61995C0383

Schlussanträge des Generalanwalts Jacobs vom 24. Oktober 1996. - Petrus Wilhelmus Rutten gegen Cross Medical Ltd. - Ersuchen um Vorabentscheidung: Hoge Raad - Niederlande. - Brüsseler Übereinkommen - Artikel 5 Nr. 1 - Gerichtsstand der Erfüllungsorts der vertraglichen Verpflichtung - Arbeitsvertrag - Ort, an dem der Arbeitnehmer gewöhnlich seine Arbeit verrichtet - Verrichtung der Arbeit in mehreren Länder. - Rechtssache C-383/95.

Sammlung der Rechtsprechung 1997 Seite I-00057


Schlußanträge des Generalanwalts


1 Der Hoge Raad der Nederlanden hat den Gerichtshof um eine Vorabentscheidung über die Auslegung von Artikel 5 Nummer 1 des Übereinkommens vom 27. September 1968 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen (im folgenden: Brüsseler Übereinkommen) in der Fassung des Übereinkommens vom 9. Oktober 1978 über den Beitritt des Königreichs Dänemark, Irlands und des Vereinigten Königreichs Großbritannien und Nordirland(1), des Übereinkommens vom 25. Oktober 1982 über den Beitritt der Republik Griechenland(2) und des Übereinkommens vom 26. Mai 1989 über den Beitritt des Königreichs Spanien und der Portugiesischen Republik (Übereinkommen von San Sebastián)(3) zu diesem Übereinkommen ersucht.

2 Artikel 5 Nummer 1 des Brüsseler Übereinkommens bestimmt, soweit er für den vorliegenden Fall erheblich ist, daß für Streitigkeiten aus einem Arbeitsvertrag auch das Gericht des Ortes zuständig ist, an dem der Arbeitnehmer gewöhnlich seine Arbeit verrichtet.

Sachverhalt

3 Herr Rutten (im folgenden: Kläger), ein in den Niederlanden wohnender niederländischer Staatsangehöriger, war ab 1. August 1989 bei der Croß Medical BV, einer niederländischen Tochtergesellschaft der Croß Medical Ltd (im folgenden: Beklagte), einer Gesellschaft englischen Rechts mit Sitz in London, beschäftigt. Sein Arbeitsvertrag enthielt Bestimmungen, nach denen für Rechtsstreitigkeiten aus dem Arbeitsverhältnis der Kantonrechter Amsterdam zuständig und hierauf niederländisches Recht anwendbar sein sollte. Am 31. Mai 1990 wurde das Arbeitsverhältnis des Klägers bei der Croß Medical BV wegen finanzieller Schwierigkeiten der Gesellschaft beendet; der Kläger schloß einen neuen Arbeitsvertrag mit der Beklagten. Dieser Vertrag enthielt überraschenderweise weder eine Rechtswahl noch eine Gerichtsstandsvereinbarung.

4 Der Kläger lebte weiterhin in den Niederlanden. Vor und nach dem Wechsel seines Arbeitgebers verrichtete er seine Arbeit zu etwa zwei Dritteln in den Niederlanden; das verbleibende Drittel entfiel wohl auf verschiedene andere Länder (es besteht eine geringfügige Unstimmigkeit in den Verfahrensakten, aber England, Schottland, Irland, die Vereinigten Staaten, Deutschland und Belgien werden mehrfach erwähnt). Vorbereitung und Planung seiner Reisen erledigte er von seinem niederländischen Büro aus (das sich anscheinend in seinem Haus befand), wo er alle wesentlichen Unterlagen aufbewahrte und wohin er nach jeder Reise zurückkehrte.

5 Die Beklagte kündigte dem Kläger zum 1. Oktober 1991. Der Kläger erhob beim Kantonrechter Amsterdam eine Klage wegen Gehaltsrückständen und Nebenforderungen. Die Beklagte hält die niederländischen Gerichte nicht für zuständig, da der Kläger seine Arbeit gewöhnlich im Vereinigten Königreich verrichtet habe. Der Kantonrechter erklärte sich für die Entscheidung der Rechtssache für zuständig; auf das dagegen eingelegte Rechtsmittel hob die Rechtbank Amsterdam das Urteil des Kantonrechter auf. Der Kläger legte beim Hoge Raad der Nederlanden Kassationsbeschwerde ein. Dieser hat folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:

1. Anhand welcher Kriterien ist zu beurteilen, ob ein Arbeitnehmer, der seine Arbeit im Rahmen eines Arbeitsvertrags in mehreren Staaten verrichtet, in einem dieser Staaten seine Arbeit gewöhnlich im Sinne von Artikel 5 Nummer 1 des Brüsseler Übereinkommens verrichtet?

2. Ist dafür ausschlaggebend oder zumindest von Bedeutung, ob er in einem dieser Staaten den grössten Teil seiner Arbeitszeit oder zumindest einen grösseren Teil seiner Arbeitszeit als in dem anderen Staat oder den anderen Staaten zubringt?

3. Ist dafür von Bedeutung, ob der Arbeitnehmer in einem dieser Staaten wohnt und ein Büro hat, in dem er seine ausserhalb dieses Staates verrichteten Tätigkeiten vorbereitet oder die Verwaltungsaufgaben erledigt und wohin er nach jeder im Zusammenhang mit seiner Arbeit stehenden Auslandsreise zurückkehrt?

Artikel 5 Nummer 1 des Brüsseler Übereinkommens

6 Artikel 5 Nummer 1 regelt eine Ausnahme von dem allgemeinen, in Artikel 2 verankerten Grundsatz der Zuständigkeit der Gerichte des Vertragsstaats, in dessen Hoheitsgebiet der Beklagte seinen Wohnsitz hat. Wie in dem Bericht von P. Jenard zu dem Übereinkommen ausgeführt wird, sind diese Ausnahmen durch die Erwägung gerechtfertigt, "daß eine enge Verbindung zwischen einem Rechtsstreit und dem für seine Entscheidung zuständigen Gericht besteht"(4).

7 Bis 1989 lautete Artikel 5 Nummer 1 wie folgt:

"Eine Person, die ihren Wohnsitz in dem Hoheitsgebiet eines Vertragsstaats hat, kann in einem anderen Vertragsstaat verklagt werden:

1. wenn ein Vertrag oder Ansprüche aus einem Vertrag den Gegenstand des Verfahrens bilden, vor dem Gericht des Ortes, an dem die Verpflichtung erfuellt worden ist oder zu erfuellen wäre"(5).

8 Durch das Abkommen von San Sebastián erhielt Artikel 5 Nummer 1 folgende Fassung:

"Eine Person, die ihren Wohnsitz in dem Hoheitsgebiet eines Vertragsstaats hat, kann in einem anderen Vertragsstaat verklagt werden:

1. wenn ein Vertrag oder Ansprüche aus einem Vertrag den Gegenstand des Verfahrens bilden, vor dem Gericht des Ortes, an dem die Verpflichtung erfuellt worden ist oder zu erfuellen wäre; wenn ein individueller Arbeitsvertrag oder Ansprüche aus einem individuellen Arbeitsvertrag den Gegenstand des Verfahrens bilden, vor dem Gericht des Ortes, an dem der Arbeitnehmer gewöhnlich seine Arbeit verrichtet; verrichtet der Arbeitnehmer seine Arbeit gewöhnlich nicht in ein und demselben Staat, so kann der Arbeitgeber auch vor dem Gericht des Ortes verklagt werden, in dem sich die Niederlassung, die den Arbeitnehmer eingestellt hat, befindet bzw. befand."

9 Im vorliegenden Fall geht es um die Bedeutung des Begriffes des "Ortes, an dem der Arbeitnehmer gewöhnlich seine Arbeit verrichtet". Die Bestimmung dieses Ortes in einem konkreten Fall ist eine vom nationalen Gericht zu beurteilende Tatsachenfrage; der Gerichtshof ist insbesondere um Anhaltspunkte dafür gebeten worden, nach welchen Kriterien diese Bestimmung vorzunehmen ist, wenn der Arbeitnehmer in mehr als einem Staat beschäftigt ist.

10 Der Gerichtshof hat noch nicht über den genannten Begriff entschieden. Angesichts des Fehlens von einschlägiger Rechtsprechung möchte ich kurz die Entstehungsgeschichte der Bestimmung darstellen. Die Zusammenhänge sind ausführlicher in meinen Schlussanträgen in der Rechtssache Mulox IBC erläutert(6).

11 Die Änderung des Artikels 5 Nummer 1 durch das Übereinkommen von San Sebastián ist in dem Bericht von M. de Almeida Cruz, M. Desantes Real und P. Jenard zu dem Übereinkommen erläutert(7). Es heisst dort: "Mit der gewählten Lösung wird versucht, unter Beachtung der vom Gerichtshof vorgegebenen Leitlinien in bezug auf den Schutz der in einer Vertragsbeziehung schwächeren Partei die im Lugano-Übereinkommen(8) vorgesehene Lösung zu verbessern, ohne jedoch zu weit von ihr abzuweichen"(9). In dem Bericht wird insbesondere auf das Urteil des Gerichtshofes in der Rechtssache Six Constructions(10) Bezug genommen, das nach der Unterzeichnung des Übereinkommens von Lugano, aber vor der Fertigstellung des Übereinkommens von San Sebastián erlassen wurde.

12 Die einschlägige Bestimmung des Übereinkommens von Lugano, ebenfalls Artikel 5 Nummer 1, lautet wie folgt:

"Eine Person, die ihren Wohnsitz in dem Hoheitsgebiet eines Vertragsstaats hat, kann in einem anderen Vertragsstaat verklagt werden,

1. wenn ein Vertrag oder Ansprüche aus einem Vertrag den Gegenstand des Verfahrens bilden, vor dem Gericht des Ortes, an dem die Verpflichtung erfuellt worden ist oder zu erfuellen wäre; wenn ein individueller Arbeitsvertrag oder Ansprüche aus einem individuellen Arbeitsvertrag den Gegenstand des Verfahrens bilden, vor dem Gericht des Ortes, an dem der Arbeitnehmer gewöhnlich seine Arbeit verrichtet; verrichtet der Arbeitnehmer seine Arbeit gewöhnlich nicht in ein und demselben Staat, vor dem Gericht des Ortes, an dem sich die Niederlassung befindet, die den Arbeitnehmer eingestellt hat."

13 Der einzige Unterschied zwischen Artikel 5 Nummer 1 des Übereinkommens von Lugano und Artikel 5 Nummer 1 des Brüsseler Übereinkommens in der Fassung des Übereinkommens von San Sebastián besteht darin, daß im Brüsseler Übereinkommen klargestellt wird, daß die Möglichkeit, am Ort der Niederlassung zu klagen, die den Arbeitnehmer eingestellt hat (wenn dieser seine Arbeit gewöhnlich nicht in ein und demselben Staat verrichtet), nur für den Arbeitnehmer besteht. Dies ist die in dem Bericht zu dem Übereinkommen von San Sebastián erwähnte Verbesserung beim Schutz der sozial schwächeren Vertragspartei. Sie wurde veranlasst durch das Urteil Six Constructions, in dem der Gerichtshof darauf hingewiesen hat, daß sich das Übereinkommen von Lugano zum Nachteil der sozial schwächeren Partei des Arbeitsvertrags auswirken könne, da danach das Gericht am Ort des Arbeitgebers auch dann zuständig sei, wenn dieser Kläger sei(11).

14 Artikel 5 Nummer 1 des Übereinkommens von Lugano sollte offensichtlich die Urteile des Gerichtshofes in den Rechtssachen Ivenel(12) und Shenavai(13) berücksichtigen (vgl. Bericht zu dem Übereinkommen von San Sebastián, Randnr. 23a) und zugleich mit dem Übereinkommen von Rom über das auf vertragliche Schuldverhältnisse anzuwendende Recht(14) im Einklang stehen (vgl. Bericht von P. Jenard und G. Möller zu dem Übereinkommen von Lugano(15), Randnrn. 37 bis 40).

15 Angesichts des Fehlens einer spezifischen Bestimmung für Arbeitsverträge in den Fassungen des Brüsseler Übereinkommens vor 1989 hat der Gerichtshof in dem Urteil Ivenel entschieden, daß bei einer Klage, die auf verschiedene Verpflichtungen aus einem Arbeitsvertrag gestützt sei, für die Anwendung von Artikel 5 Nummer 1 des Brüsseler Übereinkommens die für den Vertrag charakteristische Verpflichtung als maßgeblich anzusehen sei, die normalerweise in der Verrichtung der Arbeit bestehe(16). In dem Urteil Shenavai hat der Gerichtshof in einem Obiter dictum bemerkt, daß sich das angerufene Gericht, wenn die Klage auf mehrere Verpflichtungen gestützt werde, die sich aus einem einzigen Vertrag ergäben, zur Feststellung seiner Zuständigkeit an dem Grundgedanken orientieren werde, daß Nebensächliches der Hauptsache folge; bei mehreren streitigen Verpflichtungen entscheide mit anderen Worten die Hauptpflicht über die Zuständigkeit des Gerichts(17). Auf diesen beiden Erwägungen und auf Artikel 6 Absatz 2 des Übereinkommens von Rom beruht die in Artikel 5 Nummer 1 des Übereinkommens von Lugano (und damit auch in Artikel 5 Nummer 1 des Brüsseler Übereinkommens) enthaltene Bezugnahme auf den Ort, "an dem der Arbeitnehmer gewöhnlich seine Arbeit verrichtet".

16 In Artikel 6 Absatz 2 des Übereinkommens von Rom heisst es, daß mangels einer Rechtswahl auf Arbeitsverträge und Arbeitsverhältnisse anzuwenden sind:

"a) das Recht des Staates, in dem der Arbeitnehmer in Erfuellung des Vertrages gewöhnlich seine Arbeit verrichtet, selbst wenn er vorübergehend in einen anderen Staat entsandt ist, oder

b) das Recht des Staates, in dem sich die Niederlassung befindet, die den Arbeitnehmer eingestellt hat, sofern dieser seine Arbeit gewöhnlich nicht in ein und demselben Staat verrichtet,

es sei denn, daß sich aus der Gesamtheit der Umstände ergibt, daß der Arbeitsvertrag oder das Arbeitsverhältnis engere Verbindungen zu einem anderen Staat aufweist; in diesem Fall ist das Recht dieses anderen Staates anzuwenden".

17 Aus dem Bericht von M. Giuliano und P. Lagarde zu dem Übereinkommen von Rom(18) ergibt sich, daß bei der Abfassung von Artikel 6 berücksichtigt wurde, daß die Interessen der Parteien eines Arbeitsvertrags nicht auf der gleichen Ebene liegen und daß "jener Partei, die in diesem Zusammenhang sozial und wirtschaftlich als die schwächere anzusehen ist, ein angemessenerer Schutz" gewährt werden sollte(19).

18 Daß das Bestreben, der sozial schwächeren Partei einen angemessenen Schutz zu gewähren, ein bei der Auslegung von Artikel 5 Nummer 1 des Brüsseler Übereinkommens zu berücksichtigender Gesichtspunkt ist, hat der Gerichtshof für die vor 1989 geltende Fassung dieser Bestimmung in dem Urteil Ivenel bestätigt(20). Nach Erörterung der Entstehungsgeschichte der Bestimmung hat der Gerichtshof in diesem Urteil ferner festgestellt, daß Artikel 5 Nummer 1 bei Klagen aus Verträgen vorzugsweise die Zuständigkeit der Gerichte des Landes begründen wolle, das eine enge Verbindung zu dem Rechtsstreit habe, und daß diese Verbindung im Falle eines Arbeitsvertrags namentlich in dem auf diesen Vertrag anwendbaren Recht bestehe(21). Ich werde auf diese Punkte später zurückkommen.

Die Rechtssache Mulox IBC

19 Über die vor 1989 geltende Fassung von Artikel 5 Nummer 1 hatte der Gerichtshof erneut in der Rechtssache Mulox IBC(22) zu entscheiden, in der ein Arbeitnehmer seine Arbeit in mehreren Vertragsstaaten verrichtete. Obwohl sich das Urteil des Gerichtshofes auf die frühere Fassung bezieht, kann es meines Erachtens bei der Auslegung der geltenden Fassung herangezogen werden. Der Gerichtshof hat nämlich die vor 1989 geltende Fassung im Lichte seiner Urteile Ivenel und Shenavai ausgelegt, die, wie ausgeführt, wesentlichen Einfluß auf die im vorliegenden Fall auszulegende Fassung von 1989 gehabt haben.

20 Der Gerichtshof hat festgestellt, daß bei einem Arbeitsvertrag der Erfuellungsort für die maßgebliche Verpflichtung für die Anwendung des Artikels 5 Nummer 1 des Übereinkommens nicht anhand des nach den Kollisionsnormen des angerufenen Gerichts maßgeblichen nationalen Rechts, sondern vielmehr nach einheitlichen Kriterien zu ermitteln sei, die der Gerichtshof auf der Grundlage des Systems und der Zielsetzungen des Übereinkommens festzulegen habe(23).

21 Der Gerichtshof hat ferner auf seine Ausführungen in dem Urteil Ivenel hingewiesen, nach denen die Zielsetzung zu berücksichtigen ist, der sozial schwächeren Vertragspartei, d. h. in diesem Fall dem Arbeitnehmer, einen angemessenen Schutz zu gewährleisten. Nach diesem Urteil ist ein solcher angemessener Schutz am besten gewährleistet, wenn Streitigkeiten über einen Arbeitsvertrag in die Zuständigkeit der Gerichte des Ortes fallen, an dem der Arbeitnehmer seine Verpflichtungen gegenüber seinem Arbeitgeber erfuellt. An diesem Ort kann sich der Arbeitnehmer mit dem geringsten Kostenaufwand an die Gerichte wenden oder sich vor ihnen als Beklagter zur Wehr setzen(24).

22 Diese Auffassung entspricht der Ansicht, die ich in meinen Schlussanträgen in dieser Rechtssache vertreten habe, daß der Arbeitnehmer berechtigt sein sollte, seinen Arbeitgeber an dem Ort zu verklagen, an dem er arbeitet. Dies ist der natürliche Gerichtsstand für solche Auseinandersetzungen, und es wird in den meisten Fällen der passende Gerichtsstand für den Arbeitnehmer sein. Man sollte ihm die Klagemöglichkeit an diesem Ort nicht einfach deshalb vorenthalten, weil sein Arbeitgeber in einem anderen Vertragsstaat seinen Sitz hat(25).

23 Der Gerichtshof hat in dem Urteil Mulox IBC unter Bezugnahme auf die frühere Rechtsprechung (vgl. die vorstehenden Ausführungen)(26) entschieden, daß für den Fall, daß einer Klage mehrere Verpflichtungen aus demselben Vertrag zugrunde liegen, die Hauptpflicht für die Ermittlung der gerichtlichen Zuständigkeit maßgeblich ist(27). Der Gerichtshof hat ferner ausgeführt, daß in Fällen, in denen die Arbeit in mehreren Vertragsstaaten verrichtet werde, Erfuellungsort für die vertragliche Verpflichtung im Sinne des Artikels 5 Nummer 1 der Ort sei, an dem oder von dem aus der Arbeitnehmer seine Pflichten gegenüber seinem Arbeitgeber hauptsächlich erfuelle. Nach diesem Urteil war für die - in die Zuständigkeit des nationalen Gerichts fallende - Bestimmung des Erfuellungsorts in jenem Fall der Umstand zu berücksichtigen, daß der Arbeitnehmer die ihm übertragene Arbeit von einem Büro in einem Vertragsstaat aus erfuellte, wo er seinen Wohnsitz begründet hatte; von diesem Büro aus ging er seinen Tätigkeiten nach, und dorthin kehrte er nach jeder Geschäftsreise zurück(28).

Anwendung auf den vorliegenden Fall

24 Im vorliegenden Fall geht es im Kern darum, ob der Wortlaut von Artikel 5 Nummer 1 des Brüsseler Übereinkommens in der Fassung des Übereinkommens von San Sebastián, insbesondere der Begriff des "Ortes, an dem der Arbeitnehmer gewöhnlich seine Arbeit verrichtet", wesentlich von der Auslegung abweicht, die der Gerichtshof im Urteil Mulox IBC für Artikel 5 Nummer 1 a. F. gegeben hat, nach der auf den Ort abzustellen ist, "an dem oder von dem aus der Arbeitnehmer seine Pflichten gegenüber seinem Arbeitgeber hauptsächlich erfuellt", und ob es dieser Unterschied gegebenenfalls erforderlich macht, von den Leitlinien abzuweichen, die der Gerichtshof im Urteil Mulox für die Bestimmung dieses Ortes im Einzelfall aufgestellt hat.

25 Ich halte an der in meinen Schlussanträgen in der Rechtssache Mulox IBC vertretenen Auffassung fest, daß Artikel 5 Nummer 1 in der vor 1989 geltenden Fassung

"so auszulegen ist, daß er die Zuständigkeit am hauptsächlichen Arbeitsort begründet. Dieser Ausdruck wird in den meisten Fällen weitgehend synonym mit dem Begriff des $gewöhnlichen` Arbeitsortes in Artikel 6 des Übereinkommens von Rom und in den Übereinkommen von Lugano und San Sebastián zu verstehen sein. Der Ausdruck $hauptsächlicher Arbeitsort` scheint indessen den Vorzug zu verdienen, weil er deutlicher den Gedanken erkennen lässt, daß einer von mehreren Arbeitsorten des Arbeitnehmers unter normalen Umständen grösseres Gewicht hat als die anderen ... der Begriff $gewöhnlich` [sollte], wenn das Übereinkommen von San Sebastián in einem Fall der vorliegenden Art Anwendung finden sollte, nicht zu wörtlich ausgelegt, sondern in dem Sinne verstanden werden ..., daß der hauptsächliche Arbeitsort gemeint ist"(29).

26 Durch diese Auslegung werden mehrere Gesichtspunkte berücksichtigt.

27 Erstens wird die sozial schwächere Vertragspartei, also bei Arbeitsverträgen der Arbeitnehmer, geschützt. Wie ausgeführt ist das Bestreben, dessen Schutz zu gewährleisten, vom Gerichtshof anerkannt worden und hat bei der 1989 erfolgten Änderung des Artikels 5 Nummer 1 eine Rolle gespielt.

28 Zweitens entspricht diese Auslegung dem Erfordernis einer engen Verknüpfung zwischen dem Rechtsstreit und dem zu seiner Entscheidung berufenen Gericht.

29 Drittens wird danach fast immer das Gericht an dem Ort zuständig sein, an dem sich der Arbeitnehmer mit dem geringsten Kostenaufwand an die Gerichte wenden oder vor ihnen verteidigen kann.

30 Gegen diese Auslegung lässt sich anführen, daß danach nicht notwendig die Gerichte des Landes zuständig sind, dessen Recht zur Anwendung kommt. Wie ausgeführt hat der Gerichtshof in dem Urteil Ivenel das Bestreben, die Zuständigkeit einem Gericht zu übertragen, das sein eigenes und nicht ein fremdes Recht zur Anwendung bringen kann, als einen der wesentlichen Gesichtspunkte für die Auslegung von Artikel 5 Nummer 1 angesehen.

31 Meines Erachtens wiegt dieser Einwand jedoch nicht stärker als die Vorteile der von mir vorgeschlagenen Auslegung. Wie in meinen Schlussanträgen in der Rechtssache Mulox IBC ausgeführt, mag es zwar wünschenswert sein, die Zuständigkeit für Arbeitsrechtstreitigkeiten den Gerichten des Staates zu übertragen, dessen Recht anzuwenden ist, doch wird dies in der Praxis nicht immer möglich sein, nicht einmal nach der durch das Übereinkommen von Rom bewirkten Vereinheitlichung der Kollisionsnormen(30). In diesen Schlussanträgen bin ich ausführlich auf die Schwierigkeiten eingegangen, die mit dem Versuch verbunden wären, eine Übereinstimmung von Lex causä und Lex fori sicherzustellen, und habe geschlossen, daß es ein Fehler wäre, die Bedeutung der Verbindung zwischen Zuständigkeit und Lex causä bei Arbeitsrechtstreitigkeiten zu sehr zu betonen(31). An dieser Auffassung halte ich fest.

32 Verrichtet also ein Arbeitnehmer in Erfuellung eines Arbeitsvertrags seine Arbeit in mehr als einem Staat, so sind die Kriterien, nach denen zu beurteilen ist, ob er seine Arbeit in einem dieser Staaten gewöhnlich im Sinne von Artikel 5 Nummer 1 des Brüsseler Übereinkommens verrichtet, im wesentlichen die gleichen, nach denen früher beurteilt wurde, ob er seine Pflichten gegenüber seinem Arbeitgeber in einem dieser Staaten hauptsächlich erfuellt. Der Gerichtshof hat in dem Urteil Mulox IBC bereits einige dieser Kriterien angegeben: Dazu gehört der Umstand, daß der Arbeitnehmer in einem Vertragsstaat, wo er seinen Wohnsitz begründet hatte, ein Büro hatte, von wo aus er seinen Tätigkeiten nachging und wohin er nach jeder Geschäftsreise zurückkehrte(32).

33 Die Kommission schließt sich zwar der von mir in meinen Schlussanträgen in der Rechtssache Mulox IBC geäusserten Auffassung an, daß der Begriff "gewöhnlich" nicht zu wörtlich ausgelegt werden dürfe, hält es jedoch für zweifelhaft, ob die Begriffe "gewöhnlich" und "hauptsächlich" ohne weiteres gleichgesetzt werden könnten. Sie führt aus, der erste Begriff betreffe eher die Organisation der Tätigkeit des Arbeitnehmers in zeitlicher Hinsicht, während der zweite sich auf den Mittelpunkt der Arbeit beziehe. Sie weist jedoch anschließend darauf hin, daß, wie sich aus dem Urteil Mulox IBC ergebe(33), der Begriff "hauptsächlich" impliziere, daß für Artikel 5 Nummer 1 a. F. verschiedene Kriterien, darunter die in jedem der fraglichen Staaten verbrachte Zeit, zu berücksichtigen seien. Durch den neuen Wortlaut, insbesondere durch die Verwendung des Begriffes "gewöhnlich", erlange dieses Kriterium grössere Bedeutung. Das nationale Gericht müsse daher zunächst klären, während welcher Zeiträume der Arbeitnehmer in den verschiedenen Staaten gearbeitet habe. Ergebe sich, daß der Arbeitnehmer in einem Vertragsstaat eindeutig die meisten Tage zugebracht habe, so seien grundsätzlich die Gerichte dieses Staates für Rechtsstreitigkeiten aus dem Arbeitsvertrag zuständig.

34 Obwohl diese Argumentation wohl in den meisten Fällen zum richtigen Ergebnis führen wird, bin ich nicht davon überzeugt, daß eine derart weite Formulierung zweckmässig ist. Ich halte an der in meinen Schlussanträgen in der Rechtssache Mulox IBC vertretenen Auffassung fest, daß der Ort, an dem sich das Büro des Arbeitnehmers befindet, und die Art der Benutzung dieses Büros nicht ausser Betracht bleiben dürfen. Wie ich in dieser Rechtssache ausgeführt habe, scheint mir auch dann, wenn der Arbeitnehmer mehr als die Hälfte des Jahres mit Geschäftsreisen in andere Staaten verbringt und in dem Land, in dem er sein Büro hat, auch nicht einen einzigen Kunden aufsucht, doch die Vermutung, daß sein hauptsächlicher Arbeitsort der Ort ist, wo das Zentrum seiner Tätigkeit liegt, nur schwer widerlegbar zu sein(34). Meines Erachtens hat diese Auffassung durch die Neufassung von Artikel 5 Nummer 1 nicht an Stichhaltigkeit eingebüsst. Wenn ein Arbeitnehmer, der in mehrere Staaten reist, seine Arbeit in seinem Büro vorbereitet und plant und dorthin nach jeder Reise zurückkehrt, ist die Annahme gekünstelt, er verrichte seine Arbeit "gewöhnlich" oder "hauptsächlich" in einem anderen Land, als demjenigen, in dem er sein Büro, den Mittelpunkt seiner Berufstätigkeit, hat.

35 Die Kommission führt weiter aus, daß andere Gesichtspunkte, wie die Belegenheit des Büros und der Wohnsitz, ebenfalls eine Rolle spielten. Sie misst diesen Gesichtspunkten unterschiedliche Bedeutung bei, je nachdem ob das Zeitkriterium auf denselben oder einen anderen Ort hinweist als die anderen Gesichtspunkte. Ich halte dieses Verfahren im vorliegenden Fall, in dem diese Schwierigkeit offensichtlich nicht besteht, für unnötig kompliziert. Ferner zeigt es die Gefahren auf, die mit einer Überbewertung des Zeitkriteriums und einer Unterbewertung des Ortes des Mittelpunkts der Berufstätigkeit des Arbeitnehmers verbunden sind.

36 Zu dem Wohnsitzkriterium möchte ich lediglich bemerken, daß es zwar im Einzelfall ein erheblicher Gesichtspunkt sein kann, daß ich es jedoch aus den in meinen Schlussanträgen in der Rechtssache Mulox IBC(35) angegebenen Gründen nicht für ausschlaggebend halte.

37 Ich halte es in allen Fällen, in denen ein Arbeitnehmer in verschiedenen Staaten arbeitet für wichtig, sorgfältig den hauptsächlichen Arbeitsort zu ermitteln, um sicherzustellen, daß die Zuständigkeit der Gerichte eines Staates begründet wird, der eine echte Verknüpfung mit dem Rechtsstreit aufweist(36). Dies wird nicht stets dadurch erreicht werden, daß auf das durch das Übereinkommen von San Sebastián eingefügte zusätzliche Anknüpfungskriterium des Ortes abgestellt wird, an dem sich die Niederlassung, die den Arbeitnehmer eingestellt hat, befindet bzw. befand. Im vorliegenden Fall halte ich es nicht für erforderlich, über den Hinweis auf diese Gefahr hinaus auf den Anwendungsbereich des zusätzlichen Anknüpfungskriteriums einzugehen.

38 Ich komme daher zu dem Ergebnis, daß alle in den Fragen des nationalen Gerichts genannten zusätzlichen Gesichtspunkte für die Bestimmung des Ortes, an dem der Arbeitnehmer gewöhnlich seine Arbeit verrichtet, erheblich sind.

39 Abschließend sei darauf hingewiesen, daß das Ausgangsverfahren ein gutes Beispiel für die Vorteile der von mir vertretenen Auslegung von Artikel 5 Nummer 1 ist. Der Kläger wohnt in den Niederlanden. Er hat dort ein Büro, in dem er seine Tätigkeiten vorbereitet und plant und wohin er nach jeder Reise zurückkehrt; er verbringt etwa zwei Drittel seiner Arbeitszeit in den Niederlanden und das verbleibende Drittel in mehreren anderen Staaten. Der vorliegende Arbeitsrechtsstreit weist eindeutig zahlreiche Merkmale auf, die ihn eng mit den Niederlanden verknüpfen. Müsste sich der Kläger an ein Gericht im Vereinigten Königreich wenden, so wäre dies weder mit dem allgemeinen Bestreben vereinbar, die sozial schwächere Partei zu schützen, noch mit dem in Fällen der vorliegenden Art hieraus resultierenden besonderen Bestreben, sicherzustellen, daß der Arbeitnehmer vor dem für ihn günstigsten Gericht klagen kann.

Ergebnis

40 Ich bin daher der Meinung, daß der Gerichtshof die Fragen des Hoge Raad wie folgt beantworten sollte:

Artikel 5 Nummer 1 des Übereinkommens vom 27. September 1968 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen in der zuletzt durch das Übereinkommen vom 26. Mai 1989 über den Beitritt des Königreichs Spanien und der Portugiesischen Republik geänderten Fassung ist dahin auszulegen, daß bei einem Arbeitsvertrag, zu dessen Erfuellung der Arbeitnehmer seine Tätigkeit in mehr als einem Vertragsstaat verrichtet, der Ort, an dem der Arbeitnehmer gewöhnlich seine Arbeit verrichtet, der Ort ist, an dem oder von dem aus er seine Verpflichtungen gegenüber seinem Arbeitgeber hauptsächlich erfuellt. Es obliegt dem nationalen Gericht, diesen Ort unter Berücksichtigung aller erheblichen Tatsachen zu bestimmen, zu denen insbesondere gehört, daß der Arbeitnehmer den grössten Teil seiner Arbeitszeit in einem dieser Staaten zubringt, wo er wohnt und ein Büro hat, in dem er seine ausserhalb dieses Staates verrichtete Tätigkeit vorbereitet oder verwaltet und wohin er nach jeder im Zusammenhang mit seiner Arbeit stehenden Auslandsreise zurückkehrt.

(1) - ABl. L 304, S. 1 und - geänderter Text - S. 77.

(2) - ABl. L 388, S. 1.

(3) - ABl. L 285, S. 1.

(4) - ABl. 1979, C 59, S. 1, 22.

(5) - Anmerkung des Übersetzers: Betrifft die deutsche Fassung nicht.

(6) - Urteil vom 13. Juli 1993 in der Rechtssache C-125/92 (Slg. 1993, I-4075).

(7) - ABl. 1990, C 189, S. 35.

(8) - Übereinkommen vom 16. September 1988 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen (anwendbar zwischen den Mitgliedstaaten der EFTA und der EWG); ABl. 1988, L 319, S. 9.

(9) - Randnr. 23 c).

(10) - Urteil vom 15. Februar 1989 in der Rechtssache 32/88 (Slg. 1989, 341).

(11) - Vgl. Randnrn. 13 und 14.

(12) - Urteil vom 26. Mai 1982 in der Rechtssache 133/81 (Slg. 1982, 1891).

(13) - Urteil vom 15. Januar 1987 in der Rechtssache 266/85 (Slg. 1987, 239).

(14) - ABl. 1980, L 266, S. 1.

(15) - ABl. 1990, C 189, S. 57.

(16) - Randnrn. 15, 20 und Tenor.

(17) - Randnr. 19.

(18) - ABl. 1980, C 282, S. 1.

(19) - S. 25.

(20) - Randnrn. 16 und 17.

(21) - Randnr. 15.

(22) - Zitiert in Fußnote 6.

(23) - Randnr. 16.

(24) - Randnrn. 18 und 19.

(25) - Nr. 29 meiner Schlussanträge.

(26) - Nr. 15.

(27) - Urteil Shenavai, Randnr. 19, zitiert in Fußnote 13.

(28) - Randnrn. 22 bis 25.

(29) - Nrn. 32 und 37.

(30) - Nr. 27 meiner Schlussanträge.

(31) - Nrn. 27 und 28.

(32) - Randnr. 25.

(33) - Die Kommission bezieht sich auf den französischen und den niederländischen Text des Urteils, in dem der Begriff "principalement" bzw. "hoofdzakelijk" verwendet wird.

(34) - Nr. 33.

(35) - Nr. 34.

(36) - Vgl. ferner meine Schlussanträge in der Rechtssache Mulox IBC, Nrn. 35 und 37.