61995C0351

Schlussanträge des Generalanwalts Elmer vom 16. Januar 1997. - Selma Kadiman gegen Freistaat Bayern. - Ersuchen um Vorabentscheidung: Bayerisches Verwaltungsgericht München - Deutschland. - Assoziierungsabkommen EWG-Türkei - Beschluß des Assoziationsrates - Freizügigkeit der Arbeitnehmer - Familienangehöriger eines Arbeitnehmers - Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis - Voraussetzungen - Familiäre Lebensgemeinschaft - Dreijähriger ordnungsgemäßer Wohnsitz - Berechnung bei Unterbrechungen. - Rechtssache C-351/95.

Sammlung der Rechtsprechung 1997 Seite I-02133


Schlußanträge des Generalanwalts


1 Das Bayerische Verwaltungsgericht München ersucht in dieser Sache den Gerichtshof um Auslegung des Artikels 7 Absatz 1 des Beschlusses Nr. 1/80 des Assoziationsrates EWG-Türkei vom 19. September 1980 über die Entwicklung der Assoziation (nachstehend: Beschluß Nr. 1/80), der das Recht der Familienangehörigen türkischer Arbeitnehmer auf Beschäftigung betrifft.

Die einschlägigen gemeinschaftsrechtlichen Vorschriften

2 Das Assoziierungsabkommen zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Türkei(1) soll nach Artikel 2 Absatz 1 "eine beständige und ausgewogene Verstärkung der Handels- und Wirtschaftsbeziehungen zwischen den Vertragsparteien unter voller Berücksichtigung der Notwendigkeit ... fördern, daß hierbei der beschleunigte Aufbau der türkischen Wirtschaft sowie die Hebung des Beschäftigungsstandes und der Lebensbedingungen des türkischen Volkes gewährleistet werden".

Nach Artikel 12 des Abkommens sind sich die Vertragsparteien einig, "sich von den Artikeln 48, 49 und 50 des Vertrages zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft leiten zu lassen, um untereinander die Freizuegigkeit der Arbeitnehmer schrittweise herzustellen".

3 Nach Artikel 36 des Zusatzprotokolls zum Assoziierungsabkommen vom 23. November 1970(2) legt der Assoziationsrat die erforderlichen Regeln für die schrittweise Herstellung der Freizuegigkeit der Arbeitnehmer zwischen den Mitgliedstaaten der Gemeinschaft und der Türkei nach den Grundsätzen des Artikels 12 des Assoziierungsabkommens fest.

4 Der Assoziationsrat erließ hierauf den Beschluß Nr. 1/80 vom 19. September 1980, der am 1. Juli 1980 in Kraft trat(3). Folgende Bestimmungen sind in dieser Sache einschlägig:

"Artikel 7

Die Familienangehörigen eines dem regulären Arbeitsmarkt eines Mitgliedstaates angehörenden türkischen Arbeitnehmers, die die Genehmigung erhalten haben, zu ihm zu ziehen,

- haben vorbehaltlich des den Arbeitnehmern aus den Mitgliedstaaten der Gemeinschaft einzuräumenden Vorrangs das Recht, sich auf jedes Stellenangebot zu bewerben, wenn sie dort seit mindestens drei Jahren ihren ordnungsgemässen Wohnsitz haben;

- haben freien Zugang zu jeder von ihnen gewählten Beschäftigung im Lohn- und Gehaltsverhältnis, wenn sie dort seit mindestens fünf Jahren ihren ordnungsgemässen Wohnsitz haben.

...

Artikel 11

Staatsangehörige der Mitgliedstaaten, die dem regulären Arbeitsmarkt der Türkei angehören, und ihre Familienangehörigen, welche die Genehmigung erhalten haben, zu ihnen zu ziehen, genießen dort die in ... Artikel ... 7 ... gewährten Rechte und Vorteile, wenn sie die in diesen Artikeln vorgesehenen Voraussetzungen erfuellen."

Sachverhalt

5 Selma Kadiman (nachstehend: Ehefrau) wurde am 1. November 1970 in der Türkei geboren und ist türkische Staatsangehörige. Seit dem 4. November 1985 ist sie mit Hakki Kadiman (nachstehend: Ehemann) verheiratet, der am 1. August 1964 in der Türkei geboren wurde und ebenfalls türkischer Staatsangehöriger ist. Der Ehemann lebt seit 1977 in der Bundesrepublik Deutschland und ist seit dem 22. Januar 1988 im Besitz einer Aufenthaltsberechtigung.

6 Die Ehefrau reiste am 17. März 1990 aufgrund eines Visums zum Zwecke der Familienzusammenführung in die Bundesrepublik Deutschland ein und meldete sich mit Wohnsitz bei ihrem Ehemann in Ruhpolding. Am 9. Juli 1990 erteilte ihr das Landratsamt Traunstein eine bis zum 14. Mai 1991 gültige Aufenthaltserlaubnis. Die Erlaubnis wurde am 16. Mai 1991 bis zum 14. Mai 1993 verlängert.

7 Am 11. September 1991 teilte das Einwohnermeldeamt Ruhpolding dem Landratsamt Traunstein mit, daß die Ehefrau nach den Erklärungen des Ehemannes gegenüber dem Meldeamt am 7. September 1991 in die Türkei ausgereist sei. Auf Nachfrage des Landratsamts Traunstein erklärte der Ehemann am 30. September 1991, daß seine Frau in die Türkei zurückgereist sei, daß er seit etwa 5 Monaten von ihr getrennt lebe und in der Türkei die Scheidung betreibe.

8 Mit Fernschreiben vom 28. Oktober 1991 ersuchte das Deutsche Generalkonsulat in Istanbul das Landratsamt Traunstein um Zustimmung zur Erteilung eines Einreisevisums für die Ehefrau, da diese erklärt habe, daß sie ihren Paß während ihres Aufenthalts in der Türkei verloren habe. Das Landratsamt Traunstein hatte keine Einwendungen gegen die Ausstellung eines Einreisevisums, da die Aufenthaltserlaubnis der Ehefrau durch den Paßverlust nicht erloschen war. Das Generalkonsulat erteilte der Ehefrau daraufhin am 22. Januar 1992 ein Einreisevisum.

9 Am 4. Februar 1992 meldete sich die Ehefrau bei der Meldebehörde in Ruhpolding mit Wirkung vom 1. Februar 1992 unter einer anderen Adresse als der ihres Mannes an. Am 13. Mai 1992 meldete sie sich mit Wirkung vom 1. April 1992 bei der Meldebehörde in Bad Reichenhall.

10 Mit Bescheid vom 4. Mai 1992 entzog das Landratsamt Traunstein der Ehefrau die Aufenthaltserlaubnis unter Hinweis auf Informationen, daß sie mit ihrem Mann nicht mehr zusammenlebe. Die Gültigkeit der Aufenthaltserlaubnis endete mit Zustellung des Bescheids, und die Ehefrau wurde unter Androhung der Abschiebung zur Ausreise verpflichtet. Dieser Bescheid wurde jedoch durch Bescheid vom 21. Mai 1992 aufgehoben, da die Ehefrau nach ihrem Wohnsitzwechsel nach Bad Reichenhall in den Zuständigkeitsbereich des Landratsamts Berchtesgadener Land fiel.

11 Im Rahmen der Bearbeitung der Angelegenheit durch das Landratsamt Berchtesgadener Land erklärte die Ehefrau in einem undatierten, beim Landratsamt am 12. Juli 1992 eingegangen Schreiben, daß sie nach ihrer Ankunft in Deutschland im Jahr 1990 mit ihrem Mann zusammengelebt habe, bis dieser angefangen habe, sie zu schlagen und zu demütigen. Bei einem gemeinsamen Türkeiurlaub im September 1991 habe er ihren Paß gestohlen und sei ohne sie nach Deutschland zurückgekehrt. Nachdem sie eine Zeitlang darauf gewartet habe, daß ihr Mann sie abhole, was er nicht getan habe, habe sie ein Einreisevisum beantragt. Nach der Ausstellung dieses Visums sei sie in die Wohnung ihres Mannes gegangen und habe ihn um Versöhnung gebeten. Der aber habe sie geschlagen und aus dem Haus geworfen. Danach habe sie bei Freunden gewohnt. Sie habe mit ihrem Mann seit September 1991 nicht mehr zusammengelebt.

12 Mit Bescheid vom 5. Januar 1993 entzog das Landratsamt Berchtesgadener Land der Ehefrau die eigentlich bis zum 14. Mai 1993 gültige Aufenthaltserlaubnis mit Wirkung vom Zeitpunkt der Zustellung des Bescheids an, die am 26. Januar 1993 erfolgte. Hiergegen erhob die Ehefrau am 2. Februar 1993 Widerspruch. Bei einer Vernehmung im Rahmen des Widerspruchverfahrens erklärte der Ehemann, er wolle die Lebensgemeinschaft mit seiner Frau wieder aufnehmen. Am 13. Mai 1993 erteilte das Landratsamt Berchtesgadener Land der Ehefrau eine nun bis zum 14. Mai 1994 gültige Aufenthaltserlaubnis.

13 Bei einer Vernehmung am 29. Juli 1993 räumte die Ehefrau ein, daß der von den Eheleuten geäusserte Wille zur Wiederherstellung der ehelichen Lebensgemeinschaft eine reine Schutzbehauptung gewesen sei. Mit Bescheid vom 13. Oktober 1993 entzog das Landratsamt Berchtesgadener Land der Ehefrau die Aufenthaltserlaubnis mit Wirkung vom Zeitpunkt der Zustellung des Bescheids an und verpflichtete sie zur Ausreise.

14 Am 9. November 1993 erhob die Ehefrau hiergegen Widerspruch. Mit Widerspruchsbescheid vom 25. April 1994 wurde der Widerspruch zurückgewiesen. Die Ehefrau erhob hiergegen am 24. Mai 1994 Klage beim Bayerischen Verwaltungsgericht München.

15 Am 12. Januar 1995 widerrief der Ehemann seine Erklärung vom Februar 1993. Er erklärte, seine Frau sei Ende Januar 1993 an ihn herangetreten und habe ihn gebeten, ihr zu helfen, da sie Schwierigkeiten mit dem Ausländeramt habe. Er habe daraufhin gegenüber den Behörden erklärt, die Lebensgemeinschaft wiederherstellen zu wollen. Dies sei aber nicht geschehen. Er habe weiterhin die Absicht, sich von seiner Frau in der Türkei scheiden zu lassen.

16 Mit Bescheid vom 13. Januar 1995 bestätigte das Landratsamt Berchtesgadener Land den Bescheid über den Entzug der Aufenthaltserlaubnis der Ehefrau und verpflichtete sie zur Ausreise. Unter anderem wurde sie darauf hingewiesen, daß sie aus den Bestimmungen des Beschlusses Nr. 1/80 keine Rechte herleiten könne.

17 Vor dem Bayerischen Verwaltungsgericht München beantragte die Ehefrau schließlich die Aufhebung des Bescheids vom 13. Januar 1995 unter Hinweis darauf, daß sie nach Artikel 7 Absatz 1 des Beschlusses Nr. 1/80 ein Aufenthaltsrecht habe.

Die Vorlagefragen

18 Das Bayerische Verwaltungsgericht München hat mit Beschluß vom 14. Juni 1995 das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:

1. Setzt die Anwendbarkeit des Artikels 7 Absatz 1 des Beschlusses Nr. 1/80 ... voraus, daß die familiäre Lebensgemeinschaft im Zeitpunkt der Erfuellung der sonstigen Voraussetzungen noch besteht?

2. Setzt die Anwendbarkeit des Artikels 7 Absatz 1 erster Gedankenstrich des Beschlusses Nr. 1/80 einen ununterbrochenen dreijährigen ordnungsgemässen Wohnsitz in einem Mitgliedstaat der Gemeinschaft voraus?

3. Ist auf den Zeitraum der dreijährigen ordnungsgemässen Wohnsitznahme im Sinne des Artikels 7 Absatz 1 erster Gedankenstrich des Beschlusses Nr. 1/80 ein freiwilliger oder erzwungener fünfmonatiger Zwischenaufenthalt in der Türkei anzurechnen?

19 Aus dem Vorlagebeschluß ergibt sich, daß das Bayerische Verwaltungsgericht München davon ausgeht, daß der Aufenthalt der Ehefrau in Deutschland in der Zeit von September 1991 bis Februar 1992 unterbrochen war, in der sie zwar über ein Aufenthaltsrecht in Deutschland verfügt habe, sich aber tatsächlich in der Türkei aufgehalten habe. Das Gericht geht hierbei davon aus, daß der Ehemann während einer gemeinsamen Urlaubsreise ihren Paß entwendet hatte und sie dadurch an ihrer Rückkehr nach Deutschland gehindert war.

20 Ausserdem geht das vorlegende Gericht davon aus, daß der Aufenthalt der Ehefrau in Deutschland in der Zeit, in der ihr die Aufenthaltserlaubnis entzogen worden war, d. h. vom 26. Januar 1993 bis zum 14. Mai 1993, nicht ordnungsgemäß war. Infolgedessen kann nach Ansicht des vorlegenden Gerichts die Ehefrau nur dann einen ordnungsgemässen Aufenthalt von mindestens drei Jahren nachweisen, wenn eine Zusammenrechnung der Zeiten des ordnungsgemässen Aufenthalts vor und nach dieser Unterbrechung möglich ist. Das vorlegende Gericht geht hierbei davon aus, daß die Ehefrau die ihr am 13. Mai 1993 erteilte Aufenthaltserlaubnis nicht erschlichen habe, da sie, obgleich immer wieder von ihrem Mann gedemütigt und geschlagen, zu diesem Zeitpunkt die eheliche Lebensgemeinschaft habe wiederaufnehmen wollen.

Verfahren vor dem Gerichtshof

21 Die Ehefrau macht geltend, sie sei immer noch mit ihrem Mann verheiratet, habe seit über 3 Jahren einen Wohnsitz in Deutschland und sei berechtigt, sich dort aufzuhalten. Die Voraussetzungen für einen Rechtsanspruch nach Artikel 7 Absatz 1 erster Gedankenstrich seien daher erfuellt.

22 Die deutsche und die niederländische Regierung tragen vor, ein Mitgliedstaat könne verlangen, daß ein Familienangehöriger eines türkischen Arbeitnehmers, der zum Zwecke der Familienzusammenführung eine Aufenthaltserlaubnis erhalte, auch tatsächlich mit dem betreffenden türkischen Arbeitnehmer zusammenlebe, um Rechte aus Artikel 7 Absatz 1 erster Gedankenstrich herleiten zu können.

23 Nach Ansicht der Kommission ist vor der Beantwortung der vom nationalen Gericht vorgelegten Fragen zunächst zu untersuchen, ob in der in der Bestimmung genannten Zeit von drei Jahren eine familiäre Lebensgemeinschaft bestehen müsse. Nach Ansicht der Kommission verstösst es nicht gegen Artikel 7 Absatz 1 erster Gedankenstrich, wenn ein Mitgliedstaat verlange, daß zwischen dem Familienangehörigen und dem türkischen Arbeitnehmer in den in der Bestimmung genannten 3 Jahren eine familiäre Lebensgemeinschaft bestehe.

24 Für die französische Regierung ist Voraussetzung für einen Rechtsanspruch nach Artikel 7 Absatz 1 erster Gedankenstrich des Beschlusses Nr. 1/80, daß in dem genannten Dreijahreszeitraum zwischen den Partnern eine familiäre Lebensgemeinschaft bestanden habe.

Stellungnahme

25 Mit der ersten Frage möchte das vorlegende Gericht in Wirklichkeit vom Gerichtshof wissen, inwieweit nach Artikel 7 Absatz 1 erster Gedankenstrich des Beschlusses Nr. 1/80 das Bestehen einer familiären Lebensgemeinschaft in dem in der Bestimmung genannten Zeitraum Voraussetzung für den Erwerb des Rechts auf Beschäftigung ist, das die Bestimmung unter bestimmten Umständen einräumt. Das vorlegende Gericht drückt dies durch die Frage aus, ob die Bestimmung voraussetzt, "daß die familiäre Lebensgemeinschaft im Zeitpunkt der Erfuellung der sonstigen Voraussetzungen noch besteht". Diese Formulierung der Frage erklärt sich daraus, daß die Eheleute in der konkreten Rechtssache, über die das nationale Gericht zu befinden hat, vom 17. März 1990 bis zum September 1991, als der Ehemann die häusliche Gemeinschaft vor Ablauf des in Artikel 7 Absatz 1 erster Gedankenstrich genannten Mindestzeitraums von 3 Jahren aufhob, tatsächlich zusammenlebten.

26 Artikel 7 Absatz 1 erster Gedankenstrich ist unmittelbare Wirkung zuzusprechen(4). Die Bestimmung betrifft ihrem Wortlaut nach nur das Recht auf Beschäftigung, doch besteht nach der ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofes im Zusammenhang mit diesem Beschäftigungsrecht ein abgeleitetes Aufenthaltsrecht(5).

27 Die einzelnen Sprachfassungen des Artikels 7 Absatz 1 erster Gedankenstrich des Beschlusses Nr. 1/80 weisen bestimmte Unterschiede auf. So kann z. B. die dänische Fassung des Artikels 7 Absatz 1 erster Gedankenstrich gewisse Auslegungszweifel hinsichtlich der Frage wecken, ob eine familiäre Lebensgemeinschaft in dem betreffenden Zeitraum als Voraussetzung für den Erwerb des in der Bestimmung niedergelegten Rechts auf Beschäftigung verlangt wird. Nach der Bestimmung haben nämlich Familienangehörige, "saafremt de har faät tilladelse til at flytte til den paagäldende medlemsstat" (wenn sie die Genehmigung erhalten haben, in den betreffenden Mitgliedstaat zu ziehen) ein Recht auf Beschäftigung, "efter at have haft lovlig bopäl dér i mindst tre aar" (wenn sie dort seit mindestens 3 Jahren ihren ordnungsgemässen Wohnsitz haben). Der Ausdruck "bopäl dér" (dort ihren Wohnsitz) verweist in der dänischen Fassung auf die Worte "den paagäldende medlemsstat" (den betreffenden Mitgliedstaat), und die Bestimmung kann daher ohne weiteres so verstanden werden, daß es ausreicht, wenn der Familienangehörige seit 3 Jahren einen ordnungsgemässen Wohnsitz in demselben Mitgliedstaat wie der Arbeitnehmer hat, und daß eine familiäre Lebensgemeinschaft zwischen Familienangehörigem und Arbeitnehmer nicht erforderlich ist.

28 Dieser Unklarheit in bestimmten Sprachfassungen ist jedoch Artikel 11 des Beschlusses gegenüberzustellen, der die entsprechende Frage regelt, ob Familienangehörige von Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten, die Arbeitnehmer in der Türkei sind, ein Recht auf Beschäftigung in der Türkei haben. Artikel 11 bestimmt ausdrücklich, daß Familienangehörige von Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten, die Arbeitnehmer in der Türkei sind, nur dann dasselbe Recht auf Beschäftigung in der Türkei haben, wenn sie "zu ihnen ... ziehen" (d. h. zu den Arbeitnehmern). Wenn von einem Familienangehörigen eines Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats für den Erwerb bestimmter Rechte in der Türkei verlangt wird, daß er zu dem Arbeitnehmer in der Türkei zieht, ergibt sich unter dem allgemeinen Gesichtspunkt der Gegenseitigkeit von selbst der Schluß, daß dasselbe Erfordernis gelten muß, wenn es darum geht, unter welchen Voraussetzungen Familienangehörige türkischer Staatsangehöriger, die Arbeitnehmer in einem Mitgliedstaat sind, in diesem Mitgliedstaat dieselben Rechte erwerben.

29 Daß Artikel 7 Absatz 1 erster Gedankenstrich eine Lebensgemeinschaft verlangt, ergibt sich auch ausdrücklich aus den Formulierungen anderer Sprachfassungen. So ist in der französischen Fassung des Artikels 7 Absatz 1 erster Gedankenstrich von Familienangehörigen die Rede, die die Genehmigung erhalten haben, "à le rejoindre", in der deutschen Fassung von der Genehmigung, "zu ihm zu ziehen" und in der englischen Fassung von der Genehmigung, "to join him". Derselbe Ausdruck wird im übrigen in diesen Sprachfassungen in Artikel 11 verwendet, wo es in der französischen Fassung "ont été autorisés à les rejoindre", in der deutschen Fassung "die Genehmigung erhalten haben, zu ihnen zu ziehen", und in der englischen Fassung "have been authorized to join them" heisst.

30 Auch die tatsächlichen Belange, die hinter Artikel 7 Absatz 1 stehen, sprechen dafür, daß das Recht auf Beschäftigung eine familiäre Lebensgemeinschaft in dem betreffenden Zeitraum voraussetzt. Dieses Recht, das dem Betreffenden durch die Bestimmung eingeräumt wird, wird ihm gerade in seiner Eigenschaft als Familienangehöriger gegeben; die Bestimmung soll somit sicherstellen, daß Familienangehörige von türkischen Arbeitnehmern in der Gemeinschaft, denen von einem Mitgliedstaat die Genehmigung zur Familienzusammenführung erteilt worden ist, nach einer bestimmten Zeit das Recht haben, sich auf ein Stellenangebot zu bewerben. Gleichzeitig ist die Voraussetzung eines gemeinsamen Wohnsitzes der Eheleute notwendig, um der Umgehung eines Einwanderungsstopps durch Scheinehen entgegenzuwirken.

31 Bezueglich der näheren inhaltlichen Voraussetzungen der familiären Lebensgemeinschaft kann nach meiner Meinung im übrigen kaum verlangt werden, daß der Familienangehörige und der Arbeitnehmer ständig unter ein und demselben Dach wohnen. Zum Beispiel muß es für den Familienangehörigen möglich sein, ein Stellenangebot an einem anderen Ort in dem Mitgliedstaat als dem, an dem der Arbeitnehmer seinen Wohnsitz hat, anzunehmen und sich dort werktags oder kürzere Zeiten aufzuhalten, indem er z. B. ein Zimmer oder eine Wohnung mietet, so daß die Familie an den Wochenenden und im Urlaub zusammen ist. Viele Angehörige der Mitgliedstaaten müssen sich auf diese Weise einrichten, und es ist trotz allem leichter, zwischen München und Rosenheim zu pendeln als zwischen München und Konya. Auch sollte es vermutlich den Familienangehörigen möglich sein, ihre Familie z. B. in der Türkei zu besuchen und Dienstreisen ins Ausland zu unternehmen oder sich im Falle von Krankheit oder eines Unfalls eine Zeit lang zur Behandlung in einem anderen Land aufzuhalten.

32 Die Umstände im vorliegenden Fall bieten jedoch keinen Anlaß, näher auf die vielen Fragen einzugehen, die sich aufgrund des Erfordernisses einer familiären Lebensgemeinschaft in der Praxis ergeben können. Aus der Rechtssache ergibt sich nämlich, daß selbst dann, wenn man davon ausgehen könnte, daß die familiäre Lebensgemeinschaft zwischen den Eheleuten während des fünfmonatigen Aufenthalts der Ehefrau in der Türkei nach September 1991 fortbestanden hat, die Ehefrau während eines Zeitraums von weniger als den in Artikel 7 Absatz 1 erster Gedankenstrich vorgeschriebenen 3 Jahren einen ordnungsgemässen Wohnsitz gemeinsam mit ihrem Mann gehabt hat. Bereits aus diesem Grund kann sie sich nicht auf Artikel 7 Absatz 1 erster Gedankenstrich berufen.

33 Somit besteht auch kein Grund, dazu Stellung zu nehmen, ob eine familiäre Lebensgemeinschaft auch nach Ablauf des dreijährigen Zeitraums noch bestehen muß, oder die übrigen Probleme zu behandeln, die vom vorlegenden Gericht aufgeworfen worden sind.

Entscheidungsvorschlag

34 Ich möchte daher dem Gerichtshof vorschlagen, die vorgelegten Fragen wie folgt zu beantworten:

Artikel 7 Satz 1 erster Gedankenstrich des Beschlusses Nr. 1/80 des durch das am 12. September 1963 in Ankara unterzeichnete und im Namen der Gemeinschaft durch den Beschluß 64/732/EWG des Rates vom 23. Dezember 1963 gebilligte Abkommen zur Gründung einer Assoziation zwischen der EWG und der Türkei errichteten Assoziationsrates vom 19. September 1980 über die Entwicklung der Assoziation ist dahin auszulegen, daß der Familienangehörige eines dem regulären Arbeitsmarkt eines Mitgliedstaats angehörenden türkischen Staatsangehörigen das in dieser Bestimmung festgelegte Recht, sich auf ein Stellenangebot zu bewerben, nur hat, wenn er seit mindestens 3 Jahren einen ordnungsgemässen Wohnsitz gemeinsam mit dem betreffenden Arbeitnehmer hat.

(1) - Abkommen zur Gründung einer Assoziation zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Türkei, unterzeichnet in Ankara am 12. September 1963 und im Namen der Gemeinschaft durch Beschluß 64/732/EWG des Rates vom 23. Dezember 1963 geschlossen (Sammlung der von den Europäischen Gemeinschaften geschlossenen Übereinkünfte, Band 3, S. 541).

(2) - ABl. L 293 vom 29. Dezember 1972, S. 4.

(3) - Der Beschluß ist nicht veröffentlicht.

(4) - Vgl. Urteil vom 20. September 1990 in der Rechtssache C-192/89, Sevince, Slg. 1990, I-3461, und Urteil vom 5. Oktober 1994 in der Rechtssache C-355/93, Eroglu, Slg. 1994, I-5113.

(5) - Vgl. Fußnote 4.