URTEIL DES GERICHTS (Vierte Kammer)

26. Januar 1995

Rechtssache T-549/93

D

gegen

Kommission der Europäischen Gemeinschaften

„Beamte — Disziplinarverfahren — Disziplinarrat — Ermittlungen — Sexuelle Belästigung“

Vollständiger Wortlaut in französischer Sprache   II-43

Gegenstand:

Klage auf Aufhebung des Beschlusses der Kommission vom 30. September 1993, mit dem gegen den Kläger die in Artikel 86 Absatz 2 Buchstabe f des Statuts vorgesehene Disziplinarstrafe der Entfernung aus dem Dienst ohne Aberkennung oder Kürzung des Anspruchs auf das nach dem Dienstalter bemessene Ruhegehalt verhängt wurde

Ergebnis:

Abweisung

Zusammenfassung des Urteils

Am 4. Mai 1993 wurde dem Kläger mitgeteilt, daß gegen ihn ein Disziplinarverfahren eingeleitet werde, weil er beschuldigt werde, während des Zeitraums, in dem er das Amt des Delegationsleiters ausgeübt habe, das weibliche Personal der Delegation sexuell belästigt und administrative Unregelmäßigkeiten begangen zu haben. Nach einer Anhörung wurde er gemäß Artikel 88 des Statuts seines Amtes ohne Verlust seiner Bezüge vorläufig enthoben. Die Anstellungsbehörde beauftragte sodann einen Beamten, an ihrer Stelle die Beschwerdeführerinnen und die Zeugen, die sich gemeldet hatten, zu vernehmen und den Tatort in Augenschein zu nehmen. Am 9. Juli 1993 befaßte die Anstellungsbehörde den Disziplinarrat mit der vorliegenden Angelegenheit durch einen Bericht, in dem dem Kläger vorgeworfen wurde, er habe weibliche örtliche Bedienstete der betreffenden Delegation sexuell belästigt, während er die Delegation geleitet habe. Der Bericht hatte nicht mehr die „schweren administrativen Unregelmäßigkeiten“ zum Gegenstand. In seiner Stellungnahme vom 27. Juli 1993 empfahl der Disziplinarrat der Anstellungsbehörde, „gegen Herrn D die in Artikel 86 Absatz 2 Buchstabe f des Statuts genannte Disziplinarstrafe zu verhängen, d. h. die Entfernung aus dem Dienst ohne Aberkennung seiner Ansprüche auf Ruhegehalt“. Bei seiner Anhörung vor dem Disziplinarrat beantragte der Kläger die Durchführung zusätzlicher Ermittlungen, bei denen den Beteiligten Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben werde und die namentlich eine Gegenüberstellung mit den drei Beschwerdeführerinnen sowie ein ärztliches Gutachten umfassen sollten. Dieser Antrag wurde vom Disziplinarrat abgelehnt. Nachdem der Kläger erneut angehört worden war, teilte ihm die Anstellungsbehörde mit, daß sie beschlossen habe, seinem Antrag, jeder Beschwerdeführerin gegenübergestellt zu werden, bevor ihm gegenüber ein Beschluß gefaßt werde, stattzugeben. Diese Gegenüberstellung fand am 7. September 1993 vor einem Beauftragten der Anstellungsbehörde statt. Am 15. September 1993 hörte die Anstellungsbehörde den Kläger gemäß Artikel 7 des Anhangs IX des Statuts abschließend an.

Am Ende dieses Verfahrens verhängte die Anstellungsbehörde gegen den Kläger die Disziplinarstrafe der Entfernung aus dem Dienst ohne Aberkennung seiner Ansprüche auf Ruhegehalt mit Wirkung vom 1. Dezember 1993, die sie damit begründete, daß die zur Last gelegten Handlungen, wie sie sich aus den Aussagen der Opfer ergäben, eine sehr schwere Verfehlung und eine Straftat nach gemeinem Recht darstellten, die weder der Gesundheitszustand des Klägers noch ein anderer Umstand in irgendeiner Weise entschuldigen könnten.

Zum ersten Klagegrund des Verstoßes gegen Artikel 7 Absatz 3 des Anhangs IX des Statuts und Artikel 88 Absatz 3 des Statuts

Zum Verstoß gegen Artikel 7 Absatz 3 des Anhangs IX des Statuts

Die Frist des Artikels 7 Absatz 3 des Anhangs IX des Statuts ist keine Ausschlußfrist, doch läßt sie eine Regel ordnungsgemäßer Verwaltung erkennen, die im Interesse sowohl der Verwaltung als auch der Beamten eine ungerechtfertigte Verzögerung beim Erlaß des Beschlusses, der das Disziplinarverfahren beendet, verhindern soll. Demzufolge sind die Disziplinarbehörden verpflichtet, das Disziplinarverfahren mit Umsicht zu betreiben und so vorzugehen, daß jede Verfolgungsmaßnahme innerhalb einer Frist erfolgt, die gegenüber der vorhergehenden Maßnahme angemessen ist. Die Nichteinhaltung dieser Frist - die nur aufgrund der besonderen Umstände des Falles beurteilt werden kann - kann die Aufhebung des Beschlusses zur Folge haben (Randnr. 25).

Verweisung auf: Gerichtshof, 4. Februar 1970, Van Eick/Kommission, 13/69, Slg. 1970, 3; Gerichtshof, 29. Januar 1985, F./Kommission, 228/83, Slg. 1985, 275; Gerichtshof, 19. April 1988, M./Rat, 175/86 und 209/86, Slg. 1988, 1891; Gericht, 17. Oktober 1991, De Compte/Parlament, T-26/89, Slg. 1991, II-781, Randnr. 88

Das Gericht stellt angesichts der Umstände des vorliegenden Falles fest, daß die verschiedenen Maßnahmen, die im Disziplinarverfahren gegenüber dem Kläger ergangen sind, innerhalb einer angemessenen Frist aufeinandergefolgt sind (Randnr. 26).

Zum Verstoß gegen Artikel 88 Absatz 3 des Statuts

Artikel 88 Absatz 3 des Statuts soll, im Licht der anderen Absätze dieses Artikels gesehen, verhindern, daß ein Beamter, gegen den ein Disziplinarverfahren läuft, seine Bezüge für mehr als vier Monate verlieren kann, ohne daß über seinen Fall entschieden wird. Diese Frist von vier Monaten ist nur insoweit eine Ausschlußfrist, als der Beamte nach ihrem Ablauf wieder seine vollen Dienstbezüge erhält, wie dies in Artikel 88 Absatz 4 vorgesehen ist (Randnrn. 32 und 33).

Da der Kläger während der vorläufigen Dienstenthebung seine Bezüge weiter erhalten hatte, greift das Argument der Nichteinhaltung der Frist des Artikels 88 Absatz 3 des Statuts somit nicht durch (Randnr. 34).

Zum zweiten Klagegrund des Verstoßes gegen Artikel 87 Absatz 2 des Statuts und die Verteidigungsrechte

Der Disziplinarrat ist nach Artikel 6 des Anhangs IX des Statuts befugt, nach seinem Ermessen darüber zu entscheiden, ob es der Anordnung von Ermittlungen, bei denen den Beteiligten Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben wird, bedarf (Randnr. 44).

Verweisung auf: Gerichtshof, 11. Juli 1985, R./Kommission, 255/83 und 256/83, Slg. 1985, 2473, Randnr. 24

Im vorliegenden Fall hat die Anstellungsbehörde, der eine Stellungnahme des Disziplinarrats vorlag, von der feststeht, daß sie ordnungsgemäß war, beschlossen, im Interesse des Klägers eine Gegenüberstellung zwischen dem Kläger und den Beschwerdeführerinnen vorzunehmen, obwohl der Disziplinarrat entschieden hatte, daß eine solche Gegenüberstellung unnötig sei. Der Kläger trägt vor, die Anstellungsbehörde sei angesichts dessen, daß der Disziplinarrat nicht von Amts wegen habe tätig werden können, verpflichtet gewesen, ihn mit dem Ergebnis der Gegenüberstellung erneut zu befassen (Randnrn. 43 und 45).

Die Tatsache, daß die Anstellungsbehörde nach dem Wortlaut des Artikels 11 des Anhangs IX des Statuts nicht verpflichtet ist, das Disziplinarverfahren wiederaufzunehmen, indem sie erneut den Disziplinarrat befaßt, schließt nicht aus, daß sich eine solche Verpflichtung aus dieser Vorschrift ergeben kann, wenn sie im Licht des übergeordneten Rechtsgrundsatzes der Wahrung der Verteidigungsrechte gesehen wird (Randnrn. 47 und 48).

Der Inhalt des Begriffes „neue Tatsachen“ in Artikel 11 des Anhangs IX des Statuts ist unter Berücksichtigung von Artikel 1 dieses Anhangs zu bestimmen, wonach in dem Bericht, durch den der Disziplinarrat befaßt wird, „die zur Last gelegten Handlungen und etwaige Tatumstände eindeutig anzugeben sind“. Ergibt eine zusätzliche Ermittlungsmaßnahme somit eine zur Last gelegte neue Handlung oder einen neuen Tatumstand oder einen anderen Umstand, der die Beurteilung der tatsächlichen Begehung, des Umfangs oder der Schwere der zur Last gelegten Handlungen ändern kann, wodurch der Inhalt des Berichts, durch den der Disziplinarrat befaßt wurde, geändert wird, ist die Anstellungsbehörde demzufolge nach Artikel 11 des Anhangs IX des Statuts unter Berücksichtigung des übergeordneten Rechtsgrundsatzes der Wahrung der Verteidigungsrechte verpflichtet, das Disziplinarverfahren durch Einreichung eines neuen Berichtes beim Disziplinarrat wiederaufzunehmen (Randnr. 49).

Das Gericht ist der Ansicht, daß die Anstellungsbehörde im vorliegenden Fall mit vollem Recht zu dem Ergebnis gelangt ist, daß die Gegenüberstellung keine neuen Tatsachen ergeben hat und daß sie somit nicht verpflichtet war, den Disziplinarrat erneut zu befassen (Randnr. 54).

Die Anstellungsbehörde kann ihre Befugnisse aus Gründen des ordnungsgemäßen Funktionierens der Dienststellen während des Disziplinarverfahrens delegieren, sofern die den Beamten im Statut gegebenen Garantien gewahrt und die Grundsätze über eine ordnungsgemäße Verwaltungsführung im Personalwesen nicht gefährdet werden (Randnr. 57).

Verweisung auf: Gerichtshof, 8. Juli 1965, Fonzi/Kommission, 27/64 und 30/64, Slg. 1965, 652; Gerichtshof, 30. Mai 1973, DeGreef/Kommission, 46/72, Slg. 1973, 543; Gerichtshof, 30. Mai 1973, Drescig/Kommission, 49/72, Slg. 1973, 565

Das Gericht stellt fest, daß im vorliegenden Fall die dem Kläger im Statut gegebenen Garantien nicht verletzt wurden, da die Anstellungsbehörde durch ein Protokoll, das den Ablauf der Gegenüberstellung im einzelnen beschreibt, ausreichend unterrichtet war (Randnr. 58).

Zum dritten Klagegrund eines offensichtlichen Beurteilungsfehlers

Die Anstellungsbehörde hat nicht die Beschwerden der Opfer und den Beweis vermengt, indem sie die zur Last gelegten Handlungen als erwiesen angesehen hat. Diese betreffen Handlungen sexueller Natur, die der Kläger gegenüber drei weiblichen Bediensteten seiner Delegation in seinem für gewöhnlich verschlossenen Büro oder in einem privaten Appartement vorgenommen haben soll, das einem Praktikanten, der zu dieser Zeit abwesend gewesen sei, zur Verfügung gestanden habe. Der Kläger habe sich u. a. in vulgärer Weise an die Opfer gewandt und seine sexuellen Wünsche zum Ausdruck gebracht. Er habe exhibitionistische Handlungen vorgenommen, vor einem der Opfer masturbiert, eines der Opfer gezwungen, seine Geschlechtsorgane zu berühren, und versucht, mit einem der Opfer geschlechtlich zu verkehren. Zu all diesen Handlungen sei es wiederholt und ohne Einverständnis der betreffenden örtlichen Bediensteten gekommen (Randnrn. 67 und 68).

Die Anstellungsbehörde hat mehrere Beweismittel beigebracht. Zunächst gibt es die Aussagen der drei Opfer, die dreimal gemacht wurden und in allen Punkten übereinstimmen. Die Tatsache, daß sich drei weibliche Bedienstete gleichzeitig über ein und dieselbe Art von Verhalten beschweren, verleiht ihren Aussagen mehr Gewicht, als wenn nur eine von ihnen solche Aussagen gemacht hätte. Die Glaubwürdigkeit dieser Aussagen wird durch die Aussagen anderer Angehöriger des Delegationspersonals erhärtet, die von den Prüfern der Kommission aufgenommen wurden (Randnrn. 69 bis 71).

Das Gericht stellt fest, daß diese Beweismittel dafür ausreichten, daß die Anstellungsbehörde die zur Last gelegten Handlungen für erwiesen halten konnte (Randnr. 72).

Da diese Handlungen dem Ansehen des Amtes im Sinne von Artikel 12 des Statuts abträglich sind, konnte die Anstellungsbehörde den Schluß ziehen, daß der Kläger in schwerer Weise gegen seine Pflichten aus dem Statut und die mit seinem Amt verbundenen Verpflichtungen verstoßen hat (Randnr. 75).

Die damit bewiesenen Handlungen fallen unter den Begriff der sexuellen Belästigung wie er sich aus dem Anhang der Empfehlung 92/131 ergibt, wonach erforderlich ist, daß das Verhalten sexueller Natur ist oder aufgrund der Geschlechtszugehörigkeit erfolgt, daß es für die betroffene Person unerwünscht ist und daß es eine einschüchternde, feindselige oder demütigende Arbeitsumwelt für die betroffene Person schafft oder ihr so dargestellt wird, daß es für sie je nachdem, ob sie es duldet oder zurückweist, berufliche Vor- oder Nachteile nach sich ziehen wird. Bei einem Verhalten wie dem des Klägers ist es für das Vorliegen einer sexuellen Belästigung nicht erforderlich, daß die Opfer deutlich machen, daß dieses unerwünscht sei, da ein derartiges Erfordernis nur dann besteht, wenn mit den zur Last gelegten Handlungen ein bloßes sexuelles Interesse bekundet wird (Randnrn. 76 und 77).

Das Gericht stellt fest, daß die drei Tatbestandsmerkmale der sexuellen Belästigung im vorliegenden Fall erfüllt sind (Randnr. 81).

Zum vierten Klagegrund des Ermessensmißbrauchs

Da die bewiesenen Handlungen den angefochtenen Beschluß, der die Bestrafung des in disziplinarischer Hinsicht verfehlten Verhaltens des Klägers bezweckt, grundsätzlich voll rechtfertigen, kann der Klagegrund des Ermessensmißbrauchs nicht stichhaltig sein (Randnr. 87).

Zum fünften Klagegrund des Verstoßes gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, die Empfehlung 92/131 und die Begründungspflicht

Da die dem Beamten zur Last gelegten Taten festgestellt sind, kami die Disziplinarbehörde die angemessene Strafe wählen. Das Gericht kami demnach nur bei Vorliegen eines offensichtlichen Rechtsfehlers oder Ermessensmißbrauchs die Beurteilung der Anstellungsbehörde durch seine eigene Beurteilung ersetzen (Randnr. 96).

Verweisung auf: F./Kommission, a. a. O.

Das Gericht ist angesichts der Schwere der festgestellten Taten der Ansicht, daß die von der Anstellungsbehörde verhängte Disziplinarstrafe nicht auf einem offensichtlichen Beurteilungsfehler beruht (Randnr. 97).

Eine sexuelle Belästigung stellt einen Disziplinarverstoß dar, für den Artikel 86 des Statuts abgestufte Strafen vorsieht. Die im Statut aufgestellte Disziplinarordnung legt kein festes Verhältnis zwischen Strafe und begangenem Verstoß fest. Die Kommission war daher nicht verpflichtet, abgestufte Strafen festzulegen, die den verschiedenen Arten sexueller Belästigung entsprechen, um solche Handlungen disziplinarisch ahnden zu können (Randnr. 98).

Die Verpflichtung, eine beschwerende Entscheidung zu begründen, soll es dem Gemeinschaftsrichter ermöglichen, die Rechtmäßigkeit der Entscheidung zu überprüfen, und dem Betroffenen die notwendigen Hinweise für die Feststellung geben, ob die Entscheidung begründet ist. Diese Verpflichtung ist in jedem Fall konkret zu ermitteln, wobei die Umstände, unter denen die streitige Entscheidung ergangen ist, zu berücksichtigen sind (Randnr. 99).

Verweisung auf: Gerichtshof, 9. Juni 1983, Verzyck/Kommission, 225/82, Slg. 1983, 1991; Gerichtshof, 13. Juli 1989, Cendoya/Kommission, 108/88, Slg. 1989, 2711; Gerichtshof, 21. Juni 1984, Lux/Rechnungshof, 69/83, Slg. 1984, 2447, Randnr. 36

Das Gericht stellt fest, daß die Begründung des streitigen Beschlusses ausreichend ist (Randnrn. 100 und 101).

Zum sechsten Klagegrund des Verstoßes gegen die Verpflichtung, eine psychiatrische Untersuchung des Klägers zu veranlassen

Der anormale Charakter des Verhaltens des Klägers stellt für sich allein keinen Anhaltspunkt dafür dar, daß der Kläger für seine Handlungen nicht verantwortlich gewesen wäre, und konnte somit den Disziplinarrat oder die Anstellungsbehörde nicht dazu verpflichten, eine psychiatrische Untersuchung des Klägers zu veranlassen (Randnrn. 105 und 106).

Tenor:

Die Klage wird abgewiesen.