Gutachten 2/94
Gutachten nach Artikel 228 Absatz 6 EG-Vertrag
„Beitritt der Gemeinschaft zur Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten“
Gutachten des Gerichtshofes vom 28. März 1996
Leitsätze des Gutachtens
Völkerrechtliche Verträge – Abschluß – Vorheriges Gutachten des Gerichtshofes – Gegenstand
(EG-Vertrag, Artikel 228 Absatz 6)
Völkerrechtliche Verträge – Verträge der Gemeinschaft – Vorheriges Gutachten des Gerichtshofes – Antrag auf Abgabe eines Gutachtens – Fehlende Angaben zum Inhalt des geplanten Abkommens – Äußerung des Gerichtshofes zur Zuständigkeit der Gemeinschaft, der Europäischen Menschenrechtskonvention beizutreten, jedoch nicht zur Vereinbarkeit des Beitritts mit den Vorschriften des Vertrages – Statthaftigkeit des Antrags – Von dessen Gegenstand abhängig
(EG-Vertrag, Artikel 228 Absatz 6)
Europäische Gemeinschaften – Begrenzte Ermächtigungen – Interne und externe Befugnisse – Ausdrückliche und implizite Ermächtigung
(EG-Vertrag, Artikel 3b)
EG-Vertrag – Artikel 235 – Tragweite – Grenzen – Änderung des Vertrages – Unzulässigkeit
Gemeinschaftsrecht – Grundsätze – Grundrechte – Wahrung durch den Gemeinschaftsrichter – Berücksichtigung der Europäischen Menschenrechtskonvention
(Vertrag über die Europäische Union, Artikel F Absatz 2)
Völkerrechtliche Verträge – Abschluß – Beitritt zur Europäischen Menschenrechtskonvention – Beim gegenwärtigen Stand des Gemeinschaftsrechts fehlende Zuständigkeit der Gemeinschaft
(EG-Vertrag, Artikel 235)
Das in Artikel 228 Absatz 6 des Vertrages vorgesehene außerordentliche Verfahren, das es ermöglicht, ein Gutachten des Gerichtshofes über die Vereinbarkeit eines geplanten Abkommens mit dem Vertrag einzuholen, stellt ein besonderes Verfahren des Zusammenwirkens zwischen dem Gerichtshof auf der einen sowie den weiteren Gemeinschaftsorganen und den Mitgliedstaaten auf der anderen Seite dar, in dem der Gerichtshof gemäß Artikel 164 des Vertrages die Aufgabe hat, die Wahrung des Rechts bei der Auslegung und Anwendung des Vertrages vor Abschluß eines Abkommens zu sichern, das zur Anfechtung der Rechtmäßigkeit einer zum Abschluß, zur Durchführung oder zur Anwendung dieses Abkommens erlassenen Gemeinschaftshandlung führen kann. Es soll Verwicklungen vermeiden, die sich sowohl auf Gemeinschaftsebene als auch auf dem Gebiet der internationalen Beziehungen aus einer gerichtlichen Entscheidung ergeben könnten, die ein völkerrechtliches Abkommen, das die Gemeinschaft verpflichtet, wegen seines Inhalts oder der Form seines Zustandekommens für mit dem Vertrag unvereinbar erklären würde.
Inwieweit die fehlende Bestimmtheit des Inhalts eines geplanten Abkommens die Statthaftigkeit eines gemäß Artikel 228 Absatz 6 des Vertrages an den Gerichtshof gerichteten Antrags berührt, hängt vom Gegenstand des Antrags ab.
Handelt es sich um eine Frage der Zuständigkeit der Gemeinschaft zum Abschluß eines Abkommens, so ist diese im Interesse der Gemeinschaftsorgane und der betroffenenen Staaten, einschließlich der Drittländer, zu klären, wenn mit den Verhandlungen begonnen, jedenfalls aber bevor über die wesentlichen Punkte des Abkommens verhandelt wird, lediglich vorausgesetzt, daß der Gegenstand des Abkommens vor Eröffnung der Verhandlungen bekannt sein muß.
Soll sich der Gerichtshof dagegen über die Vereinbarkeit der Bestimmungen eines geplanten Abkommens mit den Vorschriften des Vertrages äußern, ist es erforderlich, daß er über hinreichende Angaben zum Inhalt dieses Abkommens verfügt.
Deshalb kann der Gerichtshof, mit der Frage befaßt, ob der Beitritt der Gemeinschaft zur Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten mit dem Vertrag vereinbar ist, auch wenn noch kein Beschluß über die Aufnahme von Verhandlungen gefaßt worden ist, ein Gutachten zur Zuständigkeit der Gemeinschaft für diesen Beitritt abgeben, da der allgemeine Gegenstand der Konvention, ihr Regelungsbereich und die institutionelle Tragweite eines Beitritts für die Gemeinschaft genau bekannt sind; da jedoch die Bedingungen des Beitritts und insbesondere die Regelungen, nach denen sich die Gemeinschaft den gegenwärtigen und künftigen gerichtlichen Kontrollmechanismen der Konvention zu unterwerfen beabsichtigt, nicht konkretisiert worden sind, kann elkein Gutachten über die Vereinbarkeit des Beitritts zu dieser Konvention mit den Vorschriften des Vertrages abgeben.
Nach Artikel 3b des Vertrages wird die Gemeinschaft innerhalb der Grenzen der ihr in diesem Vertrag zugewiesenen Befugnisse und gesetzten Ziele tätig; sie verfügt demnach nur über begrenzte Ermächtigungen. Dieser Grundsatz der begrenzten Ermächtigung gilt sowohl für internes als auch für völkerrechtliches Gemeinschaftshandeln. Die Gemeinschaft handelt im Regelfall aufgrund spezifischer Befugnisse, die sich nicht notwendig ausdrücklich aus spezifischen Bestimmungen des Vertrages ergeben müssen, sondern auch implizit aus ihnen abgeleitet werden können. Demgemäß kann sich die Zuständigkeit der Gemeinschaft zur Eingehung völkerrechtlicher Verpflichtungen nicht nur aus ausdrücklichen Vertragsbestimmungen ergeben, sondern auch implizit aus diesen Bestimmungen folgen. Immer dann, wenn das Gemeinschaftsrecht den Organen der Gemeinschaft im Hinblick auf ein bestimmtes Ziel im Inneren eine Zuständigkeit verleiht, ist die Gemeinschaft befugt, die zur Erreichung dieses Ziels erforderlichen völkerrechtlichen Verpflichtungen einzugehen, auch wenn insoweit eine ausdrückliche Bestimmung fehlt.
Artikel 235 des Vertrages soll einen Ausgleich in Fällen schaffen, in denen den Gemeinschaftsorganen durch spezifische Bestimmungen des Vertrages ausdrücklich oder implizit verliehene Befugnisse fehlen und gleichwohl Befugnisse erforderlich erscheinen, damit die Gemeinschaft ihre Aufgaben im Hinblick auf die Erreichung eines der vom Vertrag festgelegten Ziele wahrnehmen kann.
Als integrierender Bestandteil einer auf dem Grundsatz der begrenzten Ermächtigung beruhenden institutionellen Ordnung kann diese Bestimmung keine Grundlage dafür bieten, den Bereich der Gemeinschaftsbefugnisse über den allgemeinen Rahmen hinaus auszudehnen, der sich aus der Gesamtheit der Vertragsbestimmungen und insbesondere denjenigen ergibt, die die Aufgaben und Tätigkeiten der Gemeinschaft festlegen. Sie kann jedenfalls nicht als Rechtsgrundlage finden Erlaß von Bestimmungen dienen, die der Sache nach, gemessen an ihren Folgen, auf eine Vertragsänderung ohne Einhaltung des hierfür vom Vertrag vorgesehenen Verfahrens hinausliefen.
Die Grundrechte gehören zu den allgemeinen Rechtsgrundsätzen, deren Wahrung der Gemeinschaftsrichter zu sichern hat. Dabei läßt sich der Gemeinschaftsrichter von den gemeinsamen Verfassungstraditionen der Mitgliedstaaten sowie von den Hinweisen leiten, die die völkerrechtlichen Verträge über den Schutz der Menschenrechte geben, an deren Abschluß die Mitgliedstaaten beteiligt waren oder denen sie beigetreten sind. In diesem Rahmen kommt der Europäischen Menschenrechtskonvention, auf die insbesondere in Artikel F Absatz 2 des Vertrages über die Europäische Union verwiesen wird, besondere Bedeutung zu.
Beim gegenwärtigen Stand des Gemeinschaftsrechts verfügt die Gemeinschaft nicht über die Zuständigkeit, der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten beizutreten, da zum einen keine Bestimmung des Vertrages den Gemeinschaftsorganen allgemein die Befugnis verleiht, Vorschriften auf dem Gebiet der Menschenrechte zu erlassen oder völkerrechtliche Verträge in diesem Bereich zu schließen, und zum anderen ein solcher Beitritt nicht durch Rückgriff auf Artikel 235 des Vertrages bewerkstelligt werden kann.
Zwar ist die Wahrung der Menschenrechte eine Voraussetzung für die Rechtmäßigkeit der Handlungen der Gemeinschaft, doch hätte der Beitritt der Gemeinschaft zur Europäischen Menschenrechtskonvention eine wesentliche Änderung des gegenwärtigen Gemeinschaftssystems des Schutzes der Menschenrechte zur Folge, da er die Einbindung der Gemeinschaft in ein völkerrechtliches, andersartiges institutionelles System und die Übernahme sämtlicher Bestimmungen der Konvention in die Gemeinschaftsrechtsordnung mit sich brächte. Eine solche Änderung des Systems des Schutzes der Menschenrechte in der Gemeinschaft, die grundlegende institutionelle Auswirkungen sowohl auf die Gemeinschaft als auch auf die Mitgliedstaaten hätte, wäre von verfassungsrechtlicher Dimension und ginge daher ihrem Wesen nach über die Grenzen des Artikels 235 hinaus. Sie kann nur im Wege einer Vertragsänderung vorgenommen werden.