Verbundene Rechtssachen T-24/93, T-25/93, T-26/93 und T-28/93
Compagnie maritime belge transports SA u. a.
gegen
Kommission der Europäischen Gemeinschaften
„Wettbewerb — Internationaler Seeverkehr — Linienkonferenzen — Verordnung (EWG) Nr. 4056/86 — Beeinträchtigung des Handels — Kollektive beherrschende Stellung — Durchführung einer ein Ausschließlichkeitsrecht vorsehenden Vereinbarung — ‚Kampfschiffe‘ — Treuerabatte — Geldbußen — Beurteilungskriterien“
Urteil des Gerichts (Dritte erweiterte Kammer) vom 8. Oktober 1996 II-1207
Leitsätze des Urteils
Verkehr – Seeverkehr – Wettbewerbsregeln – Gruppenfreistellung – Einschränkende Auslegimg – Freistellung von Vereinbarungen über die Aufteilung der Fahrten unter den Mitgliedern einer Linienkonferenz – Umfang
(EG-Vertrag, Artikel 85 Absatz 3; Verordnung Nr. 4056/86 des Rates, Artikel 3)
Wettbewerb – Beherrschende Stellung – Kollektiv beherrschende Stellung – Begriff – Linienkonferenz
(EG-Vertrag, Artikel 86; Verordnung Nr. 4056/86 des Rates, Artikel 1 Absatz 3 Buchstabe b)
Wettbewerb – Beherrschende Stellung – Vorliegen – Besonders hohe Marktanteile – Im allgemeinen ausreichendes Indiz
(EG-Vertrag, Artikel 86)
Wettbewerb – Beherrschende Stellung – Verpflichtungen des marktbeherrschenden Unternehmens – Angemessene Ausübung eines Vetorechts hinsichtlich des Marktzugangs Dritter
(EG-Vertrag, Artikel 86)
Wettbewerb – Verwaltungsverfahren – Gewährung rechtlichen Gehörs – Mitteilung der Beschwerdepunkte
Wettbewerb – Beherrschende Stellung – Mißbrauch – Keine Erreichung des erhofften Ergebnisses – Unbeachtlich
(EG-Vertrag, Artikel 86)
Verkehr – Seeverkehr – Wettbewerbsregeln – Beherrschende Stellung – Mißbrauch – Absolutes Verbot – Keine Freistellung nach der Verordnung Nr. 4056/86
(EG-Vertrag, Artikel 86; Verordnung Nr. 4056/86 des Rates)
Verkehr – Seeverkehr – Wettbewerbsregeln – Anwendbarkeit des Artikels 85 auf Treueabmachungen einer Linienkonferenz – Voraussetzungen – Befugnisse der Kommission
(EG-Vertrag, Artikel 85; Verordnung Nr. 4056/86, Artikel 5 Nr. 2 und Artikel 7)
Verkehr – Seeverkehr – Wettbewerbsregeln – Beherrschende Stellung – Mißbrauch – Linienkonferenz – Hundertprozentige Treueabmachungen, die einseitig aufgezwungen wurden, sich auf fob-Verkäufe beziehen und schwarze Listen untreuer Verhder umfassen
(EG-Vertrag, Artikel 86)
Wettbewerb – Kartelle – Beherrschende Stellung – Beeinträchtigung des Handels zwischen Mitgliedstaaten – Beurteilungskriterien
(EG-Vertrag, Artikel 85 und 86)
Wettbewerb – Geldbußen – Höhe – Festsetzung – Kriterien – Vorsätzlichkeit der Zuwiderhandlung – Schwere der Zuwiderhandlung – Praxis einer Linienkonferenz in beherrschender Stellung, die auf die Verdrängung eines Wettbewerbers vom Markt abzielt
(EG-Vertrag, Artikel 86)
Wettbewerb – Geldbußen – Verhalten einer Linienkonferenz, das deren Mitgliedern zugerechnet werden kann – Höhe – Festsetzung nach dem Ausmaß der Beteiligung der Mitglieder – Zulässigkeit
Wettbewerb – Geldbußen – Höhe – Festsetzung – Kriterien – Gesamtumsatz des betreffenden Unternehmens – Umsatz, der mit den Waren erzielt wurde, die von der Zuwiderhandlung betroffen sind – Entsprechende Berücksichtigung
(Verordnung Nr. 17 des Rates, Artikel 15 Absatz 2; Verordnung Nr. 4056/86 des Rates, Artikel 19)
Nichtigkeitsklage – Klagegründe – Ermessensmißbrauch – Begriff
Nichtigkeitsklage – Anfechtbare Handlungen – Bußgeldentscheidung wegen Verstoßes gegen die Wettbewerbsregeln – Höhe der Verzugszinsen – Einbeziehung
In Anbetracht des allgemeinen Verbotes wettbewerbsbeschränkender Vereinbarungen in Artikel 85 Absatz 1 des Vertrages müssen Ausnahmevorschriften einer Freistellungsverordnung einschränkend ausgelegt werden. Dies gilt auch für die Bestimmungen der Verordnung Nr. 4056/86, die bestimmte Vereinbarungen vom Verbot des Artikels 85 Absatz 1 des Vertrages freistellen, wobei Artikel 3 der Verordnung eine Gruppenfreistellung im Sinne des Artikels 85 Absatz 3 des Vertrages darstellt.
Danach kann Artikel 3 Buchstabe c der Verordnung Nr. 4056/86, der sich auf die Abstimmung oder Aufteilung der Fahrten oder des Anlaufens „unter den Mitgliedern der Konferenz“ bezieht, nicht auf Aufteilungsvereinbarungen unter Konferenzen angewandt werden, zumal die Freistellung für Vereinbarungen vorgesehen ist, die in erster Linie die gemeinsame Preisgestaltung zum Gegenstand haben.
Artikel 86 des Vertrages kann auf Sachverhalte Anwendung finden, bei denen mehrere Unternehmen auf dem relevanten Markt zusammen eine beherrschende Stellung einnehmen. Vom Vorliegen einer solchen Stellung kann nur dann gesprochen werden, wenn die betreffenden Unternehmen so eng miteinander verbunden sind, daß sie auf dem Markt in gleicher Weise vorgehen könnten.
Dies kann bei Reedern der Fall sein, die aufgrund der engen Beziehungen, die zwischen ihnen im Rahmen einer Linienkonferenz im Sinne des Artikels 1 Absatz 3 Buchstabe b der Verordnung Nr. 4056/86 bestehen, zusammen in der Lage sind, auf dem relevanten Markt gemeinsame Praktiken anzuwenden, die so geartet sind, daß sie einseitige Verhaltensweisen darstellen.
Eine beherrschende Stellung kann sich aus mehreren Faktoren ergeben, die isoliert betrachtet nicht notwendig entscheidend wären. Besonders hohe Marktanteile liefern jedoch, von außergewöhnlichen Umständen abgesehen, ohne weiteres den Beweis für das Vorliegen einer solchen Stellung.
Ein Unternehmen in beherrschender Stellung trägt unabhängig von den Ursachen dieser Stellung nach Artikel 86 des Vertrages eine besondere Verantwortung dafür, daß es durch sein Verhalten einen wirksamen und unverfälschten Wettbewerb im Gemeinsamen Markt nicht beeinträchtigt. Unter Artikel 86 fallen somit alle Verhaltensweisen eines Unternehmens in beherrschender Stellung, die die Aufrechterhaltung oder Entwicklung des bestehenden Wettbewerbs auf einem Markt behindern, auf dem der Wettbewerb gerade wegen der Anwesenheit dieses Unternehmens bereits geschwächt ist.
Zwar nimmt der Umstand, daß ein Unternehmen eine beherrschende Stellung innehat, diesem nicht das Recht, seine eigenen geschäftlichen Interessen zu wahren, wenn diese bedroht sind, und das Unternehmen hat auch in angemessenem Umfang die Möglichkeit, so vorzugehen, wie es dies zum Schutz seiner Interessen für richtig hält; jedoch ist ein derartiges Verhalten nicht zulässig, wenn es auf eine Verstärkung dieser beherrschenden Stellung und ihren Mißbrauch abzielt.
Ein Unternehmen in beherrschender Stellung, dem ein Ausschließlichkeitsrecht zusteht, von dem mit seiner Zustimmung Abweichungen möglich sind, muß von dem ihm in der Vereinbarung eingeräumten Vetorecht hinsichtlich des Marktzugangs Dritter angemessenen Gebrauch machen. Ein Unternehmen, das im Rahmen eines Planes zur Verdrängung des einzigen Wettbewerbers auf dem Markt Schritte unternimmt, um die strikte Wahrung seiner Rechte sicherzustellen, macht von seinem Vetorecht keinen angemessenen Gebrauch.
Die Entscheidung, mit der ein Verstoß gegen die Wettbewerbsregeln festgestellt wird, braucht nicht notwendig ein Abbild der Mitteilung der Beschwerdepunkte zu sein.
Wenn ein oder mehrere Unternehmen in beherrschender Stellung tatsächlich eine Praxis anwenden, deren Ziel die Verdrängung eines Wettbewerbers ist, so genügt es für eine Verneinung der mißbräuchlichen Ausnutzung einer beherrschenden Stellung im Sinne des Artikels 86 des Vertrages nicht, daß das erhoffte Ergebnis nicht erreicht worden ist.
Da für die mißbräuchliche Ausnutzung einer beherrschenden Stellung keine Freistellung nach Artikel 86 des Vertrages gelten kann und die Gewährung einer Freistellung durch einen Akt des abgeleiteten Rechts mit Rücksicht auf die Grundsätze der Normenhierarchie nicht von dieser Bestimmung abweichen kann, läßt sich die Verordnung Nr. 4056/86 nicht dahin auslegen, daß sie eine solche Freistellung gewährt, zumal ihr Artikel 8 Absatz 1 bestimmt, daß der Mißbrauch einer beherrschenden Stellung im Sinne von Artikel 86 des Vertrages verboten ist, ohne daß ein entsprechender vorheriger Beschluß erforderlich ist.
Liegt ein Verstoß gegen Artikel 85 des Vertrages vor, weil die Treueabmachungen einer Linienkonferenz nicht mit den Verpflichtungen aus Artikel 5 Nummer 2 der Verordnung Nr. 4056/86 vereinbar sind, so kann die Kommission gemäß Artikel 7 dieser Verordnung den Mitgliedern der Konferenz empfehlen, den Wortlaut ihrer Treueabmachungen mit diesen Verpflichtungen in Einklang zu bringen.
Eine Linienkonferenz nutzt ihre beherrschende Stellung mißbräuchlich aus, wenn sie den Verladern einseitig hundertprozentige Treueabmachungen auferlegt, die sich auch auf fob-Verkäufe erstrecken, und eine „schwarze Liste“ untreuer Verlader aufstellt, um diese zu bestrafen. Diese Praxis bewirkt insgesamt eine Beschränkung der Freiheit der Verkehrsnutzer und damit eine Beeinträchtigung der Wcttbewcrbsstellung der Wettbewerber.
Eine Vereinbarung zwischen Unternehmen wie auch eine mißbräuchliche Ausnutzung einer beherrschenden Stellung ist geeignet, den Handel zwischen Mitglied-Staaten zu beeinträchtigen, wenn sich anhand einer Gesamtheit objektiver rechtlicher oder tatsächlicher Umstände mit hinreichender Wahrscheinlichkeit voraussehen läßt, daß sie den Warenverkehr zwischen Mitglicdstaaten unmittelbar oder mittelbar, tatsächlich oder potentiell in einem der Erreichung der Ziele eines einheitlichen zwischenstaatlichen Marktes nachteiligen Sinne beeinflussen kann. So ist es insbesondere nicht erforderlich, daß das beanstandete Verhalten den Handel zwischen Mitgliedstaaten tatsächlich spürbar beeinträchtigt hat; es genügt der Nachweis, daß dieses Verhalten geeignet ist, eine derartige Wirkung zu entfalten.
Vereinbarungen zwischen Linienkonferenzen, die den Zweck haben, den Mitgliedern einer Konferenz zu untersagen, als unabhängige Reeder von Gemeinschaftshäfen aus eine Linie zu bedienen, die dem Einzugsgebiet einer anderen Linienkonferenz, die Partei der Vereinbarung ist, entspricht, sind auf eine weitere Abschottung des Marktes der von den Unternehmen der Gemeinschaft angebotenen Seeverkehrsdienstleistungcn gerichtet und daher geeignet, den Handel zwischen Mitgliedstaaten zu beeinträchtigen. Diese Vereinbarungen sind außerdem geeignet, den Wettbewerb im Gemeinsamen Markt zum einen zwischen den in diesen Vereinbarungen genannten Häfen der Gemeinschaft — durch Änderung ihres Einzugsbereichs — und zum anderen zwischen den in diesen Einzugsbereichen ausgeübten Tätigkeiten mittelbar zu beeinträchtigen.
Was die in Artikel 86 des Vertrages genannten Mißbrauche angeht, so sind für die Beurteilung der Frage, ob der Mißbrauch einer beherrschenden Stellung zu einer Beeinträchtigung des Handels zwischen Mitgliedstaaten führen kann, die Auswirkungen auf die Struktur eines wirksamen Wettbewerbs im Gemeinsamen Markt zu berücksichtigen. Danach sind die Praktiken, mit denen eine Gruppe von Unternehmen den größten im Gemeinsamen Markt ansässigen Wettbewerber vom Markt zu verdrängen sucht, ihrer Art nach geeignet, die Wettbewerbsstruktur im Gemeinsamen Markt und damit den Handel zwischen Mitgliedstaaten zu beeinträchtigen. Darüber hinaus sind diese Praktiken der Linienkonferenzen geeignet, den Wettbewerb in demselben Sinne wie die Vereinbarungen zwischen den Konferenzen, deren Mitglieder sie sind, mittelbar zu beeinträchtigen.
Bei der Bemessung einer wegen Verstoßes gegen die Wettbewerbsregeln zu verhängenden Geldbuße ist es als schwere vorsätzliche Zuwiderhandlung gegen Artikel 86 des Vertrages anzusehen, wenn eine Linienkonferenz in beherrschender Stellung eine mißbräuchliche Praxis anwendet, um den einzigen auf dem Markt tätigen Wettbewerber zu verdrängen.
Besitzt eine Linienkonferenz keine Rechtspersönlichkeit, so kann die Kommission, wenn sie einen Verstoß gegen die Wettbewerbsregeln des Vertrages feststellt, Geldbußen anstatt gegen die Konferenz selbst unmittelbar gegen deren Mitglieder verhängen, sofern sie die Mitteilung der Beschwerdepunkte an jedes dieser Mitglieder gerichtet hat. Dies gilt auch für den Fall, daß in den Mitteilungen der Beschwerdepunkte nur von der Möglichkeit der Festsetzung einer Geldbuße gegen die Linienkonferenz die Rede war, da deren Mitglieder wissen mußten, daß gegen sie möglicherweise eine Geldbuße verhängt werden würde.
In diesem Zusammenhang verstößt die Kommission nicht gegen den Grundsatz der Gleichbehandlung, wenn sie die gegen die einzelnen Mitglieder der Konferenz zu verhängenden Geldbußen nach dem Ausmaß der Beteiligung an der Zuwiderhandlung und nicht nach ihrem Anteil am Einnahmen-Pool der Konferenz festsetzt.
Was die Berücksichtigung des Umsatzes des zuwiderhandelnden Unternehmens bei der Festsetzung der Geldbuße angeht, die gegen dieses wegen Verstoßes gegen die Wettbewerbsregeln zu verhängen ist, so kann im Rahmen des Artikels 15 Absatz 1 der Verordnung Nr. 17 wie in demjenigen des Artikels 19 der Verordnung Nr. 4056/86 sowohl der Gesamtumsatz des Unternehmens, der — wenn auch nur näherungsweise und ungenau — Auskunft über die Größe des Unternehmens und seine Wirtschaftskraft gibt, als auch der Anteil dieses Umsatzes berücksichtigt werden, der auf die von der Zuwiderhandlung betroffenen Erzeugnisse entfällt und der daher einen Hinweis auf den Umfang der Zuwiderhandlung gibt.
Eine Entscheidung ist nur dann ermessensmißbräuchlich, wenn aufgrund objektiver, schlüssiger und übereinstimmender Indizien anzunehmen ist, daß sie ausschließlich oder zumindest vorwiegend zu anderen als den angegebenen Zwecken erlassen worden ist. Das kann dann nicht der Fall sein, wenn die Kommission bei der Bemessung der gegen einen Reeder wegen Verstoßes gegen die Wettbewerbsregeln des Vertrages verhängten Geldbuße die einige Monate zuvor gegen ein anderes Seeverkehrsunternehmen verhängte Geldbuße berücksichtigt, womit sie die Kohärenz der Anwendung des Wettbewerbsrechts der Gemeinschaft sicherstellt.
Der Adressat einer Entscheidung, mit der eine Geldbuße wegen Verstoßes gegen die Wettbewerbsregeln verhängt wird, kann die darin erfolgte Festsetzung der Höhe der vom betreffenden Unternehmen zu zahlenden Verzugszinsen im Wege der Nichtigkeitsklage vor dem Gemeinschaftsrichter anfechten.