1 Wettbewerb - Gemeinschaftsvorschriften - Gleichzeitige Anwendung der Artikel 85 und 86 EG-Vertrag (jetzt Artikel 81 EG und 82 EG) - Zulässigkeit - Jeweilige Ziele der Artikel 85 und 86
(EG-Vertrag, Artikel 85 Absatz 1 Buchstaben a, b, d und e sowie 86 Buchstaben a bis d [jetzt Artikel 81 Absatz 1 Buchstaben a, b, d und e EG sowie 82 Buchstaben a bis d EG])
2 Wettbewerb - Beherrschende Stellung - Kollektive beherrschende Stellung - Begriff - Kollektive Einheit
(EG-Vertrag, Artikel 85 Absätze 1 und 3 sowie 86 [jetzt Artikel 81 Absätze 1 und 3 EG sowie 82 EG])
3 Wettbewerb - Beherrschende Stellung - Kollektive beherrschende Stellung - Begriff - Linienkonferenz
(EG-Vertrag, Artikel 86 [jetzt Artikel 82 EG]; Verordnung Nr. 4056/86 des Rates, Artikel 8 Absatz 2)
4 Handlungen der Organe - Entscheidung - Richtigkeit einer rechtlichen Würdigung - Zu berücksichtigende Faktoren
5 Verfahren - Vorbringen neuer Angriffs- und Verteidigungsmittel im Laufe des Verfahrens - Behandlung durch das Gericht - Modalitäten
(Verfahrensordnung des Gerichts, Artikel 48 § 2)
6 Verkehr - Seeverkehr - Wettbewerbsregeln - Beherrschende Stellung - Mißbrauch - Linienkonferenz - Einsatz von "Kampfschiffen"
(EG-Vertrag, Artikel 86 [jetzt Artikel 82 EG]; Verordnung Nr. 4056/86 des Rates)
7 Wettbewerb - Gemeinschaftsvorschriften - Gleichzeitige Anwendung der Artikel 85 und 86 des Vertrages (jetzt Artikel 81 EG und 82 EG) - Zulässigkeit - Anwendung von Artikel 86 auf eine gemäß Artikel 85 Absatz 3 freigestellte Praxis - Zulässigkeit
(EG-Vertrag, Artikel 85 und 86 [jetzt Artikel 81 EG und 82 EG])
8 Verkehr - Seeverkehr - Wettbewerbsregeln - Beherrschende Stellung - Mißbrauch - Absolutes Verbot
(EG-Vertrag, Artikel 86 [jetzt Artikel 82 EG]; Verordnung Nr. 4056/86 des Rates, Artikel 3 und 8 Absätze 1 und 2)
9 Wettbewerb - Verwaltungsverfahren - Wahrung der Verteidigungsrechte - Mitteilung der Beschwerdepunkte - Notwendiger Inhalt - Klare Angabe der Parteien, gegen die eine Geldbuße festgesetzt werden kann
(Verordnung Nr. 17 des Rates, Artikel 19 Absatz 1; Verordnung Nr. 99/63 der Kommission, Artikel 4)
1 Wie schon aus dem Wortlaut von Artikel 85 Absatz 1 Buchstaben a, b, d und e sowie von Artikel 86 Buchstaben a bis d des Vertrages (jetzt Artikel 81 Absatz 1 Buchstaben a, b, d und e EG sowie Artikel 82 Buchstaben a bis d EG) hervorgeht, kann dieselbe Praxis zu einer Zuwiderhandlung gegen beide Bestimmungen führen. Die gleichzeitige Anwendung der Artikel 85 und 86 des Vertrages kann daher nicht von vornherein ausgeschlossen werden. Die mit diesen beiden Bestimmungen jeweils verfolgten Ziele sind jedoch voneinander zu unterscheiden. Artikel 85 des Vertrages gilt für Vereinbarungen, Beschlüsse und aufeinander abgestimmte Verhaltensweisen, die den Handel zwischen Mitgliedstaaten spürbar zu beeinträchtigen geeignet sind, ohne daß es auf die Marktstellung der betreffenden Unternehmen ankommt. Artikel 86 des Vertrages betrifft dagegen das Verhalten eines oder mehrerer Wirtschaftsteilnehmer, das in der mißbräuchlichen Ausnutzung einer wirtschaftlichen Machtstellung besteht, die es dem betreffenden Wirtschaftsteilnehmer erlaubt, die Aufrechterhaltung eines wirksamen Wettbewerbs auf dem relevanten Markt zu verhindern, indem sie ihm die Möglichkeit verschafft, sich seinen Konkurrenten, seinen Abnehmern und letztlich den Verbrauchern gegenüber in nennenswertem Umfang unabhängig zu verhalten.
(vgl. Randnrn. 33-34)
2 Nach dem Wortlaut von Artikel 86 des Vertrages (jetzt Artikel 82 EG) kann eine beherrschende Stellung von mehreren "Unternehmen" eingenommen werden. Der Gerichtshof hat mehrfach entschieden, daß der Begriff "Unternehmen" in diesem den Wettbewerbsregeln gewidmeten Kapitel des Vertrages die wirtschaftliche Selbständigkeit der betreffenden Einheit voraussetzt. Folglich bedeutet der Begriff "mehrere Unternehmen" in Artikel 86 des Vertrages, daß eine beherrschende Stellung von zwei oder mehreren rechtlich voneinander unabhängigen wirtschaftlichen Einheiten eingenommen werden kann, sofern sie in wirtschaftlicher Hinsicht auf einem bestimmten Markt gemeinsam als kollektive Einheit auftreten oder handeln. In diesem Sinne ist der Begriff "kollektive beherrschende Stellung" zu verstehen.
Zur Feststellung des Vorliegens einer kollektiven Einheit müssen die wirtschaftlichen Bindungen oder Faktoren, die die betreffenden Unternehmen verbinden, geprüft werden. Dabei ist insbesondere zu prüfen, ob es zwischen diesen Unternehmen wirtschaftliche Bindungen gibt, die es ihnen erlauben, gemeinsam unabhängig von ihren Konkurrenten, ihren Abnehmern und den Verbrauchern zu handeln. Der bloße Umstand, daß zwei oder mehrere Unternehmen durch eine Vereinbarung, einen Beschluß von Unternehmensvereinigungen oder eine abgestimmte Verhaltensweise im Sinne von Artikel 85 Absatz 1 des Vertrages (jetzt Artikel 81 Absatz 1 EG) miteinander verbunden sind, kann für sich genommen keine ausreichende Grundlage für eine solche Feststellung sein. Dagegen kann die Durchführung einer Vereinbarung, eines Beschlusses oder einer abgestimmten Verhaltensweise (unabhängig davon, ob eine Freistellung gemäß Artikel 85 Absatz 3 des Vertrages vorliegt) unbestreitbar dazu führen, daß sich die betreffenden Unternehmen hinsichtlich ihres Verhaltens auf einem bestimmten Markt so gebunden haben, daß sie auf diesem Markt gegenüber ihren Konkurrenten, ihren Geschäftspartnern und den Verbrauchern als kollektive Einheit auftreten.
Eine kollektive beherrschende Stellung kann sich somit aus der Natur und dem Wortlaut einer Vereinbarung, der Art ihrer Durchführung und folglich aus den daraus erwachsenden Bindungen oder verbindenden Faktoren zwischen Unternehmen ergeben. Das Vorliegen einer Vereinbarung oder anderer rechtlicher Bindungen ist jedoch für die Feststellung einer kollektiven beherrschenden Stellung nicht unerläßlich; diese Feststellung kann sich aus anderen verbindenden Faktoren ergeben und hängt von einer wirtschaftlichen Beurteilung und insbesondere einer Beurteilung der Struktur des fraglichen Marktes ab.
Im übrigen bedarf es zur Feststellung, daß zwei oder mehrere Unternehmen eine kollektive beherrschende Stellung einnehmen, grundsätzlich einer wirtschaftlichen Beurteilung der Stellung der betreffenden Unternehmen auf dem relevanten Markt, bevor geprüft wird, ob diese Unternehmen ihre Marktstellung mißbräuchlich ausgenutzt haben.
(vgl. Randnrn. 35-36, 38, 41-45)
3 Aus den Bestimmungen der Verordnung Nr. 4056/86 über die Einzelheiten der Anwendung der Artikel 85 und 86 des Vertrages auf den Seeverkehr ergibt sich, daß eine Linienkonferenz, für die gemäß der Definition des Rates die in dieser Verordnung vorgesehene Gruppenfreistellung erteilt werden kann, nach ihrem Wesen und in Anbetracht ihrer Ziele als kollektive Einheit eingestuft werden kann, die sich auf dem Markt sowohl den Nutzern als auch den Konkurrenten als solche darstellt. Folgerichtig hat der Rat daher mit dieser Verordnung die nötigen Bestimmungen erlassen, um zu verhindern, daß eine Linienkonferenz mit Artikel 86 des Vertrages (jetzt Artikel 82 EG) unvereinbare Wirkungen hat. Damit ist keine Vorentscheidung über die Frage verbunden, ob eine Linienkonferenz in einer konkreten Situation eine beherrschende Stellung auf einem bestimmten Markt einnimmt oder diese Stellung gar mißbräuchlich ausnutzt. Wie aus dem Wortlaut von Artikel 8 Absatz 2 der Verordnung Nr. 4056/86 hervorgeht, ist es das Verhalten einer Konferenz in beherrschender Stellung, das mit Artikel 86 des Vertrages unvereinbare Wirkungen haben kann.
(vgl. Randnrn. 48-49)
4 Die Richtigkeit einer rechtlichen Würdigung der Kommission ist nicht nur im Licht der Tatsachen und Umstände zu beurteilen, die in dem dieser Würdigung gewidmeten Teil einer Entscheidung ausdrücklich erwähnt werden, sondern auch im Licht aller anderen unstreitigen Bestandteile dieser Entscheidung.
(vgl. Randnr. 56)
5 Das Gericht muß zwar grundsätzlich auf die im Rahmen eines Verfahrens vorgetragenen Argumente eingehen und eine Entscheidung über die Unzulässigkeit eines Antrags begründen, damit der Gerichtshof sie im Rahmen eines Rechtsmittels nachprüfen kann; von ihm kann jedoch nicht verlangt werden, daß es jedes Mal, wenn sich eine Partei im Laufe des Verfahrens auf ein neues Angriffs- oder Verteidigungsmittel beruft, das offensichtlich nicht den Anforderungen von Artikel 48 § 2 seiner Verfahrensordnung entspricht, in seinem Urteil entweder die Gründe erläutert, aus denen dieses Angriffs- oder Verteidigungsmittel unzulässig ist, oder es inhaltlich prüft. Die Tatsache, daß das Gericht nicht ausdrücklich über die Zulässigkeit eines Klagegrundes entscheidet, beeinträchtigt nicht die Lage des Klägers, wenn die Unzulässigkeit dieses Klagegrundes offenkundig ist.
(vgl. Randnrn. 106-108)
6 Es liegt ein Mißbrauch einer beherrschenden Stellung vor, wenn eine Linienkonferenz in beherrschender Stellung, die mehr als 90 % der Anteile am fraglichen Markt besitzt und nur einen einzigen Konkurrenten hat, eine selektive Senkung der Preise vornimmt, um sie gezielt denen eines Konkurrenten anzugleichen. Von dieser als Einsatz von "Kampfschiffen" bezeichneten Praxis profitiert die betreffende Linienkonferenz in doppelter Weise. Zum einen beseitigt sie das hauptsächliche oder sogar einzige Mittel, mit dem das Konkurrenzunternehmen zu ihr in Wettbewerb treten kann. Zum anderen erlaubt sie es der betreffenden Linienkonferenz, von den Nutzern für Dienste, die nicht von dieser Konkurrenz bedroht sind, weiterhin höhere Preise verlangen.
(vgl. Randnrn. 117, 119-120)
7 Die Anwendbarkeit von Artikel 85 des Vertrages (jetzt Artikel 81 EG) auf eine Vereinbarung steht der Anwendbarkeit von Artikel 86 des Vertrages (jetzt Artikel 82 EG) auf das Verhalten der Parteien dieser Vereinbarung nicht entgegen, sofern die Voraussetzungen für die Anwendung jeder Bestimmung vorliegen. Insbesondere beeinträchtigt eine Freistellung gemäß Artikel 85 Absatz 3 nicht die Anwendung von Artikel 86 des Vertrages. Die Tatsache, daß eine Praxis von Wirtschaftsteilnehmern, die einem wirksamen Wettbewerb ausgesetzt sind, zulässig ist, bedeutet daher nicht, daß die Anwendung der gleichen Praxis durch ein Unternehmen in beherrschender Stellung nie einen Mißbrauch dieser Stellung darstellen kann. Bei der Analyse des Verhaltens eines Unternehmens in beherrschender Stellung ist nämlich zu berücksichtigen, daß sich ein Unternehmen, das längere Zeit einen besonders hohen Marktanteil besitzt, in einer Machtposition befindet, die aus ihm für seine Geschäftspartner einen nicht zu umgehenden Partner macht.
(vgl. Randnrn. 130-132)
8 Artikel 8 Absatz 1 der Verordnung Nr. 4056/86 über die Einzelheiten der Anwendung der Artikel 85 und 86 des Vertrages auf den Seeverkehr verbietet ausdrücklich den Mißbrauch einer beherrschenden Stellung, ohne daß ein entsprechender vorheriger Beschluß erforderlich ist. Diese Formulierung ist eindeutig und steht voll und ganz im Einklang mit den die Wirksamkeit von Artikel 86 des Vertrages (jetzt Artikel 82 EG) und die Unmöglichkeit einer Freistellung betreffenden Grundsätzen. Denn für den Mißbrauch einer beherrschenden Stellung kann keine wie auch immer geartete Freistellung gewährt werden. Artikel 8 Absatz 2 der Verordnung, der vorsieht, daß die Kommission die Gruppenfreistellung zurückziehen kann, wenn sie zu der Feststellung gelangt, daß in einem Einzelfall das Verhalten von Linienkonferenzen, die gemäß Artikel 3 der Verordnung freigestellt sind, mit Artikel 86 des Vertrages unvereinbare Wirkungen hat, schränkt folglich die Befugnis der Kommission, wegen Verstoßes gegen Artikel 86 des Vertrages Geldbußen festzusetzen, nicht ein und kann sie auch nicht einschränken.
(vgl. Randnrn. 135-136)
9 In der Mitteilung der Beschwerdepunkte müssen alle wesentlichen Tatsachen, auf die sich die Kommission in diesem Stadium des Verfahrens zur Anwendung der Wettbewerbsregeln der Gemeinschaft stützt, klar angeführt werden. In der wichtigen Verfahrensgarantie, die die Mitteilung der Beschwerdepunkte darstellt, kommt ein tragender Grundsatz des Gemeinschaftsrechts zur Anwendung, der die Beachtung des Anspruchs auf rechtliches Gehör in allen Verfahren verlangt. Folglich muß die Kommission in der Mitteilung der Beschwerdepunkte eindeutig angeben, gegen welche Personen Geldbußen festgesetzt werden können.
Eine Mitteilung der Beschwerdepunkte, in der als Urheber einer Zuwiderhandlung nur eine kollektive Einheit genannt wird, unterrichtet die Unternehmen, aus denen diese Einheit besteht, nicht hinreichend darüber, daß gegen sie individuelle Geldbußen festgesetzt werden, falls die Zuwiderhandlung bejaht werden sollte. Die fehlende Rechtspersönlichkeit der kollektiven Einheit spielt insoweit keine Rolle. Eine so formulierte Mitteilung der Beschwerdepunkte reicht auch nicht aus, um die betreffenden Unternehmen darauf aufmerksam zu machen, daß sich die Höhe der festgesetzten Geldbußen nach einer Würdigung der Teilnahme jedes Unternehmens an dem als Zuwiderhandlung eingestuften Verhalten richten wird.
(vgl. Randnrn. 142-145)