SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS

NIAL FENNELLY

vom 6. Juni 1996 ( *1 )

1. 

Die vorliegende Rechtssache kann man als teilweise unbestrittene Vertragsverletzungsklage bezeichnen. Italien hat zwar eingeräumt, noch keine speziellen Maßnahmen zur Umsetzung der einschlägigen Richtlinien erlassen zu haben, hat sich in seiner Klagebeantwortung vor dem Gerichtshof jedoch darauf berufen, daß Rechtsvorschriften von 1954 Bestimmungen enthielten, die denen der beiden Richtlinie entsprächen. Angesichts der besonderen Umstände des vorliegenden Falles stellt sich die Frage, ob die Klage der Kommission zulässig ist.

I — Sachverhalt und Verfahren

2.

Die Fristen für den Erlaß der nationalen Vorschriften zur Umsetzung der Richtlinie 92/35/EWG des Rates vom 29. April 1992 zur Festlegung von Kontrollregeln und Maßnahmen zur Bekämpfung der Pferdepest ( 1 ) und der Richtlinie 92/40/EWG des Rates vom 19. Mai 1992 mit Gemeinschaftsmaßnahmen zur Bekämpfung der Geflügelpest ( 2 ) (im folgenden: Richtlinien) liefen gemäß Artikel 20 Absatz 1 bzw. Artikel 22 Absatz 1 der beiden Richtlinien am 31. Dezember 1992 ab. Da die Kommission nicht gemäß Absatz 2 dieser beiden Artikel von Umsetzungsmaßnahmen in Kenntnis gesetzt worden war, forderte sie die italienische Regierung mit Schreiben vom 12. März 1993 auf, ihr eine vollständige und detaillierte Tabelle dieser Maßnahmen zu übermitteln; auf dieses Schreiben erhielt die Kommission jedoch keine Antwort.

3.

Am 2. Mai 1994 übersandte die Kommission der italienischen Regierung eine mit Gründen versehene Stellungnahme gemäß Artikel 169 des Vertrages. Darin wurde auf die Verpflichtungen hingewiesen, denen die Mitgliedstaaten gemäß Artikel 189 Absatz 3 des Vertrages, wonach die „Richtlinie ... für jeden Mitgliedstaat, an den sie gerichtet wird, hinsichtlich des zu erreichenden Ziels verbindlich [ist]“ und gemäß Artikel 5 des Vertrages nachzukommen haben, der die Mitgliedstaaten verpflichtet, „alle geeigneten Maßnahmen [zu treffen], die sich aus diesem Vertrag oder aus Handlungen der Organe der Gemeinschaft ergeben“. Die Kommission führte aus, daß sie angesichts des Fehlens gegenteiliger Informationen davon ausgehen müsse, „daß der Mitgliedstaat noch nicht die [erforderlichen] Vorschriften erlassen hat“, um den Richtlinien nachzukommen, und daher gegen seine Verpflichtungen verstoßen habe.

4.

Am 29. Juli 1994 teilte die Ständige Vertretung Italiens der Kommission mit, daß die Umsetzung der Richtlinien in das jährliche Gemeinschaftsgesetz für 1993 aufgenommen worden und damit eingeleitet sei.

5.

Am 22. Februar 1995 hat die Kommission das vorliegende Verfahren eingeleitet. In ihrer Klageschrift beantragt sie, „festzustellen, daß die Italienische Republik gegen ihre Verpflichtungen aus dem Vertrag verstoßen hat, indem sie nicht innerhalb der vorgeschriebenen Frist die erforderlichen Rechtsund Verwaltungsvorschriften erlassen hat, um [den Richtlinien] nachzukommen“.

6.

In ihrer Klagebeantwortung beruft sich die italienische Regierung erstmals auf das Dekret des Präsidenten der Republik Nr. 320 vom 8. Februar 1954 über eine veterinärpolizeiliche Verordnung (im folgenden: D. P. R. 320/54) ( 3 ). Nach Ansicht der Regierung spiegeln die Vorschriften dieses Dekrets sowohl die vom Gemeinschaftsgesetzgeber verfolgten Ziele als auch die konkreten Vorschriften der Richtlinien wider. Da die Regierung die Absicht habe, spezielle Maßnahmen bezüglich der Pferdepest und der Geflügelpest zu erlassen, sei das D. P. R. 320/54 der Kommission nicht als Durchführungsvorschriften übermittelt worden. Da in der Sache nunmehr der Gerichtshof angerufen worden sei, berufe sich die Regierung auf dieses Dekret als teilweise Umsetzung der Richtlinien, obwohl das Umsetzungsverfahren mit dem Erlaß der geplanten speziellen Maßnahmen noch vor der Entscheidung des Gerichtshofes im vorliegenden Fall abgeschlossen sein solle. Die italienische Regierung räumt jedoch ausdrücklich ein, die Richtlinien nicht ordnungsgemäß umgesetzt zu haben, und beantragt, diese Vertragsverletzung festzustellen.

7.

In ihrer Erwiderung äußert die Kommission ihr „Erstaunen“ darüber, daß sich die italienischen Behörden erst in diesem Stadium darauf beriefen, daß es bereits vorher nationale Vorschriften gegeben habe, die die streitigen Richtlinien teilweise umsetzten. Trotz dieser Entwickung bleibt sie bei ihrem Antrag, festzustellen, daß Italien nicht die erforderlichen Vorschriften erlassen hat, um seinen Verpflichtungen aus den Richtlinien nachzukommen (Hervorhebung im Original). Die Kommission fügt hinzu, daß weder im Vorverfahren noch in der Klagebeantwortung Italiens bestritten worden sei, daß diese Vorschriften noch nicht erlassen worden seien.

8.

Die italienische Regierung führt in ihrer Gegenerwiderung aus, daß das bevorstehende Inkrafttreten der (neuen) Durchführungsverordnungen die „beanstandeten Vertragsverletzungen“ ( 4 ) beenden werde, und äußert die Hoffnung, daß die Kommission ihre Klage zurücknehme.

II — Rechtliche Würdigung

9.

Die erste Frage, die in der vorliegenden Rechtssache zu klären ist, betrifft den genauen Umfang der Feststellung, die die Kommission vom Gerichtshof begehrt. Sowohl in der mit Gründen versehenen Stellungnahme als auch in ihrer Klageschrift spricht die Kommission davon, daß Italien nicht die erforderlichen Vorschriften erlassen habe. In beiden Fällen meinte sie damit eindeutig, daß Italien keine der erforderlichen Vorschriften erlassen habe, um den Richtlinien nachzukommen. Auf die Möglichkeit einer teilweisen Umsetzung ist die Kommission darin gar nicht eingegangen.

10.

Die Erwiderung der Kommission auf die Klagebeantwortung Italiens ist viel unklarer; so nimmt sie insbesondere überhaupt nicht zu der Frage Stellung, ob und inwieweit das italienische Recht aufgrund des D. P. R. 320/54 bereits mit den Richtlinien vereinbar gewesen sein könnte. Indem sie die Betonung auf „die erforderlichen Vorschriften“ legt, scheint die Kommission ihren Antrag dahin geändert zu haben, daß sie die Feststellung begehrt, daß die Italienische Republik die Richtlinien nicht vollständig umgesetzt hat, also nicht mehr die Feststellung, daß sie sie überhaupt nicht umgesetzt hat. Die Kommission räumt also implizit ein, daß das D. P. R. 320/54 möglicherweise eine teilweise Umsetzung der Richtlinien darstellen könnte ( 5 ); unstreitig ist also lediglich, daß Italien die Richtlinien nicht vollständig umgesetzt hat.

11.

Meiner Ansicht nach sollte der Gerichtshof, da sich die Kommission hierzu in keiner Weise geäußert hat und sich Italien auf bereits bestehende Vorschriften beruft, nicht davon ausgehen, daß die Kommission weiterhin die Auffassung vertritt, Italien habe die Richtlinien überhaupt nicht, also nicht einmal teilweise umgesetzt. Daraus folgt meines Erachtens, daß die Kommission den Umfang der von ihr beantragten Feststellung eingeschränkt hat, und zwar in dem Sinne, daß die Italienische Republik nicht alle Vorschriften der Richtlinien umgesetzt hat.

12.

Unter diesen Umständen ist die Frage der Zulässigkeit der Klage der Kommission zu prüfen; obwohl die italienische Regierung dies in ihrer Klagebeantwortung nicht geltend gemacht hat, kann der Gerichtshof — und meiner Ansicht nach muß er es in der vorliegenden Rechtssache auch — diese Frage von Amts wegen prüfen ( 6 ). Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofes wird „der Gegenstand einer Klage nach Artikel 169 EWG-Vertrag durch das in dieser Bestimmung vorgesehene vorprozessuale Verfahren eingegrenzt. Daher kann die Klage nicht auf andere als die in der mit Gründen versehenen Stellungnahme angeführten Rügen gestützt werden.“ ( 7 ) In der vorliegenden Rechtssache wurden die mit Gründen versehene Stellungnahme und die Klageschrift der Kommission verfaßt, ohne daß die Kommission von der Existenz des D. P. R. 320/54 gewußt hätte, und es ist alles andere als offenkundig, ob ihre Klage die gemäß Artikel 169 des Vertrages gewährleisteten Rechte der Verteidigung wahrt. Darüber hinaus ist der genaue Umfang, in dem Italien den Richtlinien angeblich nicht nachgekommen sein soll, in keinem Stadium des Verfahrens vor dem Gerichtshof genau genug bestimmt worden.

A. Das vorprozessuale Verfahren

13.

In der Vergangenheit hat der Gerichtshof anerkannt, daß die Kommission ihren Feststellungsantrag im Stadium ihrer Erwiderung auf die Klagebeantwortung des Mitgliedstaats noch ändern kann, um spätere Entwicklungen zu berücksichtigen, obwohl sie natürlich ihren ursprünglichen Klageantrag nur einschränken und nicht erweitern darf. In der Rechtssache C-132/94 (Kommission/Irland, im folgenden: Rechtssache Irland ( 8 )) nahm die Kommission ihren Klageantrag z. B. hinsichtlich eines Teils der fraglichen Richtlinie, die Gegenstand der mit Gründen versehenen Stellungnahme und der Klage nach Artikel 169 gewesen war, zurück, da sie einräumte, daß der beklagte Mitgliedstaat in der Zwischenzeit einige der erforderlichen Maßnahmen erlassen habe. Der Gerichtshof gab dem geänderten Antrag auf Feststellung statt, daß Irland dadurch gegen seine Verpflichtungen aus der Richtlinie verstoßen hat, „daß es nicht alle erforderlichen Rechts- und Verwaltungsvorschriften erlassen hat, um der Richtlinie nachzukommen“ (Hervorhebung von mir).

14.

Führt die Änderung des Antrags der Kommission jedoch dazu, daß eine Feststellung begehrt wird, die sich inhaltlich und nicht nur vom Umfang her von der in der mit Gründen versehenen Stellungnahme begehrten Feststellung unterscheidet, so läßt der Gerichtshof den geänderten Antrag nicht zu. Dies war in der Rechtssache C-274/93 (Kommission/Luxemburg, im folgenden: Rechtssache Luxemburg ( 9 )) der Fall. Damals hatte die Kommission auf ihr Aufforderungsschreiben und auf ihre mit Gründen versehene Stellungnahme keine Antwort erhalten, und die luxemburgische Regierung hatte keine Klagebeantwortung eingereicht; etwa zwei Wochen nach Erhebung der Klage übermittelte Luxemburg der Kommission jedoch ein nationales Gesetz, das mehrere Jahre vor dem Erlaß der Richtlinie ergangen war und eine Reihe von Fragen regelte, um die es auch in der Richtlinie ging. Die Kommission beantragte ein Versäumnisurteil gemäß Artikel 94 § 1 der Verfahrensordnung des Gerichtshofes, änderte aber ihren ursprünglichen Antrag auf Feststellung, daß die erforderlichen Maßnahmen nicht erlassen wurden, dahin, daß sie nun die Feststellung begehrte, daß „das Großherzogtum Luxemburg dadurch gegen seine Verpflichtungen aus Artikel 25 der Richtlinie ... sowie aus den Artikeln 5 und 189 EG-Vertrag verstoßen hat, daß es innerhalb der vorgeschriebenen Fristen nicht alle erforderlichen Maßnahmen getroffen hat, um dieser Richtlinie nachzukommen“ ( 10 ).

15.

Der Gerichtshof vertrat die Auffassung, daß die Kommission nun „beantragt, nach der Prüfung des luxemburgischen Gesetzes durch den Gerichtshof festzustellen, daß die Richtlinie lückenhaft und daher mangelhaft umgesetzt worden ist, während die Kommission in ihrer Klageschrift ... beanstandet hat, daß die Richtlinie nicht umgesetzt und die Umsetzungsmaßnahmen nicht mitgeteilt worden seien“ ( 11 ). Der Gerichtshof lehnte dies ab. In seinem Urteil machte er für die vorliegende Rechtssache sehr wichtige Ausführungen dahin gehend, daß „diese Feststellung eine eingehende Untersuchung des luxemburgischen Gesetzes erforderlich machen würde, damit ermittelt werden kann, welche Vorschriften der Richtlinie nicht ordnungsgemäß umgesetzt worden sind ... Der Gerichtshof könnte aber eine solche Untersuchung nur auf der Grundlage eines vorprozessualen Verfahrens durchführen, in dem der beklagte Mitgliedstaat zu den Rügen der Kommission in bezug auf die mangelhafte Umsetzung genau bezeichneter Vorschriften der Richtlinie hat Stellung nehmen können“ ( 12 ). Da Luxemburg im vorprozessualen Verfahren nicht die Gelegenheit erhalten hatte, sich zu diesen genau bezeichneten Rügen zu äußern, wies der Gerichtshof die Klage als unzulässig ab.

16.

Es ist schwierig, hinsichtlich der Folgen der Antragsänderung der Kommission eine sinnvolle Unterscheidung zwischen den in der Rechtssache Luxemburg und den in der vorliegenden Rechtssache gegebenen Umständen zu treffen. In beiden Fällen wurde die Kommission nämlich hinsichtlich ihrer Klage auf Feststellung der vollständig unterbliebenen Umsetzung durch die späte Berufung auf bereits bestehende nationale Vorschriften, von denen sie nichts wußte, überrascht. Selbst das völlige Fehlen einer Antwort des Mitgliedstaats im vorprozessualen Stadium oder die Nichteinreichung einer Klagebeantwortung nahm diesem Staat in der erwähnten Rechtssache nicht den Schutz, den das vorprozessuale Verfahren gewährt. Wegen der schweren Folgen, die sich aus einer Feststellung des Gerichtshofes, daß ein Mitgliedstaat seinen Verpflichtungen aus einer Richtlinie nicht nachgekommen ist, ergeben können, da eine solche Feststellung „die Grundlage für eine Haftung [abgeben kann], die möglicherweise einen Mitgliedstaat infolge seiner Pflichtverletzung ... trifft“ ( 13 ), ist es meiner Ansicht nach unerläßlich, daß der Mitgliedstaat im vorprozessualen Stadium die Gelegenheit erhält, der Rüge der Kommission in bezug auf eine mangelhafte Umsetzung, die sich von der Rüge der vollständig unterbliebenen Umsetzung unterscheidet, entgegenzutreten.

17.

Es darf daher meiner Ansicht nach unter solchen Umständen vom Gerichtshof nicht die Feststellung begehrt werden, daß ein Mitgliedstaat teilweise gegen seine Verpflichtungen verstoßen hat, wenn dieser nicht dazu Stellung nehmen konnte, wie die Kommission den Umfang dieses Verstoßes gewürdigt hat. Dies ergibt sich aus Artikel 169 Absatz 1 des Vertrages, wonach die Kommission nur dann eine mit Gründen versehene Stellungnahme abgeben kann, wenn der Mitgliedstaat Gelegenheit hatte, sich hierzu, also nicht zu einem anderen, wenn auch vielleicht damit zusammenhängenden Verstoß, zu äußern. Wie der Gerichtshof in seinem Beschluß vom 11. Juli 1995 in der Rechtssache C-266/94 (Kommission/Spanien, Slg. 1995, I-1975) ausgeführt hat, „[stellt] der ordnungsgemäße Ablauf des vorprozessualen Verfahrens ... eine durch den Vertrag vorgeschriebene wesentliche Garantie ... dafür dar, daß sichergestellt ist, daß das eventuelle streitige Verfahren einen eindeutig festgelegten Streitgegenstand hat ... Nur auf der Grundlage eines ordnungsgemäßen vorprozessualen Verfahrens kann der Gerichtshof nämlich im kontradiktorischen Verfahren entscheiden, ob der Mitgliedstaat tatsächlich gegen die genau bezeichneten Verpflichtungen verstoßen hat, deren Verletzung von der Kommission geltend gemacht wird.“ ( 14 )

18.

Aus denselben Gründen, die der Gerichtshof in der Rechtssache Luxemburg angeführt hat, liegen meiner Ansicht nach in der vorliegenden Rechtssache ganz andere Umstände vor als in der Rechtssache Irland. Indem die Kommission einräumte, daß Irland eine Reihe von Umsetzungsmaßnahmen getroffen habe, erhielt sie ihre Klage nämlich nur im Hinblick auf diejenigen Vorschriften der Richtlinie aufrecht, die Fische und Fischereierzeugnisse betrafen und die Irland nach eigenen Angaben nicht umgesetzt hatte. Man kann daher sagen, daß das Verfahren vor dem Gerichtshof einen eindeutig festgelegten und unstreitigen Streitgegenstand hatte; obwohl dieser sich von dem Streitgegenstand, um den es im vorprozessualen Stadium und in der Klageschrift der Kommission ging, unterschied, hatte der beklagte Mitgliedstaat im vorprozessualen Stadium Gelegenheit gehabt, sich zu allen von der Kommission beanstandeten Verstößen gegen seine Verpflichtungen zu äußern, und zwar auch zum Verstoß gegen seine Verpflichtung zur Einführung von Veterinärkontrollen bei Fischen und Fischereierzeugnissen. In der Rechtssache Luxemburg hatte der beklagte Mitgliedstaat vor der Einleitung des Rechtsstreits dagegen keine solche Gelegenheit erhalten, zum Vorwurf der Kommission, daß die nationalen Vorschriften die fragliche Richtlinie nicht durchgeführt hätten, Stellung zu nehmen.

19.

Der wesentliche Unterschied scheint mir in der Definition der Vertragsverletzung durch einen Mitgliedstaat zu liegen, die den Gegenstand der Klage bildet. Wenn in der Frage, in welchem Umfang und wie der Mitgliedstaat seinen Verpflichtungen nachgekommen ist, also auch darüber kein Streit besteht, in welchem Umfang er ihnen nach wie vor nicht nachgekommen ist, ist nichts dagegen einzuwenden, daß die Kommission ihren ursprünglichen Antrag einschränkt; der beklagte Mitgliedstaat hatte unter solchen Umständen bereits Gelegenheit, diese Vertragsverletzung im Rahmen der mit Gründen versehenen Stellungnahme zu bestreiten. Bestehen Zweifel am Umfang und an der Art der angeblichen Vertragsverletzung, so muß dem beklagten Mitgliedstaat auch dann, wenn er seinen verfahrensrechtlichen Verpflichtungen nicht nachgekommen ist oder die Vertragsverletzung nicht bestreitet, Gelegenheit gegeben werden, sich zu einer mit Gründen versehenen Stellungnahme zu äußern, in der versucht wird, diese Vertragsverletzung nachzuweisen, ehe der Gerichtshof richtig beurteilen kann, ob der Mitgliedstaat gegen seine Verpflichtungen aus dem Vertrag verstoßen hat.

20.

Die Kommission hat in keinem Stadium des vorliegenden Verfahrens „eine detaillierte und zusammenhängende Darlegung der Gründe ... [vorgelegt], aus denen [sie] zu der Überzeugung gelangt ist“, daß Italien trotz des D. P. R. 320/54 gegen seine Verpflichtungen aus den Richtlinien verstoßen hat, wie sie die mit Gründen versehene Stellungnahme enthalten muß ( 15 ) und zu der Italien hätte Stellung nehmen können. Unter diesen Umständen bin ich der Auffassung, daß die Klage der Kommission als unzulässig abzuweisen ist.

B. Ungenauigkeit des Antrags der Kommission

21.

Selbst wenn der erste Einwand gegen die Zulässigkeit des geänderten Antrags der Kommission irgendwie entkräftet werden könnte, wäre der Gerichtshof meiner Ansicht nach — und zwar aus damit zusammenhängenden Gründen — immer noch nicht in der Lage, über die Begründetheit zu entscheiden, da die Kommission nicht klargestellt hat, gegen welche der Verpflichtungen aus den Richtlinien Italien verstoßen haben soll. Daß die Kommission die geltend gemachten Verstöße eines Mitgliedstaats gegen seine Verpflichtungen genau bezeichnen muß, folgt aus der Natur des Verfahrens nach Artikel 169, und der Gerichtshof hat z. B. in der Rechtssache C-266/94 (Kommission/Spanien ( 16 )) darauf hingewiesen. Obwohl ihr das D. P. R. 320/54 erst sehr spät zur Kenntnis gelangt, hätte sich die Kommission zu seiner Bedeutung für die von der Richtlinie geregelten Gebiete äußern können. Nach ständiger Rechtsprechung „[ist es] im Rahmen eines Vertragsverletzungsverfahrens nach Artikel 169 ... Sache der Kommission, das Vorliegen der behaupteten Vertragsverletzung nachzuweisen. Sie muß dem Gerichtshof die erforderlichen Anhaltspunkte liefern, anhand deren dieser das Vorliegen der Vertragsverletzung prüfen kann; sie kann sich hierfür nicht auf irgendeine Vermutung stützen“ ( 17 ); im vorliegenden Fall war es daher Sache der Kommission, nachzuweisen, in welchem Umfang Italien die Richtlinien nicht umgesetzt hat.

22.

Die Umstände der vorliegenden Rechtssache sind, wenn überhaupt, noch extremer als in der Rechtssache Luxemburg, in der die Kommission versucht hatte, eine Reihe von Vorschriften der Richtlinie zu identifizieren, die durch das nationale Gesetz nicht umgesetzt worden waren, und in der Generalanwalt Jacobs einen systematischen Vergleich zwischen dem älteren luxemburgischen Gesetz und der Richtlinie angestellt und den geänderten Antrag der Kommission untersucht hatte ( 18 ). In ihrer Erwiderung in der vorliegenden Rechtssache hat die Kommission lediglich ihr Erstaunen über das Verhalten der italienischen Regierung geäußert, ohne irgendeine Prüfung der Vorschriften vorzunehmen, auf die sich Italien in seiner Klagebeantwortung berufen hat; obwohl sich die Parteien über die nicht ordnungsgemäße Umsetzung der Richtlinien einig sind, sind dem Gerichtshof keine Angaben über den Umfang der NichtUmsetzung gemacht worden.

23.

Ich glaube auch, daß kein Urteil, das der Gerichtshof zu den wesentlichen Fragen, so wie sie ihm in der vorliegenden Rechtssache unterbreitet worden sind, erlassen könnte, das Ziel des Verfahrens nach Artikel 169 erreichen würde. Dieses besteht nach den Ausführungen des Gerichtshofes in den verbundenen Rechtssachen 15/76 und 16/76 (Frankreich/Kommission) darin, „ein gemeinschaftsrechtswidriges Verhalten eines Mitgliedstaats feststellen und beenden zu lassen“ ( 19 ). Stellt der Gerichtshof fest, daß ein Mitgliedstaat eine Richtlinie teilweise nicht umgesetzt hat, obwohl nach den Umständen nicht bestimmt werden kann, in welchem Umfang er sie nicht umgesetzt hat, so kann der Mitgliedstaat nicht ermitteln, welche „Maßnahmen ..., die sich aus dem Urteil des Gerichtshofes ergeben“, gemäß Artikel 171 Absatz 1 des Vertrages zu ergreifen sind. Auch die Kommission könnte das in Artikel 171 Absatz 2 des Vertrages vorgesehene und durch den Vertrag über die Europäische Union geänderte Verfahren nicht ordnungsgemäß einleiten, wenn das erste Urteil des Gerichtshofes die Frage des Umfangs der NichtUmsetzung offenließe.

24.

Obwohl man es als eklatanten Verstoß gegen die von Generalanwalt Jacobs so bezeichneten „Grundsätze der Prozeßökonomie und der ordnungsgemäßen Rechtspflege“ ( 20 ) empfinden könnte, wenn ein Mitgliedstaat eine ordnungsgemäße Prüfung der Vereinbarkeit seiner Rechtsvorschriften durch die Kommission und den Gerichtshof verzögern könnte, indem er auf Taktiken zurückgriffe, wie sie in der vorliegenden Rechtssache angewandt worden sind, darf man doch nicht vergessen, daß „die Zulässigkeit einer auf Artikel 169 EWG-Vertrag gestützten Klage allein von der objektiven Feststellung der Vertragsverletzung [abhängt]“ und nicht von „irgendeinem Untätigbleiben oder einer ablehnenden Haltung des betroffenen Mitgliedstaats“ ( 21 ) berührt wird. Wie Generalanwalt Roemer in der Rechtssache 7/71 (Kommission/Frankreich) ausgeführt hat, „[geht es in dem] Verfahren nach Artikel 169 EWG-Vertrag ... nicht um Schuld und Moral, sondern einfach um die Klärung der Rechtslage“ ( 22 ). In der vorliegenden Rechtssache hat die Kommission in keinem Verfahrensstadium eine Untersuchung darüber vorgelegt, ob Italien im Lichte des D. P. R. 320/54 seinen Verpflichtungen nachgekommen ist, und ich glaube nicht, daß der Gerichtshof unter diesen Umständen imstande ist, die Rechtslage zu klären, und zwar aus den Gründen, auf die in der Rechtssache Luxemburg hingewiesen wurde ( 23 ).

25.

Ich kann die Argumentation von Generalanwalt Jacobs in seinen erwähnten Schlußanträgen in der Rechtssache Luxemburg ( 24 ) durchaus nachvollziehen und verstehe insbesondere, daß für Mitgliedstaaten unter solchen Umständen ein Anreiz entstünde, „Gesetzestexte erst in einem sehr späten Stadium vorzulegen, und zwar in der Hoffnung, daß die darauf beruhende Änderung der Anträge durch die Kommission die Klage unzulässig machen würde“ ( 25 ). Das ändert jedoch nichts daran, daß ein Mitgliedstaat nach dem Verfahrenssystem des Vertrages nicht gezwungen werden kann, sich in einem Verfahren nach Artikel 169 in irgendeiner Weise zu verteidigen, und auch nicht daran gehindert werden kann, sich erst dann zu verteidigen, wenn das vorprozessuale Stadium abgeschlossen ist. Könnte ein Mitgliedstaat nach einer Klageerhebung beim Gerichtshof solche Einwände nicht mehr vorbringen, so könnte die Kommission tatsächlich „die Rechte und Verpflichtungen eines Mitgliedstaats abschließend festlegen, [während sich] nach dem System der Artikel 169 bis 171 EWG-Vertrag ... die Bestimmung der Rechte und Pflichten der Mitgliedstaaten und die Beurteilung ihres Verhaltens nur aus einem Urteil des Gerichtshofes ergeben [können]“ ( 26 ).

26.

Es hätte der Kommission in der vorliegenden Rechtssache freigestanden, in ihre Vertragsverletzungsklage einen Hilfsantrag auf Feststellung aufzunehmen, daß Italien dadurch gegen die Artikel 20 und 22 der betreffenden Richtlinien und/oder Artikel 5 des Vertrages verstoßen hat, daß es sie nicht von den einschlägigen nationalen Maßnahmen in Kenntnis gesetzt hat ( 27 ); wie oben ausgeführt ( 28 ), hat sie aus Italiens Schweigen gefolgert, daß es solche Maßnahmen nicht gebe, und in ihrer Klageschrift keinen solchen Antrag gestellt.

27.

Der Vollständigkeit halber möchte ich hinzufügen, daß ich dem Umstand, daß der beklagte Mitgliedstaat ausdrücklich die Feststellung beantragt hat, daß die Richtlinien nicht ordnungsgemäß umgesetzt worden sind, keine besondere Bedeutung beimesse. Erstens ergibt sich dies folgerichtig aus seinem Verteidigungsvorbringen einer teilweisen Umsetzung aufgrund des D. P. R. 320/54, und zwar unabhängig davon, ob der beklagte Mitgliedstaat ausdrücklich einen solchen Antrag stellt. Zweitens hat die italienische Regierung keine Angaben dazu gemacht, in welchem Umfang die Richtlinien ihrer Ansicht nach gewissermaßen als durch das Dekret ex ante umgesetzt angesehen werden können. Schließlich sind Verfahren nach Artikel 169, wie bereits gesagt, objektive Verfahren, und der Gerichtshof muß Eingeständnisse des Beklagten nicht berücksichtigen; so hat der Gerichtshof in seinem Urteil vom 7. März 1996 in der Rechtssache C-334/94 (Kommission/Frankreich ( 29 )) die Rügen der Kommission im einzelnen geprüft, und zwar auch diejenigen, die die französische Regierung nicht bestritten hatte.

28.

Ich bin daher der Auffassung, daß die Klage der Kommission als unzulässig abzuweisen ist. Was die Kosten angeht, so hat die italienische Regierung durch ihre mangelnde Mitwirkung offensichtlich die Mißverständnisse verursacht, die die Kommission dazu veranlaßt haben, das Verfahren auf der falschen Grundlage einzuleiten. Ich schlage daher vor, dem beklagten Mitgliedstaat ebenso wie in der Rechtssache Luxemburg die gesamten Kosten aufzuerlegen.

III — Ergebnis

29.

Im Lichte der vorstehenden Ausführungen schlage ich dem Gerichtshof vor,

1.

die Klage der Kommission als unzulässig abzuweisen und

2.

der Italienischen Republik die Kosten des Verfahrens aufzuerlegen.


( *1 ) Originalspraehe: Englisch.

( 1 ) ABl. L 157, S. 19.

( 2 ) ABl. L 167, S. 1.

( 3 ) Gazzetta Ufficiale della Repubblica Italiana Nr. 142 vom 24. Juni 1954, supplemento ordinario.

( 4 ) Im italienischen Original ist von „inadempimenti contestati“ die Rede.

( 5 ) Die andere Alternative wäre die, die Erwiderung der Kommission dahin auszulegen, daß sie ihr ursprüngliches Vorbringen aufrechterhält, wonach Italien seinen Verpflichtungen aus den Richtlinien nicht nachgekommen ist, und so die Existenz des D. P. R. 320/54 einfach zu ignorieren.

( 6 ) Vgl. z. B. Urteil vom 31. März 1992 in der Rechtssache C-362/90 (Kommission/Italien, Slg. 1992, I-2353, Randnr. 8).

( 7 ) Urteil vom 12. Januar 1994 in der Rechtssache C-296/92 (Kommission/Italien, Slg. 1994, I-1, Randnr. 11), in dem die Urteile vom 11. Mai 1989 in der Rechtssache 76/86 (Kommission/Deutschland, Slg. 1989, 1021, Randnr. 8) und vom 17. November 1992 in der Rechtssache C-157/91 (Kommission/Niederlande, Slg. 1992, I-5899, Randnr. 17) zitiert werden.

( 8 ) Slg. 1995, I-4789, Randnr. 9

( 9 ) Slg. 1996, I-2019.

( 10 ) Randnr. 7 des Urteils.

( 11 ) Randnr. 10 des Urteils.

( 12 ) Randnrn. 12 und 13 des Urteils.

( 13 ) Urteil vom 7. Februar 1973 in der Rechtssache 39/72 (Kommission/Italien, Slg. 1973, 101, Randnr. 11); vgl. auch Urteil vom 19. November 1991 in den verbundenen Rechtssachen C-6/90 und C-9/90 (Francovich u. a., Slg. 1991, I-5357) und Urteil vom 5. März 1996 in den verbundenen Rechtssachen C-46/93 und C-48/93 (Brasserie du Pêcheur und Factortame, Slg. 1996, I-1029).

( 14 ) Randnrn. 17 und 18 des Beschlusses.

( 15 ) Urteil vom 28. März 1985 in der Rechtssache 274/83 (Kommission/Italien, Slg. 1985, 1077, Randnr. 21).

( 16 ) Zitiert in Fußnote 14, Randnr. 18 des Beschlusses.

( 17 ) Urteil vom 25. Mai 1982 in der Rechtssache 96/81 (Kommission/Niederlande, Slg. 1982, 1791, Randnr. 6).

( 18 ) Rechtssache C-274/93, zitiert in Fußnote 9, Nrn. 15 bis 46 der Schlußanträge.

( 19 ) Urteil vom 7. Februar 1979 (Slg. 1979, 321, Randnr. 27).

( 20 ) Schlußanträge vom 23. November 1995, Nr. 12.

( 21 ) Urteil vom 1. März 1983 in der Rechtssache 301/83 (Kommission/Belgien, Slg. 1983, 467, Randnr. 8).

( 22 ) Slg. 1971, 1003, 1035.

( 23 ) Randnrn. 12 und 13 des Urteils.

( 24 ) Nr. 24 der vorliegenden Schlußanträge.

( 25 ) Zitiert in Fußnote 9, Nr. 12 der Schlußanträge.

( 26 ) Urteil vom 27. Mai 1981 in den verbundenen Rechtssachen 142/80 und 143/80 (Esscvi und Salengo, Slg. 1981, 1413, Randnr. 16).

( 27 ) Wie sie es bei Klagen nach Artikel 169 oft tut; vgl. z. B. Urteil vom 2. Mai 1996 in der Rechtssache C-234/95 (Kommission/Frankreich, Slg. 1996, I-2415, Randnr. 1).

( 28 ) Nr. 5 dieser Schlußanträge.

( 29 ) Slg. 1996, I-1307, Randnrn. 11 bis 24 des Urteils.