Urteil des Gerichtshofes (Sechste Kammer) vom 5. Juni 1997. - VT4 Ltd gegen Flämische Gemeinschaft. - Ersuchen um Vorabentscheidung: Raad van State - Belgien. - Freier Dienstleistungsverkehr - Fernsehtätigkeit - Niederlassung - Umgehung des nationalen Rechts. - Rechtssache C-56/96.
Sammlung der Rechtsprechung 1997 Seite I-03143
Leitsätze
Entscheidungsgründe
Kostenentscheidung
Tenor
Freier Dienstleistungsverkehr - Ausstrahlung von Fernsehsendungen - Richtlinie 89/552 - Fernsehveranstalter, der der Rechtshoheit eines Mitgliedstaats unterliegt - Feststellungskriterium - Niederlassung - In mehreren Mitgliedstaaten niedergelassener Fernsehveranstalter
(Richtlinie 89/552 des Rates, Artikel 2 Absatz 1)
Artikel 2 Absatz 1 der Richtlinie 89/552 zur Koordinierung bestimmter Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Ausübung der Fernsehtätigkeit ist dahin auszulegen, daß ein Fernsehveranstalter der Rechtshoheit des Mitgliedstaats unterworfen ist, in dem er niedergelassen ist.
Zwar definiert die Richtlinie die Wendung "[der] Rechtshoheit [eines Mitgliedstaats] unterworfene Fernsehveranstalter" nicht ausdrücklich, aus dem Wortlaut der genannten Bestimmung ergibt sich jedoch, daß der Begriff der Rechtshoheit eines Mitgliedstaats notwendig eine Zuständigkeit ratione personä gegenüber den Fernsehveranstaltern umfasst, die nur auf deren Einbindung in die Rechtsordnung dieses Staates gestützt werden kann, was sich im wesentlichen mit dem Begriff der Niederlassung im Sinne von Artikel 59 Absatz 1 des Vertrages deckt, der nach seinem Wortlaut voraussetzt, daß der Erbringer und der Empfänger einer Dienstleistung in zwei verschiedenen Mitgliedstaaten "ansässig" sind.
Ist ein Fernsehveranstalter in mehr als einem Mitgliedstaat niedergelassen, so ist er der Rechtshoheit des Mitgliedstaats unterworfen, in dessen Gebiet er den Mittelpunkt seiner Tätigkeiten hat und wo insbesondere die Entscheidungen über die Programmpolitik und die endgültige Zusammenstellung der zu sendenden Programme getroffen werden.
1 Der belgische Raad van State hat mit Urteil vom 14. Februar 1996, beim Gerichtshof eingegangen am 26. Februar 1996, gemäß Artikel 177 EG-Vertrag eine Frage nach der Auslegung des Artikels 2 der Richtlinie 89/552/EWG des Rates vom 3. Oktober 1989 zur Koordinierung bestimmter Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Ausübung der Fernsehtätigkeit (ABl. L 298, S. 23; im folgenden: Richtlinie) zur Vorabentscheidung vorgelegt.
2 Diese Frage stellt sich im Rahmen einer Klage der VT4 Ltd (im folgenden: VT4) auf Nichtigerklärung des Erlasses des flämischen Ministers für Kultur und Brüsseler Angelegenheiten vom 16. Januar 1995 (im folgenden: Erlaß), durch den die Aufnahme des VT4-Fernsehprogramms in das Kabelrundfunknetz abgelehnt wurde.
3 In Artikel 2 der Richtlinie, der zum Kapitel II "Allgemeine Bestimmungen" gehört, heisst es:
"(1) Jeder Mitgliedstaat sorgt dafür, daß alle Fernsehsendungen, die
- von seiner Rechtshoheit unterworfenen Fernsehveranstaltern gesendet werden ...
- ...
dem Recht entsprechen, das auf für die Allgemeinheit bestimmte Sendungen [in diesem Mitgliedstaat] anwendbar ist.
(2) Die Mitgliedstaaten gewährleisten den freien Empfang und behindern nicht die Weiterverbreitung von Fernsehsendungen aus anderen Mitgliedstaaten in ihrem Hoheitsgebiet aus Gründen, die in Bereiche fallen, die mit dieser Richtlinie koordiniert sind ..."
4 Aus den Akten des Ausgangsverfahrens geht hervor, daß die Vlaamse Televisie Maatschappij NV (im folgenden: VTM) in der Flämischen Gemeinschaft das Monopol sowohl für das kommerzielle Fernsehen als auch für die Fernsehwerbung innehat, und zwar aufgrund von zwei Dekreten der Flämischen Exekutive vom 28. Januar 1987 betreffend namentlich die Zulassung privater Fernsehveranstalter (Belgisch Staatsblad vom 19. März 1987) und vom 12. Juni 1991 zur Regelung der Werbung und des Sponsoring im Rundfunk und im Fernsehen (Belgisch Staatsblad vom 14. August 1991; im folgenden: die Dekrete der Flämischen Exekutive).
5 Nach Artikel 10 § 1 Nummer 2 des Dekrets der Flämischen Exekutive vom 4. Mai 1994 über die Kabelnetze und die Genehmigung der Einrichtung und Nutzung dieser Netze und über die Förderung der Ausstrahlung und der Produktion von Fernsehprogrammen (Belgisch Staatsblad vom 4. Juni 1994; im folgenden: Kabeldekret) müssen die Kabelgesellschaften die Programme der VTM, der einzigen durch die Flämische Exekutive zugelassenen privaten Gesellschaft, gleichzeitig und vollständig senden.
6 Artikel 10 § 2 des Kabeldekrets bestimmt:
"Unbeschadet der Bestimmungen des § 1 kann die Kabelgesellschaft folgende Programme in ihrem Kabelrundfunk- oder Kabelfernsehnetz weiterverbreiten:
...
4º Die Rundfunk- und Fernsehprogramme der von der Regierung eines anderen Mitgliedstaats der Europäischen Union als Belgien zugelassenen Veranstalter, wenn der betreffende Veranstalter in dem fraglichen Mitgliedstaat der Aufsicht unterliegt, die über die Veranstalter ausgeuebt wird, deren Sendungen für die Allgemeinheit in diesem Mitgliedstaat bestimmt sind, wenn sich diese Aufsicht auch tatsächlich auf die Einhaltung des europäischen Rechts, insbesondere des Urheberrechts und benachbarter Rechte und der internationalen Verpflichtungen der Europäischen Union erstreckt und wenn der betreffende Veranstalter und die von ihm verbreiteten Programme keine Gefahr für die öffentliche Ordnung, die guten Sitten und die öffentliche Sicherheit in der Flämischen Gemeinschaft bilden;
..."
7 Die VT4, die ihren Sitz in London hat, ist eine Gesellschaft englischen Rechts, deren Haupttätigkeit die Ausstrahlung von Rundfunk- und Fernsehprogrammen ist. Die Gesellschaft luxemburgischen Rechts Scandinavian Broadcasting Systems SA (SBS) ist die einzige Aktionärin der VT4. Die britischen Behörden haben dieser letzteren eine "non-domestic satellite licence" erteilt.
8 Die Programme der VT4 sind für das flämische Publikum bestimmt. Sie sind entweder in niederländischer Sprache aufgenommen oder mit niederländischen Untertiteln versehen. Das Fernsehsignal wird vom Gebiet des Vereinigten Königreichs zum Satelliten gesendet. Die VT4 verfügt in Nossegem (einer Ortschaft im flämischen Teil Belgiens) über eine, wie sie es nennt, "Zweigstelle", die Kontakte mit Werbetreibenden und Produktionsbetrieben hält. An diesem Ort werden auch die Informationen für die Fernsehnachrichten gesammelt.
9 Der flämische Minister für Kultur und Brüsseler Angelegenheiten lehnte durch den Erlaß die Aufnahme des Fernsehprogramms der VT4 in das Kabelrundfunknetz ab. Diese Entscheidung wurde im wesentlichen auf zwei Gründe gestützt. Erstens falle die VT4 nicht in den Anwendungsbereich des Artikels 10 § 1 Nummer 2 des Kabeldekrets, da sie nicht als privater Fernsehveranstalter, dessen Sendungen für die gesamte Flämische Gemeinschaft bestimmt seien, zugelassen sei. Der einzige zugelassene Veranstalter sei nämlich die VTM. Auch könne die VT4 nicht als ein von einem Mitgliedstaat zugelassener Fernsehveranstalter angesehen werden, denn sie sei in Wirklichkeit ein flämischer Veranstalter, der sich in einem anderen Mitgliedstaat niedergelassen habe, um sich der Anwendung der Rechtsvorschriften der Flämischen Gemeinschaft zu entziehen. Selbst wenn die VT4 ein britischer Sender wäre, würde dies zur Erfuellung der Voraussetzungen des Artikels 10 § 2 Nummer 4 des Kabeldekrets nicht ausreichen, namentlich der Voraussetzung, daß eine tatsächliche Kontrolle der Einhaltung des Gemeinschaftsrechts ausgeuebt werden müsse.
10 Am 24. Januar 1995 setzte der belgische Raad van State auf Antrag der VT4 die Anwendung des Erlasses aus. Er führte aus, daß das zur Stützung des Antrags auf Nichtigerklärung vorgebrachte Argument der Verletzung des Artikels 2 Absatz 2 der Richtlinie hinreichend schwer wiege und daß die Voraussetzung eines schweren Schadens erfuellt sei. Daraufhin konnte die VT4 ihr Programm vom 1. Februar 1995 an im Kabelrundfunknetz in Flandern und in Brüssel ausstrahlen. Der belgische Raad van State bestätigte sodann durch Urteil vom 2. März 1995 die angeordnete Aussetzung, so daß das Programm der VT4 bis zur Entscheidung des belgischen Raad van State in der Hauptsache weiter über Kabel ausgestrahlt werden konnte.
11 In der Verhandlung vor dem vorlegenden Gericht wurde auf den Vorschlag zur Änderung der Richtlinie hingewiesen, den die Kommission am 22. März 1995 angenommen (ABl. C 185, S. 4) und dem Rat und dem Europäischen Parlament am 31. Mai 1995 zugleich mit dem Bericht über die Anwendung der Richtlinie (KOM[95]86 endg. 95/0074 [COD]) vorgelegt hat. Es stellte sich die Frage, ob diese Texte sowie die vorläufigen Ergebnisse der nachfolgenden Verhandlungen im Rat Auswirkungen auf die Beurteilung der Rechtmässigkeit des Erlasses haben konnten.
12 Unter diesen Umständen hat das vorlegende Gericht vor einer Entscheidung zur Hauptsache beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Frage vorzulegen:
Durften zur Zeit des Erlasses der angefochtenen Entscheidung für die Auslegung von Artikel 2 der Richtlinie 89/552/EWG des Rates der Europäischen Gemeinschaften vom 3. Oktober 1989 im Hinblick auf ihren persönlichen Geltungsbereich der vorgenannte Bericht und der Vorschlag der Kommission der Europäischen Gemeinschaften vom 31. Mai 1995 sowie der vorgenannte, vom Ministerrat der Europäischen Gemeinschaften am 20. November 1995 vorläufig angenommene Text berücksichtigt werden? Falls ja, welches ist die diesen verschiedenen Texten gemeinsame, für die Auslegung verbindliche Bedeutung?
13 Aus den Akten des Ausgangsverfahrens ergibt sich, daß das vorlegende Gericht mit dieser Frage, die vor Erlaß des Urteils des Gerichtshofes vom 10. September 1996 in der Rechtssache C-222/94 (Kommission/Vereinigtes Königreich, Slg. 1996, I-4025) gestellt wurde, im wesentlichen wissen möchte, nach welchen Kriterien sich bestimmt, ob ein Fernsehveranstalter der Rechtshoheit eines Mitgliedstaats im Sinne des Artikels 2 Absatz 1 der Richtlinie unterworfen ist.
14 In dem genannten Urteil Kommission/Vereinigtes Königreich hatte der Gerichtshof die Auslegung des Begriffes "Rechtshoheit" in der Wendung "[der] ... Rechtshoheit [eines Mitgliedstaats] unterworfenen Fernsehveranstaltern" in Artikel 2 Absatz 1 erster Gedankenstrich der Richtlinie zu prüfen.
15 Wie der Gerichtshof in Randnummer 26 des Urteils festgestellt hat, definiert die Richtlinie die Wendung "seiner Rechtshoheit unterworfene Fernsehveranstalter" nicht ausdrücklich.
16 Der Gerichtshof hat zunächst den Wortlaut des Artikels 2 Absatz 1 der Richtlinie geprüft und daraus in Randnummer 40 hergeleitet, daß der im ersten Gedankenstrich dieser Vorschrift verwendete Begriff der Rechtshoheit eines Mitgliedstaats notwendig eine Zuständigkeit ratione personä gegenüber den Fernsehveranstaltern umfasst.
17 In Randnummer 42 des Urteils hat der Gerichtshof hinzugefügt, daß eine Zuständigkeit ratione personä eines Mitgliedstaats gegenüber einem Fernsehveranstalter nur auf dessen Einbindung in die Rechtsordnung dieses Staates gestützt werden kann, was sich im wesentlichen mit dem Begriff der Niederlassung im Sinne von Artikel 59 Absatz 1 EG-Vertrag deckt, der nach seinem Wortlaut voraussetzt, daß der Erbringer und der Empfänger einer Dienstleistung in zwei verschiedenen Mitgliedstaaten "ansässig" sind.
18 Daraus folgt, daß Artikel 2 Absatz 1 der Richtlinie dahin auszulegen ist, daß ein Fernsehveranstalter der Rechtshoheit des Mitgliedstaats unterworfen ist, in dem er niedergelassen ist.
19 Besitzt ein Fernsehveranstalter mehrere Niederlassungen, so ist er der Rechtshoheit des Mitgliedstaats unterworfen, in dem er den Mittelpunkt seiner Tätigkeiten hat. Das vorlegende Gericht hat somit in Anwendung dieses Kriteriums festzustellen, welcher Mitgliedstaat dafür zuständig ist, die Aufsicht über die Tätigkeiten der VT4 auszuüben, wobei es namentlich berücksichtigen muß, an welchem Ort die Entscheidungen über die Programmpolitik und die endgültige Zusammenstellung der zu sendenden Programme getroffen werden (vgl. Urteil Kommission/Vereinigtes Königreich, a. a. O., Randnr. 58).
20 Nach Auffassung der Flämischen Gemeinschaft genügt es für die Anwendbarkeit der Vorschriften über den freien Dienstleistungsverkehr nicht, daß der Leistungserbringer in einem anderen Mitgliedstaat niedergelassen sei; er dürfe vielmehr, wie sich aus dem Urteil des Gerichtshofes vom 30. November 1995 in der Rechtssache C-55/94 (Gebhard, Slg. 1995, I-4165) ergebe, nicht zugleich im Aufnahmemitgliedstaat niedergelassen sein.
21 Diese Argumentation verkennt, daß die Tätigkeit eines Fernsehveranstalters, die darin besteht, dauerhaft Dienstleistungen von dem Mitgliedstaat aus, in dem er im Sinne des Artikels 2 Absatz 1 der Richtlinie ansässig ist, zu erbringen, als solche nicht impliziert, daß im Gebiet des Aufnahmemitgliedstaats eine Tätigkeit ausgeuebt wird, deren vorläufiger oder dauerhafter Charakter zu prüfen ist, wie dies in dem genannten Urteil Kommission/Vereinigtes Königreich der Fall war.
22 Entgegen dem Vorbringen der VTM kann auch nicht allein aus dem Umstand, daß alle Sendungen und alle Werbemitteilungen ausschließlich für das flämische Publikum bestimmt sind, geschlossen werden, daß die VT4 nicht als im Vereinigten Königreich ansässig angesehen werden kann. Der Vertrag verbietet es einem Unternehmen, das keine Dienste in dem Mitgliedstaat anbietet, in dem es ansässig ist, nämlich nicht, die Dienstleistungsfreiheit auszuüben.
23 Aus diesen Erwägungen folgt, daß Artikel 2 Absatz 1 der Richtlinie dahin auszulegen ist, daß ein Fernsehveranstalter der Rechtshoheit des Mitgliedstaats unterworfen ist, in dem er niedergelassen ist. Ist ein Fernsehveranstalter in mehr als einem Mitgliedstaat niedergelassen, so ist er der Rechtshoheit des Mitgliedstaats unterworfen, in dessen Gebiet er den Mittelpunkt seiner Tätigkeiten hat und wo insbesondere die Entscheidungen über die Programmpolitik und die endgültige Zusammenstellung der zu sendenden Programme getroffen werden.
Kosten
24 Die Auslagen der deutschen und der französischen Regierung sowie der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, die vor dem Gerichtshof Erklärungen abgegeben haben, sind nicht erstattungsfähig. Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts.
Aus diesen Gründen
hat
DER GERICHTSHOF
(Sechste Kammer)
auf die ihm vom belgischen Raad van State mit Urteil vom 14. Februar 1996 vorgelegte Frage für Recht erkannt:
Artikel 2 Absatz 1 der Richtlinie 89/552/EWG des Rates vom 3. Oktober 1989 zur Koordinierung bestimmter Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Ausübung der Fernsehtätigkeit ist dahin auszulegen, daß ein Fernsehveranstalter der Rechtshoheit des Mitgliedstaats unterworfen ist, in dem er niedergelassen ist. Ist ein Fernsehveranstalter in mehr als einem Mitgliedstaat niedergelassen, so ist er der Rechtshoheit des Mitgliedstaats unterworfen, in dessen Gebiet er den Mittelpunkt seiner Tätigkeiten hat und wo insbesondere die Entscheidungen über die Programmpolitik und die endgültige Zusammenstellung der zu sendenden Programme getroffen werden.