URTEIL DES GERICHTS (Erste Kammer)
16. Juni 2000
Rechtssache T-84/98
C
gegen
Rat der Europäischen Union
„Beamte — Anfechtungsklage — Invaliditätsausschuß — Versetzung in den Ruhestand — Verletzung wesentlicher Formvorschriften — Ermessensmißbrauch — Immaterieller Schaden“
Vollständiger Wortlaut in englischer Sprache II-497
Gegenstand:
Klage auf Aufhebung der Entscheidung Nr. 677/97 des Rates vom 11. Juli 1997, mit der die Klägerin wegen dauernder Vollinvalidität von Amts wegen in den Ruhestand versetzt wurde, und auf Verurteilung des Rates zum Ersatz des erlittenen materiellen und immateriellen Schadens.
Entscheidung:
Die Entscheidung Nr. 677/97 des Rates vom 11. Juli 1997, mit der die Klägerin wegen dauernder Vollinvalidität von Amts wegen in den Ruhestand versetzt wurde, wird aufgehoben. Der Rat wird verurteilt, an die Klägerin die Differenz zwischen den Bezügen, die sie vor ihrer Versetzung in den Ruhestand erhalten hat, und den ihr auf der Grundlage der angefochtenen Entscheidung bewilligten Bezügen sowie jeden anderen Betrag, den die Klägerin vor ihrer Versetzung in den Ruhestand erhalten hat, zuzüglich Zinsen in Höhe von 5,5 % p. a. zu zahlen. Der Rat wird verurteilt, an die Klägerin 2000000 BEF als Ersatz ihres immateriellen Schadens zuzüglich Zinsen in Höhe von 5,5 % p. a. bis zur tatsächlichen Zahlung zu zahlen. Im übrigen wird die Klage abgewiesen. Der Rat trägt die Kosten des Verfahrens.
Leitsätze
Beamte – Dienstunfähigkeit – Ärzteausschuß und Invaliditätsausschuß – Gerichtliche Kontrolle – Umfang – Grenzen
Beamte – Dienstunfähigkeit – Befassung des Invaliditätsausschusses – Strikt durch Artikel 59 des Statuts begrenzte Befugnis
(Beamtenstatut, Artikel 59)
Beamte – Klage – Klagegründe – Ermessensmißbrauch – Begriff
Beamte – Klage – Schadensersatzklage – Keine Wiedergutmachung des immateriellen Schadens durch die Aufhebung der rechtswidrigen Handlung – Entscheidung, mit der die dauernde Vollinvalidität eines Beamten festgestellt wird
(Beamtenstatut, Artikel 91)
Zweck der Vorschriften über den Ärzte- und den Invaliditätsausschuß ist es, die endgültige Beurteilung aller medizinischen Fragen medizinischen Sachverständigen zu übertragen. Die gerichtliche Kontrolle kann sich nicht auf die eigentlichen medizinischen Beurteilungen beziehen, die als endgültig anzusehen sind, wenn sie unter ordnungsgemäßen Bedingungen vorgenommen wurden. Dagegen kann sich die gerichtliche Kontrolle auf die Ordnungsmäßigkeit der Errichtung und der Arbeitsweise dieser Ausschüsse sowie auf die Ordnungsmäßigkeit der von ihnen abgegebenen Gutachten erstrecken. Insoweit kann das Gericht nachprüfen, ob das Gutachten eine Begründung enthält, anhand deren die Erwägungen, auf denen die in ihm enthaltenen Schlußfolgerungen beruhen, beurteilt werden können, und ob ein verständlicher Zusammenhang zwischen den in ihm enthaltenen medizinischen Feststellungen und den Schlußfolgerungen besteht, zu denen der Ausschuß gelangt.
(Randnr. 43)
Vgl. Gerichtshof. 10. Dezember 1987, Jänsch/Kommission, 277/84, Slg. 1987,4923, Randnr. 15; Gericht, 27. Februar 1992, Plug/Kommission, T-165/89, Slg. 1992, II-367, Randnr. 75; Gericht, 15. Dezember 1999, Nadone/Kommission, T-27/98, Slg. ÖD 1999, I-A-193 und II-1293, Randnr. 87
Nach Artikel 59 des Statuts kann die Anstellungsbehörde den Invaliditätsausschuß nur befassen, wenn der Krankheitsurlaub eines Beamten insgesamt zwölf Monate während eines Zeitraums von drei Jahren überschreitet, wenn der betroffene Beamte seiner Beurlaubung widerspricht, die aufgrund einer Untersuchung durch den Vertrauensarzt des Organs von Amts wegen erfolgt, oder wenn die Verwaltung den ärztlichen Bescheinigungen widerspricht, die der betroffene Beamte vorgelegt hat.
Angesichts der schwerwiegenden Folgen, die die Befassung des Invaliditätsausschusses für die berufliche Laufbahn eines Beamten haben kann, muß diese Befugnis der Anstellungsbehörde strikt begrenzt und ausdrücklich umschrieben sein. Würde man daher der Anstellungsbehörde ein Ermessen zugestehen, kraft dessen sie den Invaliditätsausschuß jederzeit aus anderen als den ausdrücklich in Artikel 59 des Statuts vorgesehenen Gründen befassen könnte, so stünde dies im Widerspruch zum Grundsatz der Rechtssicherheit, der den Geist dieses Artikels kennzeichnet, und liefe darauf hinaus, daß die Verfahrensgarantien, die dem betroffenen Beamten durch diesen Artikel eingeräumt werden, jede praktische Wirksamkeit verlören.
Diese Feststellung kann nicht dadurch entkräftet werden, daß Artikel 59 Absatz 1 Unterabsatz 4 des Statuts vorsieht, daß die Anstellungsbehörde den Invaliditätsausschuß befassen „kann“. Der Gebrauch des Verbs „kann“ ist hier so zu verstehen, daß die Verwaltung nicht verpflichtet ist, den Fall eines Beamten automatisch vor einen Invaliditätsausschuß zu bringen, wenn der Krankheitsurlaub des Beamten insgesamt zwölf Monate während eines Zeitraums von drei Jahren überschreitet.
(Randnrn. 66 bis 68)
Eine Entscheidung ist nur dann ermessensmißbräuchlich, wenn aufgrund objektiver, schlüssiger und übereinstimmender Indizien anzunehmen ist, daß sie zu anderen als den angegebenen Zwecken getroffen wurde.
(Randnr. 84)
Vgl. Gericht, 3. Juni 1997, H/Kommission, T-196/95, SLG. ÖD 1997, II-403, Randnr. 59
Die Aufhebung einer Handlung der Verwaltung kann als solche eine angemessene und grundsätzlich hinreichende Wiedergutmachung des immateriellen Schadens darstellen, den der Betroffene möglicherweise erlitten hat, insbesondere wenn die Handlung keine kränkende Beurteilung seiner Person enthält.
Der immaterielle Schaden, den ein Beamter aufgrund des Erlasses der Entscheidung erlitten hat, ihn von Amts wegen in den Ruhestand zu versetzen, kann jedoch nicht bereits durch die Aufhebung der Entscheidung wiedergutgemacht werden, die, sofern darin festgestellt wird, daß er dauernd voll dienstunfähig ist und die mit seinem Amt verbundenen Aufgaben nicht erfüllen kann, eine negative Beurteilung seiner Fähigkeiten enthält und somit seine Persönlichkeit und sein berufliches Ansehen schwerwiegend beeinträchtigt.
(Ranünr. 101)
Vgl. Gerichtshof. 7. Februar 1990, Culin/Kommission, C-343/87, Slg. 1990, I-225; Gericht. 25. Februar 1999. Giannini/Kommission, T-282/97 und T-57/98, Slg. ÖD 1999, I-A-33 und II-151, Randnr. 40