinwirtschaftlichen Verpflichtungen unterworfen seien, und einen Wirtschaftsteilnehmer, der an einen Vertrag über gemeinwirtschaftliche Verkehrsdienste gebunden sei, der die gleichen gemeinwirtschaftlichen Verpflichtungen (und unter Umständen weitere Verpflichtungen) enthalte.

96. Zweitens sei es auch möglich, gemeinwirtschaftliche Verpflichtungen aufzuerlegen, wenn für die fragliche Verbindung bereits ein Vertrag über gemeinwirtschaftliche Verkehrsdienste geschlossen worden sei. Andernfalls bestuende nämlich die Gefahr, dass sich der vertraglich gebundene Wirtschaftsteilnehmer vom Markt zurückziehe, sobald er mit Wettbewerb von anderen Unternehmen konfrontiert werde, die keine gemeinwirtschaftlichen Verpflichtungen erfuellen müssten. Die Existenz ausreichender Dienstleistungen, die durch den Abschluss des Vertrages garantiert werden solle, könnte so gefährdet werden.

97. Die Ausführungen der Kommission weisen zu denen der französischen Regierung interessante Parallelen, aber auch einige erhebliche Abweichungen auf.

98. So führt die Kommission aus, ein Mitgliedstaat sei grundsätzlich nicht daran gehindert, generell gemeinwirtschaftliche Verpflichtungen aufzuerlegen - sei es in Form eines Meldesystems oder eines Genehmigungssystems - und für eine oder mehrere Linien, für die solche Verpflichtungen bestuenden, einen Vertrag über gemeinwirtschaftliche Verkehrsdienste zu schließen, um Dienstleistungen in ausreichendem Umfang zu gewährleisten.

99. Ebenso wie gemeinwirtschaftliche Verpflichtungen in transparenter und nicht diskriminierender Weise auferlegt werden müssten, ohne dass dabei ein Ermessensspielraum bestehen dürfe, müssten Verträge über gemeinwirtschaftliche Verkehrsdienste auf der Grundlage einer öffentlichen Ausschreibung geschlossen werden, die die Gleichbehandlung und die Chancengleichheit aller Wirtschaftsteilnehmer gewährleiste.

100. Daneben sei eine weitere Voraussetzung erforderlich. Die im Rahmen eines allgemeinen Systems auferlegten gemeinwirtschaftlichen Verpflichtungen müssten nämlich jedenfalls weniger einschneidend sein als die Verpflichtungen, die in einem Vertrag über gemeinwirtschaftliche Verkehrsdienste festgelegt würden, damit der Wettbewerb zwischen den Wirtschaftsteilnehmern nicht verfälscht werde.

101. Die Koexistenz eines Systems gemeinwirtschaftlicher Verpflichtungen und von Verträgen über gemeinwirtschaftliche Verkehrsdienste garantiere somit den Zugang aller Wirtschaftsteilnehmer zum Markt und hindere zugleich die Konkurrenten des vertraglich gebundenen Unternehmens daran, dieses dadurch zu schädigen, dass sie während der Touristensaison den Markt eroberten. Umgekehrt ermögliche es die Existenz verschiedener Wirtschaftsteilnehmer, den Umfang des dem Vertragspartner zu gewährenden finanziellen Ausgleichs zu verringern.

102. Schließlich sei ein System der Koexistenz von gemeinwirtschaftlichen Verpflichtungen und Verträgen über gemeinwirtschaftliche Verkehrsdienste jedenfalls einem System von Exklusivverträgen vorzuziehen, das zu einer mehrjährigen Abschottung des Marktes führe.

103. Die spanische Regierung ist der Ansicht, dass sich die Verträge über gemeinwirtschaftliche Verkehrsdienste und die gemeinwirtschaftlichen Verpflichtungen ergänzten. Deshalb spreche nichts dagegen, sie nebeneinander einzusetzen, auch wenn der Vertrag in Anbetracht des Kontexts der Liberalisierung, in dem er stehe, die Ausnahme bleiben müsse.

104. Der Vertrag gebe der Verwaltung größere Sicherheit hinsichtlich der Erbringung der gemeinwirtschaftlichen Dienstleistungen, vor allem weil er gegenseitige Rechte und Pflichten begründe oder der Verwaltung die Einbeziehung von Klauseln erlaube, die im Fall seiner Kündigung garantierten, dass die Leistungen bis zum Abschluss eines neuen Vertrages weiter erbracht würden.

105. Bei besonders wichtigen Verbindungen könne deshalb der Abschluss von Verträgen erforderlich sein, um Beständigkeit, Regelmäßigkeit und Qualität der Dienstleistung besser abzusichern.

106. Was ist von diesen Argumenten zu halten?

107. Auf den ersten Blick erweckt der Wortlaut von Artikel 4 Absatz 1 der Verordnung den Eindruck, dass es sich hier um eine Alternative handelt, da er vorsieht, dass ein Mitgliedstaat Verträge ... schließen oder ... entsprechende Verpflichtungen auferlegen" kann. Das Wort oder" könnte jedoch auch einbeziehend gemeint sein, so dass ein Zweifel bestehen bleibt.

108. Auch die Definition der Verträge über Verkehrsdienste aufgrund von Verpflichtungen des öffentlichen Dienstes" in Artikel 2 der Verordnung schafft keine absolute Gewissheit. Aus ihr geht hervor, dass ein solcher Vertrag geschlossen wird, um der Allgemeinheit ausreichende Verkehrsdienste zu bieten". Man kann daraus allenfalls schließen - wie es das vorlegende Gericht im Übrigen tut -, dass dann, wenn durch den Abschluss eines Vertrages ausreichende Dienstleistungen sichergestellt sind, ein zusätzlicher Eingriff der Behörden, z. B. durch Auferlegung gemeinwirtschaftlicher Verpflichtungen, nicht mehr erforderlich ist und deshalb eine ungerechtfertigte Beschränkung des freien Dienstleistungsverkehrs darstellen würde, der mit der Verordnung verwirklicht werden soll.

109. Aus der oben genannten Definition folgt jedoch nicht, dass die angebotenen Dienstleistungen schon deshalb ausreichend sind, weil ein Vertrag existiert. Für sich betrachtet schließt sie nicht aus, dass der Vertrag zu gemeinwirtschaftlichen Verpflichtungen hinzukommt, damit eine gleichzeitige Verwendung beider Instrumente ausreichende Dienstleistungen garantiert.

110. Diese Möglichkeit wird auch durch die Aufzählung in Artikel 2 Nummer 3 der Verordnung in gewissem Umfang gestützt, denn dort sind unter den möglichen Gegenständen des Vertrages zusätzliche Verkehrsdienste" aufgeführt. Aus diesem Blickwinkel wäre der Vertrag - wie die französische und die spanische Regierung sowie die Kommission mit den geschilderten Nuancen ausführen - neben den gemeinwirtschaftlichen Verpflichtungen ein zusätzliches Instrument zur Vervollständigung des Maßnahmenkatalogs, dessen Grundlage sie sind.

111. Schließlich kann zur Stützung dieser Argumentation die neunte Begründungserwägung der Verordnung angeführt werden, die lautet:

Die Auferlegung gemeinwirtschaftlicher Leistungen mit bestimmten Rechten und Pflichten für die betreffenden Reeder kann vertretbar sein, um ausreichende Liniendienste von, zwischen und nach Inseln sicherzustellen, sofern es dabei nicht zu Diskriminierungen aufgrund der Staatsangehörigkeit oder des Wohnsitzes kommt."

112. Man kann daraus ableiten, dass das vom Verordnungsgeber mit der Heranziehung des Begriffes der gemeinwirtschaftlichen Leistungen verfolgte Ziel darin besteht, ausreichende Dienstleistungen sicherzustellen, und dass die einzige Bedingung, die er insoweit stellt, das Fehlen von Diskriminierungen ist.

113. Dass es sich dabei um die einzige Bedingung handelt, scheint mir auch durch den Wortlaut von Artikel 4 bestätigt zu werden. In Absatz 1 dieses Artikels heißt es nämlich: Beim Abschluss von Verträgen über Verkehrsdienste aufgrund von Verpflichtungen des öffentlichen Dienstes ... haben die Mitgliedstaaten darauf zu achten, dass kein Gemeinschaftsreeder diskriminiert wird." Und Absatz 2 Unterabsatz 2 sieht Folgendes vor: Für die etwaige Gewährung eines Ausgleichs für solche Verpflichtungen kommen stets alle Gemeinschaftsreeder in Betracht."

114. Ich bin daher der Ansicht, dass gemeinwirtschaftliche Verpflichtungen und ein Vertrag nebeneinander bestehen können, sofern dies weder zu Diskriminierungen noch zu einer Verzerrung des Wettbewerbs zwischen den Reedern führt.

115. Dies bedeutet zunächst, dass ab dem Zeitpunkt, zu dem der Mitgliedstaat mit einem Reeder einen Vertrag geschlossen hat, der auf einer bestimmten Verbindung ausreichende Dienstleistungen garantiert und mit einer Subvention verbunden ist, Schifffahrtsunternehmen, die die gleiche Linie bedienen, keine gemeinwirtschaftlichen Verpflichtungen mehr auferlegt werden dürfen.

116. Es wäre mit anderen Worten nicht zulässig, allen Unternehmen gemeinwirtschaftliche Verpflichtungen in Bezug auf Beständigkeit, Regelmäßigkeit, Kapazität und Qualität des Verkehrs aufzuerlegen, wenn das einzige Unternehmen, mit dem ein Vertrag geschlossen wurde oder wird, für die gleichen Verpflichtungen einen finanziellen Ausgleich erhält.

117. Das Problem würde sich dagegen in anderer Weise stellen, wenn dem Unternehmen, mit dem ein Vertrag geschlossen wird, ein finanzieller Ausgleich für Dienstleistungen gewährt würde, die es zusätzlich zu den Leistungen erbringt, die allen Unternehmen als gemeinwirtschaftliche Verpflichtungen auferlegt wurden, z. B. zusätzliche Verbindungen in der Wintersaison.

118. Ein mit nur einem Unternehmen geschlossener Vertrag über bestimmte zusätzliche Leistungen dürfte aber nicht zu Subventionen führen, die diesem Unternehmen einen so großen finanziellen Vorteil verschafften, dass es seine gesamten Dienstleistungen zu einem Preis anbieten könnte, der es vor dem Wettbewerb der übrigen Wirtschaftsteilnehmer schützen würde (Quersubventionen).

119. Die gleichzeitige Anwendung beider Instrumente bei derselben Seeverbindung ist mit anderen Worten nur dann zulässig, wenn allen Unternehmen einschließlich des Vertragschließenden die gleichen gemeinwirtschaftlichen Verpflichtungen auferlegt werden und wenn letzterer daneben zusätzliche Pflichten übernimmt, für die er eine zu diesen Pflichten strikt proportionale Vergütung erhält. Diese Vergütung darf ihm keinen Wettbewerbsvorteil für seine gesamte Tätigkeit verschaffen.

120. Die Kommission hat den gleichen Gedanken so ausgedrückt, dass die im Rahmen eines allgemeinen Systems auferlegten gemeinwirtschaftlichen Verpflichtungen jedenfalls weniger einschneidend sein müssten als die Verpflichtungen, die in einem Vertrag über gemeinwirtschaftliche Verkehrsdienste festgelegt würden, damit der Wettbewerb zwischen den Wirtschaftsteilnehmern nicht verfälscht werde. Außerdem müssten gemeinwirtschaftliche Verpflichtungen in transparenter und nicht diskriminierender Weise auferlegt werden, ohne dass dabei ein Ermessensspielraum bestehen dürfe. Die Verträge über gemeinwirtschaftliche Verkehrsdienste müssten auf der Grundlage einer öffentlichen Ausschreibung geschlossen werden, die die Gleichbehandlung und die Chancengleichheit aller Wirtschaftsteilnehmer gewährleiste.

121. Ich schlage Ihnen deshalb vor, die dritte Frage wie folgt zu beantworten:

Artikel 4 Absatz 1 der Verordnung ist dahin auszulegen, dass auf ein und derselben Seeverkehrslinie oder -verbindung einigen Schifffahrtsunternehmen gemeinwirtschaftliche Verpflichtungen auferlegt werden dürfen und gleichzeitig mit einem anderen Unternehmen ein Vertrag über gemeinwirtschaftliche Verkehrsdienste im Sinne von Artikel 2 Nummer 3 der Verordnung geschlossen werden darf, sofern der Vertrag über gemeinwirtschaftliche Verkehrsdienste zusätzliche Pflichten neben den allen Unternehmen auferlegten gemeinwirtschaftlichen Verpflichtungen enthält und sofern der gewährte finanzielle Ausgleich zu diesen Pflichten proportional ist und daher nicht zu einer Wettbewerbsverzerrung zu Lasten der Unternehmen führen kann, mit denen kein solcher Vertrag geschlossen wurde.

Ergebnis

122. Ich schlage folgende Antworten auf die Fragen des Tribunal Supremo vor:

1. Artikel 1 und Artikel 4 Absatz 2 der Verordnung (EWG) Nr. 3577/92 des Rates vom 7. Dezember 1992 zur Anwendung des Grundsatzes des freien Dienstleistungsverkehrs auf den Seeverkehr in den Mitgliedstaaten (Seekabotage) sind dahin auszulegen, dass die Erbringung von Inselkabotagediensten durch Unternehmen, die Seeverkehrslinien betreiben, nur dann von einer vorherigen behördlichen Genehmigung abhängig gemacht werden darf, wenn der Mitgliedstaat nachweist,

- dass die gemeinwirtschaftliche Dienstleistung bei freiem Wettbewerb auf den genehmigungsbedürftigen Linien nicht in zufrieden stellender Weise erbracht würde;

- dass die Einhaltung der gemeinwirtschaftlichen Verpflichtungen durch die Wirtschaftsteilnehmer nur mittels eines Systems vorheriger Genehmigungen gewährleistet werden kann;

- dass die Voraussetzungen für die Erteilung der Genehmigung festgelegt, vorhersehbar, transparent und nicht diskriminierend sind;

- dass die Wirtschaftsteilnehmer, die die vom Mitgliedstaat festgelegten gemeinwirtschaftlichen Verpflichtungen erfuellen, automatisch eine Genehmigung erhalten.

2. Artikel 4 Absatz 2 der Verordnung Nr. 3577/92 hindert nicht daran, die Erteilung oder die Aufrechterhaltung der in der ersten Frage angesprochenen Genehmigung von der Voraussetzung abhängig zu machen, dass der Dienstleistende den Verpflichtungen in Bezug auf Steuern und Sozialabgaben nachgekommen ist, sofern diese Voraussetzung in nicht diskriminierender Weise angewandt wird.

3. Artikel 4 Absatz 1 der Verordnung Nr. 3577/92 ist dahin auszulegen, dass auf ein und derselben Seeverkehrslinie oder -verbindung einigen Schifffahrtsunternehmen gemeinwirtschaftliche Verpflichtungen auferlegt werden dürfen und gleichzeitig mit einem anderen Unternehmen ein Vertrag über gemeinwirtschaftliche Verkehrsdienste im Sinne von Artikel 2 Nummer 3 der Verordnung geschlossen werden darf, sofern der Vertrag über gemeinwirtschaftliche Verkehrsdienste zusätzliche Pflichten neben den allen Unternehmen auferlegten gemeinwirtschaftlichen Verpflichtungen enthält und sofern der gewährte finanzielle Ausgleich zu diesen Pflichten proportional ist und daher nicht zu einer Wettbewerbsverzerrung zu Lasten der Unternehmen führen kann, mit denen kein solcher Vertrag geschlossen wurde.