Urteil des Gerichtshofes (Fünfte Kammer) vom 6. November 1997. - Reisebüro Binder GmbH gegen Finanzamt Stuttgart-Körperschaften. - Ersuchen um Vorabentscheidung: Bundesfinanzhof - Deutschland. - Sechste Mehrwertsteuerrichtlinie - Grenzüberschreitender Personenverkehr - Ort und Grundlage der Besteuerung der Beförderungsleistung. - Rechtssache C-116/96.
Sammlung der Rechtsprechung 1997 Seite I-06103
Leitsätze
Entscheidungsgründe
Kostenentscheidung
Tenor
Steuerrecht - Harmonisierung - Umsatzsteuern - Gemeinsames Mehrwertsteuersystem - Sechste Richtlinie - Dienstleistungen - Bestimmung des steuerlichen Anknüpfungspunkts - Grenzueberschreitende Personenbeförderung gegen einen Pauschalpreis - Aufteilung der Gesamtgegenleistung auf die Mitgliedstaaten nach dem Verhältnis der dort jeweils zurückgelegten Strecken - Andere Aufteilungskriterien - Ausschluß
(Richtlinie 77/388 des Rates, Artikel 9 Absatz 2 Buchstabe b)
Artikel 9 Absatz 2 Buchstabe b der Sechsten Richtlinie 77/388 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern ist dahin auszulegen, daß bei einer Leistung der grenzueberschreitenden Personenbeförderung gegen einen Pauschalpreis die Gesamtgegenleistung für diese Leistung zur Ermittlung des in jedem der betreffenden Mitgliedstaaten steuerbaren Teils der Beförderung unter Ausschluß anderer Aufteilungskriterien nach dem Verhältnis der dort jeweils zurückgelegten Strecken aufgeteilt werden muß.
1 Der Bundesfinanzhof hat mit Beschluß vom 8. Februar 1996, beim Gerichtshof eingegangen am 10. April 1996, gemäß Artikel 177 EG-Vertrag eine Frage nach der Auslegung des Artikels 9 Absatz 2 Buchstabe b der Sechsten Richtlinie 77/388/EWG des Rates vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern - Gemeinsames Mehrwertsteuersystem: einheitliche steuerpflichtige Bemessungsgrundlage (ABl. L 145, S. 1; nachstehend: Sechste Richtlinie) zur Vorabentscheidung vorgelegt.
2 Diese Frage stellt sich in einem Rechtsstreit zwischen der Reisebüro Binder GmbH (nachstehend: Binder GmbH) und dem Finanzamt Stuttgart-Körperschaften über die Ermittlung der Besteuerungsgrundlage für die Mehrwertsteuer für Beförderungsleistungen, die im Rahmen grenzueberschreitender Busreisen zu einem Pauschalpreis erbracht werden.
3 Artikel 9 der Sechsten Richtlinie bestimmt:
"(1) Als Ort einer Dienstleistung gilt der Ort, an dem der Dienstleistende den Sitz seiner wirtschaftlichen Tätigkeit oder eine feste Niederlassung hat, von wo aus die Dienstleistung erbracht wird, oder in Ermangelung eines solchen Sitzes oder einer solchen festen Niederlassung sein Wohnort oder sein üblicher Aufenthaltsort.
(2) Es gilt jedoch
...
b) als Ort einer Beförderungsleistung der Ort, an dem die Beförderung nach Maßgabe der zurückgelegten Beförderungsstrecke jeweils stattfindet;
..."
4 Nach Artikel 11 Teil A Absatz 1 Buchstabe a der Sechsten Richtlinie ist die Besteuerungsgrundlage im Inland gewöhnlich "alles, was den Wert der Gegenleistung bildet, die der Lieferer oder Dienstleistende für diese Umsätze vom Abnehmer oder Dienstleistungsempfänger oder von einem Dritten erhält oder erhalten soll, einschließlich der unmittelbar mit dem Preis dieser Umsätze zusammenhängenden Subventionen".
5 Aus dem Vorlagebeschluß ergibt sich, daß die für den Sachverhalt des Ausgangsverfahrens geltenden deutschen Rechtsvorschriften, die Artikel 9 Absatz 2 Buchstabe b und Artikel 11 Teil A Absatz 1 Buchstabe a der Sechsten Richtlinie entsprechen, im Umsatzsteuergesetz von 1980 (nachstehend: UStG 1980) enthalten sind.
6 In § 3a Absatz 2 Nr. 2 UStG 1980 heisst es: "Eine Beförderungsleistung wird dort ausgeführt, wo die Beförderung bewirkt wird. Erstreckt sich eine Beförderung nicht nur auf das Erhebungsgebiet, so fällt nur der Teil der Leistung unter dieses Gesetz, der auf das Erhebungsgebiet entfällt."
7 § 10 Absatz 1 UStG 1980 bestimmt: "Der Umsatz wird bei Lieferungen und sonstigen Leistungen ... nach dem Entgelt bemessen. Entgelt ist alles, was der Leistungsempfänger aufwendet, um die Leistungen zu erhalten, jedoch abzueglich der Umsatzsteuer."
8 Die Binder GmbH veranstaltet mit eigenen Fahrzeugen Busreisen zu Pauschalpreisen ins Ausland. Sie beantragte bei der deutschen Steuerbehörde, für die gebietsmässige Aufteilung der Besteuerungsgrundlage für die Mehrwertsteuer auf die Beförderungsleistung nicht nur die zurückgelegten Strecken, sondern auch die Dauer der Nutzung der Busse und des Aufenthalts der Reiseteilnehmer im Inland und im Ausland zu berücksichtigen. Da ihrem Antrag nicht entsprochen wurde, brachte sie den Streit vor das zuständige Finanzgericht und schließlich im Wege der Revision vor den Bundesfinanzhof.
9 Da der Bundesfinanzhof der Ansicht ist, daß dieser Rechtsstreit ein Problem der Auslegung der Sechsten Richtlinie aufwerfe, hat er beschlossen, dem Gerichtshof folgende Frage vorzulegen:
Ist Artikel 9 Absatz 2 Buchstabe b der Richtlinie 77/388/EWG dahin auszulegen, daß bei einer grenzueberschreitenden Personenbeförderung zur Ermittlung der Besteuerungsgrundlage für den auf das Inland entfallenden Beförderungsteil die Gesamtgegenleistung
a) stets nach dem Verhältnis der zurückgelegten Beförderungsstrecken aufgeteilt werden muß, so daß Stand- und Wartezeiten zwischen den Beförderungsteilen, z. B. bei Studienreisen, unberücksichtigt bleiben, oder
b) enthält die Vorschrift nur eine Regelung über den Ort der Beförderungsleistung, wonach lediglich dieser nach Maßgabe der zurückgelegten Strecken zu bestimmen ist mit der Folge, daß die Mitgliedstaaten frei sind zu regeln, nach welchem Maßstab eine Gesamtgegenleistung auf den steuerbaren und den nichtsteuerbaren Teil der Beförderung aufzuteilen ist?
10 Die Binder GmbH und die Kommission vertreten im wesentlichen die Auffassung, daß Artikel 9 Absatz 2 Buchstabe b der Sechsten Richtlinie nur den Ort einer Beförderungsleistung regele und für die gebietsmässige Aufteilung der Gegenleistung für diese Leistung andere Gesichtspunkte als die zurückgelegte Strecke, wie z. B. die Verweildauer an den verschiedenen Orten der Mehrwertsteuerpflicht, berücksichtigt werden könnten. Denn ein beträchtlicher Teil der von einem Unternehmen zu tragenden Kosten hänge in erster Linie nicht von der zurückgelegten Strecke, sondern von der für die Erbringung der Beförderungsleistung aufgewendeten Zeit ab.
11 Nach Auffassung der deutschen Regierung schreibt die fragliche Bestimmung den Mitgliedstaaten dagegen vor, die Gesamtgegenleistung für die Beförderungsleistung stets nach dem Verhältnis der zurückgelegten Strecken aufzuteilen. Artikel 9 Absatz 2 Buchstabe b der Sechsten Richtlinie, der dem besonderen Charakter der Beförderungsleistungen Rechnung trage, für die die Verweildauer nicht entscheidend sei, würde ausgehöhlt, wenn der betreffende Mitgliedstaat zur Ermittlung der Besteuerungsgrundlage für die Mehrwertsteuer eine andere Aufteilungsmethode wählen könnte.
12 Wie der Gerichtshof in seinem Urteil vom 4. Juli 1985 in der Rechtssache 168/84 (Berkholz, Slg. 1985, 2251, Randnr. 14) ausgeführt hat, enthält Artikel 9 der Sechsten Richtlinie, der durch eine einheitliche Festlegung des steuerlichen Anknüpfungspunkts bei Dienstleistungen den jeweiligen Geltungsbereich des nationalen Mehrwertsteuerrechts angemessen abgrenzen soll, insoweit in Absatz 1 eine allgemeine Regel und in Absatz 2 eine Reihe besonderer Anknüpfungspunkte. Durch diese Bestimmungen sollen insbesondere Kompetenzkonflikte zwischen Mitgliedstaaten verhindert werden, die zu einer Doppelbesteuerung führen könnten.
13 So ist nach Artikel 9 Absatz 2 Buchstabe b bei Beförderungsleistungen der Ort ihrer Bewirkung und damit der Steuerpflicht der Ort, an dem die Beförderung nach Maßgabe der zurückgelegten Beförderungsstrecke jeweils stattfindet. Wie der Gerichtshof im Urteil vom 23. Januar 1986 in der Rechtssache 283/84 (Trans Tirreno Expreß, Slg. 1986, 231, Randnr. 17) entschieden hat, ist diese Ausnahme von der allgemeinen Regel des Absatzes 1 deshalb geboten, weil für den Beförderer der Sitz seiner wirtschaftlichen Tätigkeit keine sinnvolle Anknüpfung für die Bestimmung der örtlichen Zuständigkeit im Hinblick auf die Besteuerung darstellt. Denn schon die Art der Bewirkung dieser spezifischen Dienstleistung der Beförderung, die sich auf das Gebiet mehrerer Mitgliedstaaten erstrecken kann, erfordert ein anderes Kriterium, das im wesentlichen eine Abgrenzung der jeweiligen Kompetenzen der einzelnen Mitgliedstaaten für die Zwecke der Besteuerung erlauben muß.
14 Diese besondere Anknüpfungsregelung für Beförderungsleistungen, die von der in Artikel 9 Absatz 1 der Sechsten Richtlinie vorgesehenen Regelung zur Bestimmung des Ortes einer Dienstleistung abweicht, soll daher gewährleisten, daß jeder Mitgliedstaat Beförderungsleistungen für die Teilstrecken besteuert, die in seinem Gebiet zurückgelegt werden (Urteile vom 13. März 1990 in der Rechtssache C-30/89, Kommission/Frankreich, Slg. 1990, I-691, Randnr. 16, und vom 23. Mai 1996 in der Rechtssache C-331/94, Kommission/Griechenland, Slg. 1996, I-2675, Randnr. 10).
15 Diese Regelung hat zwar auf die Art und Weise der Ermittlung der Besteuerungsgrundlage für eine Beförderungsleistung, die entsprechend den allgemeinen Kriterien des Artikels 11 Teil A Absatz 1 Buchstabe a erfolgt, grundsätzlich keinen Einfluß, wirkt sich aber zwangsläufig auf die Aufteilung aus, die unter den Mitgliedstaaten, in denen die Leistung stattgefunden hat, vorzunehmen ist, wenn die Besteuerungsgrundlage pauschal ermittelt wird. Die Bestimmung des Ortes der Beförderungsleistung nach dem Ort, an dem die Beförderung nach Maßgabe der zurückgelegten Beförderungsstrecke jeweils stattfindet, bedeutet, daß die Aufteilung auf die verschiedenen Leistungsorte nach diesem besonderen Kriterium erfolgt.
16 Die gegenteilige Auffassung würde dazu führen, daß diesem Kriterium jede Wirksamkeit genommen würde und die Gefahr bestuende, daß es für ein und dieselbe Leistung, für die die gesamte Besteuerungsgrundlage ohne besondere Schwierigkeit gemäß Artikel 11 Teil A Absatz 1 Buchstabe a der Sechsten Richtlinie ermittelt werden kann, zu einer Ungewißheit wegen der Anwendung verschiedener Methoden zur Aufteilung dieser genannten Grundlage auf die Mitgliedstaaten kommen könnte. Diese Ungewißheit könnte die Steuerpflichtigen zudem dazu veranlassen, die nach Maßgabe der verschiedenen Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten für sie jeweils günstigste Berechnungsweise zu wählen, so daß die Aufteilung möglicherweise nicht nach einer auf einfachen und objektiven Kriterien beruhenden Methode erfolgt.
17 Wenn, wie im Ausgangsverfahren, die Ermittlung der Gesamtgegenleistung für die Beförderungsleistung unstreitig ist und nur über die Aufteilung dieser Gegenleistung auf die Mitgliedstaaten, in denen die Dienstleistung erfolgt ist, gestritten wird, gebietet es daher das besondere Kriterium des Artikels 9 Absatz 2 Buchstabe b der Sechsten Richtlinie, diese Aufteilung nach dem Verhältnis der in jedem der betroffenen Mitgliedstaaten zurückgelegten Strecke vorzunehmen.
18 Somit ist auf die Vorabentscheidungsfrage zu antworten, daß Artikel 9 Absatz 2 Buchstabe b der Sechsten Richtlinie dahin auszulegen ist, daß bei einer Leistung der grenzueberschreitenden Personenbeförderung gegen einen Pauschalpreis die Gesamtgegenleistung für diese Leistung zur Ermittlung des in jedem der betreffenden Mitgliedstaaten steuerbaren Teils der Beförderung nach dem Verhältnis der dort jeweils zurückgelegten Strecken aufgeteilt werden muß.
Kosten
19 Die Auslagen der deutschen Regierung und der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, die vor dem Gerichtshof Erklärungen abgegeben haben, sind nicht erstattungsfähig. Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts.
Aus diesen Gründen
hat
DER GERICHTSHOF
(Fünfte Kammer)
auf die ihm vom Bundesfinanzhof mit Beschluß vom 8. Februar 1996 vorgelegte Frage für Recht erkannt:
Artikel 9 Absatz 2 Buchstabe b der Sechsten Richtlinie 77/388/EWG des Rates vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern - Gemeinsames Mehrwertsteuersystem: einheitliche steuerpflichtige Bemessungsgrundlage ist dahin auszulegen, daß bei einer Leistung der grenzueberschreitenden Personenbeförderung gegen einen Pauschalpreis die Gesamtgegenleistung für diese Leistung zur Ermittlung des in jedem der betreffenden Mitgliedstaaten steuerbaren Teils der Beförderung nach dem Verhältnis der dort jeweils zurückgelegten Strecken aufgeteilt werden muß.