61996O0393

Beschluss des Präsidenten des Gerichtshofes vom 29. Januar 1997. - J. Antonissen gegen Kommission der Europäischen Gemeinschaften und Rat der Europäischen Union. - Rechtsmittel - In einem Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes erlassener Beschluß des Präsidenten des Gerichts erster Instanz - Zahlung eines Vorschusses - Vorläufiger Charakter. - Rechtssache C-393/96 P (R).

Sammlung der Rechtsprechung 1997 Seite I-00441


Leitsätze

Schlüsselwörter


1 Vorläufiger Rechtsschutz - Einstweilige Anordnungen - Vom Antragsteller nicht ausdrücklich begehrte Maßnahmen - Ermessen des Richters der einstweiligen Anordnung

(EG-Vertrag, Artikel 186)

2 Vorläufiger Rechtsschutz - Einstweilige Anordnungen - Voraussetzungen - Glaubhaftmachung der Notwendigkeit der beantragten Anordnung - Schwerer und nicht wiedergutzumachender Schaden - Ermessen des Richters der einstweiligen Anordnung

(EG-Vertrag, Artikel 186)

3 Vorläufiger Rechtsschutz - Einstweilige Anordnungen - Die ausservertragliche Haftung der Gemeinschaft betreffende Klage - Zahlung eines Vorschusses - Anspruch auf umfassenden und effektiven gerichtlichen Rechtsschutz - Zulässigkeit - Voraussetzungen - Abwägung sämtlicher betroffener Belange - Erlaß der Anordnung nur mit Einschränkung in Erwägung zu ziehen

(EG-Vertrag, Artikel 178, 186 und 215 Absatz 2)

Leitsätze


4 Die Zweckmässigkeit sowohl der Prüfung der Frage, ob andere als die vom Antragsteller ausdrücklich begehrten Maßnahmen in Betracht kommen, als auch der Durchführung einer mündlichen Anhörung der Parteien sind Gegenstand des Ermessens, über das der Richter der einstweiligen Anordnung im Rahmen der Prüfung eines Antrags auf einstweilige Anordnung verfügt.

Vom Richter der einstweiligen Anordnung kann nicht verlangt werden, daß er ausdrücklich auf alle tatsächlichen und rechtlichen Punkte eingeht, die möglicherweise im Laufe des Verfahrens der einstweiligen Anordnung erörtert worden sind; dies gilt erst recht für einstweilige Anordnungen, die im Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz nicht erwähnt werden.

5 Der Richter der einstweiligen Anordnung kann einstweilige Anordnungen treffen, wenn ihre Notwendigkeit in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht glaubhaft gemacht ist (Fumus boni iuris) und wenn feststeht, daß sie in dem Sinne dringlich sind, daß sie zur Verhinderung eines schweren und nicht wiedergutzumachenden Schadens für die Interessen des Antragstellers bereits vor der Entscheidung zur Hauptsache erlassen werden und ihre Wirkungen entfalten müssen. Sie müssen ausserdem in dem Sinne vorläufig sein, daß sie den Rechts- oder Tatsachenfragen des Rechtsstreits nicht vorgreifen und die Folgen der später zur Hauptsache zu treffenden Entscheidung nicht im voraus neutralisieren.

Im Rahmen dieser Gesamtprüfung verfügt der Richter der einstweiligen Anordnung über ein weites Ermessen bei der Bestimmung der Art und Weise, in der diese verschiedenen Voraussetzungen zu prüfen sind. Dieses Ermessen ist im Hinblick auf die Besonderheiten jedes Einzelfalls auszuüben.

6 Wenn der Erlaß einer Maßnahme, die in der (vorläufigen) Gewährung eines Teils des im Hauptsacheverfahren, das auf den Artikeln 178 und 215 Absatz 2 des Vertrages beruht, verlangten Schadensersatzes besteht und die zum Schutz der Interessen des Antragstellers bis zur Verkündung des Urteils zur Hauptsache dient, im Rahmen eines Antrags auf einstweilige Anordnung unabhängig von den Umständen des Einzelfalls völlig ausgeschlossen wäre, so würde dies gegen den Anspruch auf umfassenden und effektiven gerichtlichen Rechtsschutz verstossen, den der einzelne nach dem Gemeinschaftsrecht hat und der u. a. verlangt, daß dem einzelnen vorläufiger Schutz gewährt werden kann, wenn dies für die volle Wirksamkeit der künftigen Endentscheidung erforderlich ist. Es kann daher nicht von vornherein in genereller und abstrakter Weise ausgeschlossen werden, daß eine vorläufige Zahlung, auch wenn ihr Betrag dem des Klageantrags entspricht, zur Sicherstellung der Wirksamkeit des Urteils zur Hauptsache erforderlich ist und gegebenenfalls angesichts der widerstreitenden Interessen gerechtfertigt erscheint. Es obliegt insoweit dem mit einem derartigen Antrag befassten Richter der einstweiligen Anordnung, das Interesse des Antragstellers daran, eine Verschlechterung seiner finanziellen Lage zu verhindern, die zur unwiderruflichen Einstellung seiner Tätigkeit führen kann, gegen die Gefahr abzuwägen, daß die geforderten Beträge im Fall der Abweisung der Klage nicht zurückerlangt werden können.

Der Rückgriff auf eine derartige Anordnung, die mehr als andere - insbesondere bei einem späteren Konkurs des Antragstellers - faktisch unumkehrbare Folgen haben kann, muß zwar Einschränkungen unterliegen und darf nur in Fällen geschehen, in denen sich der Fumus boni iuris als besonders ausgeprägt und die Dringlichkeit der beantragten Anordnungen als unbestreitbar erweist. Dies ändert jedoch nichts daran, daß eine solche Beurteilung anhand der Umstände jedes Einzelfalls vorzunehmen ist. Gegebenenfalls hat der Richter der einstweiligen Anordnung, wenn er der Ansicht ist, daß die Abwägung zugunsten des Erlasses der beantragten Anordnung ausfällt, stets die Möglichkeit, ihren Erlaß an jede ihm erforderlich erscheinende Bedingung oder Sicherung zu knüpfen oder ihre Tragweite in anderer Weise zu verringern.