BESCHLUSS DES GERICHTSHOFES VOM 5. MAERZ 1993. - FERRIERE ACCIAIERIE SARDE SPA GEGEN KOMMISSION DER EUROPAEISCHEN GEMEINSCHAFTEN. - UNZULAESSIGKEIT. - RECHTSSACHE C-102/92.
Sammlung der Rechtsprechung 1993 Seite I-00801
Leitsätze
Entscheidungsgründe
Kostenentscheidung
Tenor
++++
Nichtigkeitsklage ° Fristen ° Beginn ° Handlung, die dem Kläger nicht mitgeteilt worden ist ° Verpflichtung, nach Erlangung der Kenntnis vom Vorliegen der Handlung binnen angemessener Frist ihren vollständigen Wortlaut anzufordern
(EGKS-Vertrag, Artikel 33, Absatz 3)
Unabhängig von der Frage, ob eine Entscheidung, mit der die Rückforderung einer unter den EGKS-Vertrag fallenden staatlichen Beihilfe angeordnet wird, dem betroffenen Unternehmen mitzuteilen ist, kann dieses nicht mit der Begründung, die Entscheidung sei ihm nicht mitgeteilt worden, den Ausschluß seiner Klage wegen Verspätung verhindern, wenn es vom Vorliegen dieser Entscheidung erfahren hat und nicht binnen angemessener Frist um deren Übermittlung ersucht hat.
1 Die Ferriere Acciaierie Sarde SpA (im folgenden: FAS) hat mit Klageschrift, die am 27. März 1992 bei der Kanzlei des Gerichtshofes eingegangen ist, gemäß Artikel 33 Absatz 3 EGKS-Vertrag oder Artikel 173 Absatz 2 EWG-Vertrag Klage erhoben auf Nichtigerklärung der Entscheidung 91/547/EGKS der Kommission vom 5. Juni 1991 über die von der autonomen Region Sardinien zugunsten des Unternehmens Ferriere Acciaierie Sarde gewährte Beihilfe (ABl. L 298, S. 1).
2 Am 26. Januar 1989 meldeten die italienischen Behörden der Kommission eine mit dem Regionalgesetz Nr. 41 vom 14. September 1987 zur Förderung des Umweltschutzes auf der Insel Sardinien durch die selektive Beseitigung, das Recycling und die Wiederverwendung von Abfällen geschaffene Beihilferegelung sowie eine aufgrund dieser Regelung der FAS im Jahr 1987 gewährte Beihilfe von 1 796 Milliarden LIT. Die Kommission genehmigte diese Regelung unter der Bedingung, daß sie den unter den EGKS-Vertrag fallenden Unternehmen nicht zugute komme, und die italienischen Behörden erklärten sich mit Schreiben vom 24. April 1990 bereit, diese Bedingung einzuhalten.
3 Mit Schreiben vom 8. Juni 1990 unterrichteten die italienischen Behörden die FAS davon, daß sie die Rückforderung der Beihilfe, die sie ihr gezahlt hatten, beabsichtigten und daß die Modalitäten dieser Rückforderung geprüft würden. Am 26. November 1990 teilten sie der Kommission mit, daß über die Rückzahlung der Beihilfe mit der FAS verhandelt werde.
4 Da jedoch kein Rückzahlungsplan erstellt wurde, leitete die Kommission am 19. Dezember 1990 das Verfahren nach Artikel 6 Absatz 4 ihrer Entscheidung Nr. 322/89/EGKS vom 1. Februar 1989 zur Einführung gemeinschaftlicher Vorschriften über Beihilfen an die Eisen- und Stahlindustrie (ABl. L 38, S. 8) ein, indem sie an die italienischen Behörden ein Schreiben mit der Aufforderung, zu den fraglichen Maßnahmen Stellung zu nehmen, übersandte. Das Schreiben wurde im Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften vom 7. Februar 1991 (C 32, S. 4) in Form einer Mitteilung veröffentlicht, die "an die anderen Mitgliedstaaten und Interessenten zu italienischen Beihilfen für die Société Ferriere Acciaierie Sarde" gerichtet war, damit auch diese sich zu diesem Vorgang äussern konnten.
5 Nachdem die italienischen Behörden und eine Berufsorganisation im Rahmen dieses Verfahrens Stellung genommen hatten, erließ die Kommission am 5. Juni 1991 die genannte Entscheidung 91/547, die Gegenstand der vorliegenden Klage ist.
6 In der Entscheidung heisst es, daß die Subvention, die der FAS 1987 von den Behörden der autonomen Region Sardinien bewilligt wurde, eine unrechtmässige staatliche Beihilfe sei, weil sie ohne vorherige Genehmigung der Kommission gewährt und mit dem Gemeinsamen Markt unvereinbar sei, und daß sie daher im Wege der Rückzahlung aufzuheben sei. Die Entscheidung wurde der italienischen Regierung am 27. Juni 1991 zugestellt und im Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften am 29. Oktober 1991 veröffentlicht.
7 Die FAS stellt klar, daß ihre Klage auf Nichtigerklärung der Entscheidung 91/547 gleichzeitig auf der Grundlage des Artikels 33 EGKS-Vertrag und des Artikels 173 EWG-Vertrag erhoben worden sei, weil diese Entscheidung in der Frage, ob ihre Durchführung unter die Bestimmungen des EGKS-Vertrags oder die des EWG-Vertrags falle, eine gewisse Doppeldeutigkeit aufweise.
8 Mit am 16. Juni 1992 bei der Kanzlei des Gerichtshofes eingegangenem Schriftsatz hat die Kommission eine Einrede der Unzulässigkeit gemäß Artikel 91 § 1 der Verfahrensordnung erhoben, die im wesentlichen mit der Verspätung der Klage begründet wird.
9 In ihrer Stellungnahme zu dieser Einrede hat die FAS mehrere Argumente vorgebracht, die aus der Verletzung der Grundsätze des Vertrauensschutzes und der Rechte der Verteidigung, aus der Tatsache, daß sie angeblich sowohl vom Erlaß der streitigen Entscheidung als auch von dem ihr vorausgegangenen Verfahren nichts gewusst hat, und aus dem rechtlichen Nichtbestehen dieser Entscheidung hergeleitet sind.
10 Die FAS macht dabei hauptsächlich geltend, sie habe ein berechtigtes Vertrauen in die Rechtmässigkeit der fraglichen Beihilfe gehabt und als einzige Empfängerin dieser Beihilfe hätte sie individuell die Entscheidung 91/547 sowie die im Amtsblatt vom 7. Februar 1991 erschienene Mitteilung erhalten müssen, weil sie insoweit nicht habe verpflichtet sein können, sämtliche im Amtsblatt veröffentlichten Texte zu kontrollieren und zu überprüfen. Ohne sich ein Versäumnis zuschulden kommen zu lassen, habe sie während des Verwaltungsverfahrens keine Gelegenheit zur Stellungnahme gehabt, und erst am 16. Januar 1992 habe die autonome Region Sardinien sie über das Vorliegen der Entscheidung der Kommission unterrichtet und ihr dabei die Rückzahlung aufgegeben. Eine Kopie der Entscheidung 91/547 habe sie auf ihre Bitte von den italienischen Behörden erst mit Schreiben vom 23. März 1992 erhalten. Da ihr die Beanstandungen, die die Kommission gegenüber den italienischen Behörden vorgebracht habe, nicht bekannt gewesen seien, habe sie erst zu diesem Zeitpunkt eine genaue Kenntnis vom Inhalt der Entscheidung erlangen und somit von ihrem Klagerecht Gebrauch machen können. Die FAS führt weiter aus, daß die ihr übersandte Entscheidung im Unterschied zu der veröffentlichten Entscheidung nirgends die Angabe "EGKS" enthalte. Unter Berufung auf das Urteil des Gerichts erster Instanz vom 27. Februar 1992 in den verbundenen Rechtssachen T-79/89, T-84/89, T-85/89, T-86/89, T-89/89, T-91/89, T-92/89, T-94/89, T-96/89, T-98/89, T-102/89 und T-104/89 (BASF u. a./Kommission, Slg. 1992, II-315) ersucht sie daher den Gerichtshof, der Kommission die Vorlegung des Originals ihrer Entscheidung aufzugeben. Die FAS vertritt schließlich die Auffassung, daß die Verletzung der Grundsätze des Vertrauensschutzes und der Rechte der Verteidigung das rechtliche Nichtbestehen der fraglichen Entscheidung zur Folge habe und die Klage somit nicht den gesetzlichen Fristen unterworfen sei.
11 Die FAS macht hilfsweise geltend, daß die oben genannten Umstände insgesamt geeignet seien, einen Fall höherer Gewalt oder einen Zufall im Sinne von Artikel 39 der EGKS-Satzung des Gerichtshofes zu bilden.
12 Nach Artikel 92 § 1 der Verfahrensordnung kann der Gerichtshof, wenn eine Klage offensichtlich unzulässig ist, nach Anhörung des Generalanwalts, ohne das Verfahren fortzusetzen, durch Beschluß entscheiden, der mit Gründen zu versehen ist. Angesichts der Umstände der vorliegenden Rechtssache hat der Gerichtshof beschlossen, diese Vorschriften anzuwenden.
13 Vorab ist in bezug auf die von der FAS aus der Verletzung des Grundsatzes des Vertrauensschutzes und aus dem Nichtbestehen der angegriffenen Handlung hergeleiteten Argumente darauf hinzuweisen, daß sich ein sorgfältiger Gewerbetreibender vergewissern muß, daß eine Beihilfe dem Gemeinschaftsrecht entspricht (Urteil vom 20. September 1990 in der Rechtssache C-5/89, Kommission/Deutschland, Slg. 1990, I-3437), und daß jedenfalls nichts in den Akten es erlaubt, die angegriffene Entscheidung als rechtlich inexistent anzusehen.
14 Im Hinblick auf die von der Kommission geltend gemachte Verspätung der Klage ist sodann festzustellen, daß die streitige Entscheidung auf den EGKS-Vertrag gestützt ist und daher die Vorschriften dieses Vertrages im vorliegenden Fall anwendbar sind.
15 Gemäß Artikel 33 Absatz 3 EGKS-Vertrag ist die Nichtigkeitsklage gegen eine Entscheidung der Kommission innerhalb eines Monats nach Zustellung oder Veröffentlichung der Entscheidung zu erheben. Da die streitige Entscheidung am 29. Oktober 1991 im Amtsblatt veröffentlicht wurde, steht fest, daß die Klage lange nach Ablauf dieser Frist erhoben worden ist.
16 Ohne die Rechtmässigkeit der im Vertrag vorgesehenen Klagefristen zu bestreiten, vertritt die FAS jedoch die Ansicht, daß die Frist im vorliegenden Fall nicht zum Zeitpunkt der Veröffentlichung der streitigen Entscheidung begonnen habe, weil diese Entscheidung ihr als einziger Empfängerin der fraglichen Beihilfe hätte zugestellt werden müssen. Da eine solche Zustellung nicht erfolgt sei, habe die Frist im vorliegenden Fall erst zu dem Zeitpunkt beginnen können, zu dem die FAS eine genaue Kenntnis vom Inhalt und von der Begründung dieser Entscheidung erlangt habe.
17 Zu dem Argument, das die FAS aus der fehlenden Zustellung der streitigen Entscheidung herleitet, ist festzustellen, daß diese Entscheidung gemäß dem System des EGKS-Vertrags und der genannten Entscheidung Nr. 322/89 der Kommission an die Italienische Republik gerichtet war, die die Verpflichtung hatte, die für die Befolgung der Entscheidung notwendigen Maßnahmen zu treffen. Eine individuelle Zustellung einer solchen Entscheidung an die beteiligten Unternehmen ist in den Vorschriften nicht vorgesehen.
18 Ohne daß zu entscheiden wäre, ob die streitige Entscheidung der FAS unter den Umständen des vorliegenden Falles hätte zugestellt werden müssen, ist indessen daran zu erinnern, daß es nach der Rechtsprechung des Gerichtshofes demjenigen, der vom Vorliegen einer ihn betreffenden Handlung erfährt, obliegt, deren vollständigen Wortlaut binnen angemessener Frist anzufordern (vgl. Urteile vom 6. Juli 1988 in der Rechtssache 236/86, Dillinger Hüttenwerke/Kommission, Slg. 1988, 3761, Randnr. 14, und vom 6. Dezember 1990 in der Rechtssache C-180/88, Wirtschaftsvereinigung Eisen- und Stahlindustrie/Kommission, Slg. 1990, I-4413, Randnrn. 22 bis 24). Es steht jedoch fest, daß die FAS vom Vorliegen der streitigen Entscheidung spätestens dann erfuhr, als sie das oben erwähnte Schreiben der sardischen Behörden vom 16. Januar 1992 erhielt. Aus den Akten ergibt sich, daß dieses Schreiben ihr am 18. Januar 1992 zugegangen ist.
19 Aus dAus den Akten ergibt sich ebenfalls, daß sich die FAS erst am 18. März 1992, also zwei Monate, nachdem sie vom Vorliegen der Entscheidung erfahren hatte, an die sardischen Behörden wandte, um den vollständigen Wortlaut der Entscheidung zu erhalten, während sie bereits am 10. März 1992 ihre Rechtsanwälte beauftragt hatte, diese Entscheidung vor dem Gerichtshof anzufechten. Daraus folgt, daß eine angemessene Frist für die Anforderung des vollständigen Wortlauts der streitigen Entscheidung unter den Umständen des vorliegenden Falles weit überschritten war und die Klage jedenfalls verspätet erhoben worden ist.
20 Was das Argument der höheren Gewalt oder des Zufalls betrifft, so ist darauf hinzuweisen, daß sich der Begriff der höheren Gewalt, abgesehen von den Besonderheiten der spezifischen Bereiche, in denen er verwendet wird, im wesentlichen auf ungewöhnliche, vom Willen des Betroffenen unabhängige Schwierigkeiten bezieht, die selbst bei Beachtung aller erforderlichen Sorgfalt unvermeidbar erscheinen (Urteil vom 9. Februar 1984 in der Rechtssache 284/82, Busseni/Kommission, Slg. 1984, 557). Keiner der von der FAS geltend gemachten Umstände ist geeignet, einen solchen Fall höherer Gewalt oder Zufall darzustellen.
21 Aus den vorstehenden Ausführungen ergibt sich, daß die Klage als offensichtlich unzulässig abzuweisen ist.
Kosten
22 Nach Artikel 69 § 2 der Verfahrensordnung ist die unterliegende Partei zur Tragung der Kosten zu verurteilen. Da die Klägerin mit ihrem Vorbringen unterlegen ist, sind ihr die Kosten aufzuerlegen.
Aus diesen Gründen
hat
DER GERICHTSHOF
beschlossen:
1) Die Klage wird als offensichtlich unzulässig abgewiesen.
2) Die Klägerin trägt die Kosten des Verfahrens.
Luxemburg, den 5. März 1993.