61991C0165

Schlussanträge des Generalanwalts Darmon vom 14. Januar 1993. - SIMON J. M. VAN MUNSTER GEGEN RIJKSDIENST VOOR PENSIOENEN. - ERSUCHEN UM VORABENTSCHEIDUNG: ARBEIDSHOF ANTWERPEN - BELGIEN. - SOZIALE SICHERHEIT - FREIZUEGIGKEIT DER ARBEITNEHMER - GLEICHHEIT ZWISCHEN MAENNERN UND FRAUEN - ALTERSRENTE - ZUSCHLAG FUER DEN UNTERHALTSBERECHTIGTEN EHEGATTEN. - RECHTSSACHE C-165/91.

Sammlung der Rechtsprechung 1994 Seite I-04661


Schlußanträge des Generalanwalts


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Herr Präsident,

meine Herren Richter!

1. Die vorliegende Rechtssache hat ihren Ursprung in den Schwierigkeiten, denen Gemeinschaftsangehörige, die teils in Belgien, teils in den Niederlanden eine nicht selbständige Tätigkeit ausgeuebt haben, in bezug auf ihre Rentenansprüche für ihren nicht erwerbstätigen Ehegatten seit Änderung der einschlägigen Rechtsvorschriften in den Niederlanden mit Wirkung vom 1. April 1985 gegenüberstehen.

2. Dieses Problem ist Ihnen bereits bekannt. Es stellte sich in der Rechtssache Bakker. Weil die Ihnen damals gestellte Frage anders lautete, war jedoch in diesem Urteil(1) nicht auf die Ihnen heute vorliegenden Fragestellungen einzugehen, die im wesentlichen dahin gehen, ob die Vereinbarkeit der belgischen Regelung mit dem Gemeinschaftsrecht durch die Folgen, die sich aus der Änderung der niederländischen Rechtsvorschriften für die Anwendung der belgischen Regelung ergeben, in Frage gestellt wird.

3. Ich verzichte auf eine Darlegung der fraglichen nationalen Regelungen, d. h. zum einen der Königlichen Verordnung Nr. 50 vom 24. Oktober 1967, geändert durch das Gesetz vom 15. Mai 1984 über die Alters- und Hinterbliebenenrenten der Arbeitnehmer, und zum anderen der Algemene Ouderdomswet (Gesetz über die allgemeine Altersversorgung; nachstehend: AOW) in der 1985 geänderten Fassung ° insoweit verweise ich auf den Sitzungsbericht(2) ° und beschränke mich darauf, die für das Verständnis der Rechtssache wesentlichen Merkmale in Erinnerung zu rufen.

4. Nach der belgischen Regelung erhält ein Arbeitnehmer im Ruhestand eine "Familienrente" in Höhe von 75 %, wenn sein Ehegatte nicht mehr erwerbstätig ist und keine Alters- oder Hinterbliebenenrente oder an deren Stelle getretene Vergünstigung erhält, oder ° in den anderen Fällen ° eine "Alleinstehendenrente" in Höhe von 60 %.

5. Bis 1985 erhielt ein Arbeitnehmer im Ruhestand auch nach der AOW einen Zuschlag zur Rente für den unterhaltsberechtigten nicht erwerbstätigen Ehegatten.

6. Folglich ergaben sich für den Wanderarbeitnehmer bis dahin insoweit keine Probleme. Den Zuschlag zur Rente, den er in den Niederlanden erhielt, wirkte sich nicht auf seine Ansprüche auf eine belgische Familienrente aus.

7. Seit der Änderung der AOW durch Gesetz vom 28. März 1985, das gemäß der Richtlinie 79/7/EWG des Rates vom 19. Dezember 1978 zur schrittweisen Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen im Bereich der sozialen Sicherheit(3) (nachstehend: Richtlinie) erlassen wurde, ist dies nicht mehr der Fall.

8. Die niederländische Regierung trägt vor, daß das mit der AOW eingeführte allgemeine Versicherungssystem nicht ° wie in vielen Ländern, zu denen auch Belgien gehört(4) ° auf die Ausübung einer Erwerbstätigkeit, sondern auf die Dauer des Aufenthalts des Berechtigten in den Niederlanden zwischen seinem fünfzehnten und fünfundsechzigsten Lebensjahr abstellt.

9. Die Berücksichtigung der Unterhaltspflichten in der Familie bis 1985 hatte sich dahin ausgewirkt, daß die AOW nur dem verheirateten Mann ° bei Vollversicherung ° einen Rentenanspruch in Höhe von 100 % des Mindestentgelts gewährte, während ein Mann oder eine Frau, die ledig waren, nur einen Rentenanspruch in Höhe von 70 % hatten und eine verheiratete Frau überhaupt keinen eigenen Leistungsanspruch hatte.

10. Um diese Rechtsvorschriften mit der Richtlinie in Einklang zu bringen, waren die Niederlande der Auffassung, daß jeder, ob Mann oder Frau, der aufgrund der AOW versichert war, vom fünfundsechzigsten Lebensjahr an einen eigenen Leistungsanspruch haben sollte.

11. Dies war bei dem Ehepaar Van Munster der Fall. Simon van Munster, 1920 geboren, war von 1974 bis 1981 in Belgien und während nahezu einundvierzig Jahren in den Niederlanden als Arbeitnehmer beschäftigt.

12. Im Jahr 1985 ° er war fünfundsechzig Jahre alt geworden und hatte seine nicht erwerbstätige Frau zu unterhalten ° beantragte er bei der zuständigen belgischen Behörde, dem Rijksdienst voor Pensiönen (nachstehend: RVP), Beklagter des Ausgangsverfahrens, eine Altersrente, die ihm auf der Grundlage des Satzes für Familien gewährt wurde.

13. Die andere Altersrente, die Herr Van Munster in den Niederlanden bezog und die einen Zuschlag für den nicht erwerbstätigen unterhaltsberechtigten Ehegatten enthielt, wurde, als Frau Van Munster selbst fünfundsechzig Jahre alt geworden war, in zwei Renten, für jeden Ehegatten eine eigene, aufgespalten.

14. Obwohl der Gesamtbetrag der beiden niederländischen Renten nicht über dem der Leistung lag, die Herr Van Munster vorher erhalten hatte, hatte die Umwandlung des vorher für die Ehefrau an den Ehemann gezahlten Zuschlags in eine eigene Rente der Ehefrau zur Folge, daß er in Belgien nicht mehr die Familienrente, sondern nur noch die Alleinstehendenrente erhielt. Dies führte zu einer Verringerung der Einkünfte von Herrn Van Munster aus seiner belgischen Rente um 15 %.

15. Der Betroffene wollte sich ° verständlicherweise ° mit einer solchen Einkommensminderung nicht abfinden. Er zog gegen die an ihn gerichtete Entscheidung des RVP vor Gericht. Im Rahmen des Rechtsmittelverfahrens gegen die in erster Instanz ergangene Entscheidung der Arbeidsrechtbank Antwerpen richtet der Arbeidshof Antwerpen an Sie zwei Vorabentscheidungsfragen, deren Wortlaut im Sitzungsbericht wiedergegeben ist(5).

16. Diese Fragen gehen im wesentlichen dahin

° zu klären, ob es mit dem EWG-Vertrag und insbesondere den Grundsätzen der Freizuegigkeit der Arbeitnehmer und der Gleichbehandlung von Männern und Frauen vereinbar ist, wenn eine nationale Rechtsvorschrift für die Zahlung einer Leistung zugunsten eines nicht erwerbstätigen Ehegatten unterschiedliche Folgen vorsieht, je nachdem ob sie in Form einer Erhöhung der Rente des erwerbstätigen Ehegatten oder in Form einer eigenen Rente des anderen Ehegatten erfolgt,

° festzustellen, ob es im Hinblick auf das Gemeinschaftsrecht gerechtfertigt ist, die dem nicht erwerbstätigen Ehegatten ° wie nach der AOW seit 1985 ° gewährte Rente anders zu behandeln als die Rente, die in Form einer Erhöhung der Rente für den unterhaltsberechtigten Ehegatten gewährt wird.

17. Lassen Sie mich zunächst die Frage der Vereinbarkeit mit dem Grundsatz der Gleichbehandlung von Männern und Frauen erledigen.

18. Das vorlegende Gericht stellt insbesondere auf Artikel 4 Absatz 1 der Richtlinie ab, der vorschreibt:

"Der Grundsatz der Gleichbehandlung beinhaltet den Fortfall jeglicher unmittelbaren oder mittelbaren Diskriminierung aufgrund des Geschlechts, insbesondere unter Bezugnahme auf den Ehe- oder Familienstand, und zwar im besonderen betreffend:

...

° die Berechnung der Leistungen, einschließlich der Zuschläge für den Ehegatten und für unterhaltsberechtigte Personen, sowie die Bedingungen betreffend die Geltungsdauer und die Aufrechterhaltung des Anspruchs auf die Leistungen".

Jedoch ist es den Mitgliedstaaten nach Artikel 7 Absatz 1 ° wie die Kommission zu Recht ausführt ° gestattet, vom Anwendungsbereich der Richtlinie auszuschließen:

"...

c) die Gewährung von Ansprüchen auf Leistungen wegen Alter oder Invalidität aufgrund abgeleiteter Ansprüche der Ehefrau".

19. Ebenso wurde in den Schriftsätzen der Parteien des Ausgangsverfahrens und der Streithelfer wie auch in den Ausführungen in der Sitzung auf einen etwaigen Verstoß gegen den Grundsatz der Freizuegigkeit der Arbeitnehmer abgestellt.

20. Das vorlegende Gericht bezieht sich insoweit auf die Artikel 3 Buchstabe c, 48 Absätze 1 ff. und 51 EWG-Vertrag.

21. In bezug auf die Interessen, um die es in der vorliegenden Rechtssache geht, schreiben diese Bestimmungen folgendes vor:

° Artikel 3 Buchstabe c: die Beseitigung der Hindernisse für den freien Personenverkehr zwischen den Mitgliedstaaten;

° Artikel 48: die Herstellung der Freizuegigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Gemeinschaft (Absatz 1), die Abschaffung jeder auf der Staatsangehörigkeit beruhenden unterschiedlichen Behandlung der Arbeitnehmer der Mitgliedstaaten in bezug auf Beschäftigung, Entlohnung und sonstige Arbeitsbedingungen (Absatz 2), das Recht, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen, um sich auf tatsächlich angebotene Stellen zu bewerben, und sich dort aufzuhalten, um eine Beschäftigung auszuüben (Artikel 3 Buchstaben a, b und c);

° Artikel 51: den Erlaß der für die Herstellung der Freizuegigkeit der Arbeitnehmer notwendigen Maßnahmen auf dem Gebiet der sozialen Sicherheit, insbesondere durch Einführung eines Systems, welches zu- und abwandernden Arbeitnehmern und deren anspruchsberechtigten Angehörigen die Zusammenrechnung aller nach den verschiedenen innerstaatlichen Rechtsvorschriften berücksichtigten Zeiten für den Erwerb und die Aufrechterhaltung des Leistungsanspruchs sowie für die Berechnung der Leistungen sichert.

22. Einfach ausgedrückt stellt sich dem vorlegenden Gericht die Frage, ob die fragliche Bestimmung des belgischen Sozialrechts ein Hindernis für die Freizuegigkeit der Arbeitnehmer darstellt. Ist dies der Fall, so hat es unter Berücksichtigung der von Ihnen gegebenen Orientierungshilfen zu entscheiden, ob ein solches Hindernis mit Rücksicht auf das Gemeinschaftsrecht als gerechtfertigt angesehen werden kann.

23. Bekanntlich weist das Sozialrecht der Mitgliedstaaten beträchtliche Unterschiede auf: Der Gemeinschaftsgesetzgeber hat auf diesem Gebiet noch keine Harmonisierung in Angriff genommen, sondern sich im derzeitigen Stadium mit der Ausarbeitung einfacher Koordinierungsregeln(6) begnügt.

24. Sie haben diese Vielfalt zugelassen, aber darauf bestanden, daß sie den Schutz der Freizuegigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Gemeinschaft wahren müsse.

25. Dazu ist in erster Linie der Gemeinschaftsgesetzgeber verpflichtet.

26. So haben Sie im Urteil Pinna I(7) den Artikel 73 Absatz 2 der Verordnung Nr. 1408/71 insoweit für ungültig erklärt, als danach Arbeitnehmern, die dem französischen Recht unterlagen, für ihre im Gebiet eines anderen Mitgliedstaats wohnenden Familienangehörigen keine französischen Familienleistungen gewährt wurden.

27. Hier sind zwei Randnummern dieses Urteils zu zitieren.

28. Sie haben darin zunächst darauf hingewiesen, daß

"... Artikel 51 EWG-Vertrag eine Koordinierung, nicht aber eine Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten vorsieht. Artikel 51 lässt also Unterschiede zwischen den Systemen der sozialen Sicherheit der Mitgliedstaaten und folglich auch bezueglich der Ansprüche der dort Beschäftigten bestehen. Die materiellen und verfahrensmässigen Unterschiede zwischen den Systemen der sozialen Sicherheit der Mitgliedstaaten und damit den Ansprüchen der dort Beschäftigten werden somit durch Artikel 51 EWG-Vertrag nicht berührt."(8)

29. Sie haben diese Beurteilung jedoch sogleich mit der Feststellung eingeschränkt, daß dem Ziel der Freizuegigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Gemeinschaft

"... entgegengearbeitet, seine Erreichung erschwert [wird], wenn das Gemeinschaftsrecht vermeidbare Unterschiede zwischen den jeweiligen Bestimmungen der sozialen Sicherheit schafft"(9),

und sind zu dem Ergebnis gelangt:

"Daraus folgt, daß das aufgrund des Artikels 51 EWG-Vertrag erlassene Sozialrecht der Gemeinschaft keine Unterschiede einführen darf, die zu denen hinzutreten, die sich bereits aus der mangelnden Harmonisierung der nationalen Rechtsvorschriften ergeben."(10)

30. Artikel 73 Absatz 2 der Verordnung Nr. 1408/71 wurde von Ihnen deswegen für ungültig erklärt, weil er Unterschiede einführte, die zu den sich aus den nationalen Rechtsvorschriften ergebenden Unterschieden "hinzutraten".

31. Ihre Rechtsprechung ist insoweit ganz eindeutig. Sie betrachten die Freizuegigkeit der Wanderarbeitnehmer als "eine der Grundlagen der Gemeinschaft"(11), und Sie stellen fest, daß

"der Zweck der Artikel 48 bis 51 ... verfehlt [würde], wenn die Arbeitnehmer, die von ihrem Recht auf Freizuegigkeit Gebrauch gemacht haben, Vergünstigungen der sozialen Sicherheit verlören, die ihnen die Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats sichern"(12).

32. Muß ein nationales System der sozialen Sicherheit zu diesem Zweck gegebenenfalls eine Situation berücksichtigen, die in einem anderen Mitgliedstaat eintritt?

33. Einen ersten Ansatz für eine Antwort hierauf bietet Ihr Urteil Paraschi vom 4. Oktober 1991(13).

34. Frau Paraschi war griechische Staatsangehörige. Sie war von 1965 bis 1979 in Deutschland versicherungspflichtig beschäftigt. 1977 erkrankte sie und kehrte 1979 in ihr Heimatland zurück, wo sie wegen ihres Gesundheitszustands weder eine Erwerbstätigkeit aufnehmen konnte noch eine Invaliditätsrente nach griechischem Recht erhielt. Ihr Antrag auf eine deutsche Invaliditätsrente wurde abgelehnt, weil sie nach einer ab 1984 geltenden Gesetzesänderung nicht mehr die Voraussetzung der Dauer der Versicherungspflicht erfuellte, von der die Gewährung dieser Leistung abhängig war. Als Übergangsregelung ermöglichte das neue Gesetz den Betroffenen, ihre Ansprüche auf Invaliditätsrente durch freiwillige Beiträge zu wahren, die im Laufe des Jahres 1984 mindestens einmal monatlich entrichtet werden mussten.

35. Die Änderung der Regelung hatte bei einigen Wanderarbeitnehmern zu Schwierigkeiten geführt und Frau Paraschi ° der die Übergangsbestimmungen nicht zugute kommen konnten ° hatte geltend gemacht, daß diese Bestimmungen Wanderarbeitnehmer, die in ihr Heimatland zurückkehrten, wegen der strukturellen Unterschiede in bestimmten nationalen Systemen der sozialen Sicherheit benachteiligen könnten.

36. Sie haben festgestellt, daß es

"... Sache jedes Mitgliedstaats [ist], durch den Erlaß von Rechtsvorschriften die Voraussetzungen festzulegen, unter denen eine Person einem System der sozialen Sicherheit beitreten kann oder muß, solange es dabei nicht zu einer diskriminierenden Unterscheidung zwischen Inländern und Angehörigen der übrigen Mitgliedstaaten kommt"(14),

und daß es

"folglich ... einem nationalen Gesetzgeber nach dem Gemeinschaftsrecht nicht untersagt [ist], die Voraussetzungen für die Gewährung einer Invaliditätsrente zu ändern, auch wenn er sie dadurch verschärft, sofern diese Voraussetzungen keine offene oder versteckte Diskriminierung von EG-Arbeitnehmern bewirken"(15).

37. Sie haben daran erinnert,

"..., daß nach der Rechtsprechung des Gerichtshofes Artikel 51 EWG-Vertrag zwar Unterschiede zwischen den Systemen der sozialen Sicherheit der Mitgliedstaaten und folglich auch bezueglich der Ansprüche der dort Beschäftigten bestehen lässt ..., daß der Zweck der Artikel 48 bis 51 EWG-Vertrag jedoch ... verfehlt würde, wenn Wanderarbeitnehmer, die von ihrem Recht auf Freizuegigkeit Gebrauch gemacht haben, Vergünstigungen der sozialen Sicherheit verlören, die ihnen die Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats sichern; ein solcher Verlust könnte EG -Arbeitnehmer davon abhalten, von ihrem Recht auf Freizuegigkeit Gebrauch zu machen, und würde somit die Freizuegigkeit beeinträchtigen"(16).

38. Sie haben festgestellt, daß eine Regelung der in dieser Rechtssache streitigen Art

"... zwar formal für jeden EG-Arbeitnehmer [gilt] und ... somit zur Verlängerung seines Rahmenzeitraums führen [kann]. Gleichwohl kann sie dadurch, daß sie dann keine Verlängerungsmöglichkeit vorsieht, wenn Tatsachen oder Umstände, die verlängerungswirksamen Tatsachen und Umständen entsprechen, in einem anderen Mitgliedstaat eintreten, Wanderarbeitnehmer viel stärker benachteiligen, weil vor allem Wanderarbeitnehmer gerade bei Krankheit oder Arbeitslosigkeit dazu neigen, in ihr Heimatland zurückzukehren"(17).

und daß

"eine derartige Regelung ... daher [bewirkt], daß Wanderarbeitnehmer davon abgehalten werden, von ihrem Freizuegigkeitsrecht Gebrauch zu machen"(18).

39. Sie sind zu dem Ergebnis gelangt, daß die Artikel 48 Absatz 2 und 51 EWG-Vertrag

"... einer nationalen Regelung nicht entgegenstehen, die die Voraussetzungen für die Gewährung einer Invaliditätsrente ... verschärft ... Die genannten Vertragsbestimmungen stehen einer derartigen Regelung, die unter bestimmten Voraussetzungen eine Verlängerung des Rahmenzeitraums gestattet, jedoch dann entgegen, wenn sie keine Verlängerungsmöglichkeit für den Fall vorsieht, daß Tatsachen und Umstände, die den verlängerungswirksamen Tatsachen und Umständen entsprechen, in einem anderen Mitgliedstaat eintreten"(19).

40. Damit wäre ein nationales System der sozialen Sicherheit, dessen materiellen und verfahrensmässigen Unterschiede zu den entsprechenden Systemen der anderen Mitgliedstaaten "durch Artikel 51 EWG-Vertrag nicht berührt" werden, dessen Voraussetzungen für die Leistungsgewährung sogar verschärft werden können, dann mit dem Gemeinschaftsrecht unvereinbar, wenn es durch Nichtberücksichtigung bestimmter Tatsachen und Umstände, die in einem anderen Mitgliedstaat eintreten, sei es auch nur mittelbar die Wanderarbeitnehmer benachteiligen oder, allgemeiner gesagt, sie in ihrer Freizuegigkeit, einem sich aus den Artikeln 48 bis 51 EWG-Vertrag ergebenden fundamentalen Grundsatz des Gemeinschaftsrechts, behindern sollte.

41. Aber ist nicht über die tatsächliche Beurteilung hinaus eine rechtliche Lösung zu suchen und zu prüfen, ob ein nationales System der sozialen Sicherheit nicht unabhängig von den "Tatsachen und Umständen" in bestimmten Fällen auch die einschlägigen Vorschriften eines anderen Mitgliedstaats zu berücksichtigen hat, um der Freizuegigkeit der Wanderarbeitnehmer keinen Abbruch zu tun?

42. Das folgende Beispiel, in dem der Rahmen des vorliegenden Falles erweitert wird, zeigt die Berechtigung dieser Frage.

43. Ein Gemeinschaftsangehöriger ist im Mitgliedstaat A in einem Lohn- oder Gehaltsverhältnis beschäftigt. Er hat einen unterhaltsberechtigten Ehegatten, für den er normalerweise nach Beendigung seiner Beschäftigung einen Zuschlag zu seinem Rentenanspruch erhalten würde. Wird ihn das Wissen, daß er wegen der Besonderheit des Rentensystems im Mitgliedstaat B den Anspruch auf den Zuschlag im Staat A verlieren würde, davon abhalten, eine Stelle im Mitgliedstaat B anzunehmen? Und wird derselbe Arbeitnehmer, wenn er jahrelang im Mitgliedstaat B beschäftigt war, nicht davor zurückschrecken, eine andere Stelle im Mitgliedstaat A anzunehmen, wenn er weiß, daß die persönliche Rente, die seinem nicht erwerbstätigen Ehegatten vom Mitgliedstaat B gewährt wird, ihn um die "Familienrente" bringen wird, die ein Arbeitnehmer in gleicher Lage, der immer im Mitgliedstaat A gearbeitet hat, erhält?

44. Die Antwort auf diese Frage lautet offensichtlich ja. Auch wenn es an einer formalen Bestimmung fehlt, liegt eine nicht minder offensichtliche Behinderung der Wanderarbeitnehmer gegenüber den Gebietsansässigen, d. h. der Angehörigen anderer Mitgliedstaaten gegenüber den Inländern, vor(20).

45. Zwar ließe sich sagen, daß die Schwierigkeit im vorliegenden Fall ihren Ursprung in den neuen niederländischen Rechtsvorschriften hat. Das Königreich Belgien hat dies getan, es hat sogar erklärt, daß dem so eingeführten System "der innere Zusammenhang fehlt, was seine Anwendung auf Wanderarbeitnehmer betrifft"(21), und daß es mit dem Grundsatz der Freizuegigkeit unvereinbar ist.

46. Dieses Argument überzeugt nicht. Es bedarf keiner Prüfung, welche Vorzuege das belgische und das niederländische System jeweils für sich genommen haben und ob die Änderung der AOW, das ein System der allgemeinen Versicherung und nicht der Versicherung der Arbeitnehmer ist, im Hinblick auf die Richtlinie 79/7 erforderlich oder zulässig war: Die Herabsetzung der belgischen Rente des Herrn Van Munster beruht nicht auf der AOW, die dafür nicht anwendbar ist, sondern auf der Wirkung, die die niederländischen Rechtsvorschriften durch die belgische Regelung erhalten.

47. Damit sind wir beim Kern des Problems angekommen. Kann eine nationale Regelung, die ursprünglich keinen diskriminierenden, behindernden Charakter hat, einen solchen Charakter dadurch erhalten, daß sie nach der Änderung der entsprechenden Regelung in einem anderen Mitgliedstaat die Freizuegigkeit der Arbeitnehmer behindert?

48. Nach meiner Auffassung ist diese Frage zu bejahen.

49. Beim gegenwärtigen Stand des Gemeinschaftsrechts steht die Selbständigkeit der Mitgliedstaaten beim Aufbau ihres Sozialsystems ausser Frage. Sie ist aber auch nicht teilbar. Die Selbständigkeit des Mitgliedstaats A schließt nicht die Selbständigkeit des Mitgliedstaats B aus. Darüber hinaus darf der erstere nicht die Regelungen des letzteren völlig unberücksichtigt lassen, und umgekehrt.

50. Denn die Lage eines Wanderarbeitnehmers hinsichtlich seiner Rentenansprüche richtet sich zwangsläufig nach ebenso vielen nationalen Systemen wie Staaten, in denen er beschäftigt war.

51. Sind die Systeme gleichartig, so führt ihre Verknüpfung zu keinen gegenseitigen Einwirkungen in bezug auf die Freizuegigkeit, und ihre Vereinbarkeit mit dem Gemeinschaftsrecht kann isoliert geprüft werden.

52. Wenn jedoch wie im vorliegenden Fall als Folge der Verschiedenartigkeit eine gegenseitige Einwirkung vorliegt, so ist eine umfassende Beurteilung der Lage der Rentenansprüche geboten; stellt sich eine Behinderung der Freizuegigkeit des Wanderarbeitnehmers heraus, ist die nationale Regelung, durch die die Ausübung dieser Freiheit beeinträchtigt wird, auf ihre Vereinbarkeit mit dem Gemeinschaftsrecht zu überprüfen.

53. Wird, mit anderen Worten, die Rente, die einen Bestandteil für den nicht erwerbstätigen Ehegatten enthält und im Mitgliedstaat B an den Arbeitnehmer gezahlt wird, in zwei persönliche Leistungen aufgespalten, die jeweils an einen der beiden Ehegatten gezahlt werden, so kann der Mitgliedstaat A deshalb nicht die von ihm an den Arbeitnehmer gezahlte Rente kürzen, ohne dadurch den Grundsatz der Freizuegigkeit der Wanderarbeitnehmer zu verletzen. Der Staat A hat dabei zu berücksichtigen, daß der Ehegatte des Arbeitnehmers im Staat B weiter ohne Arbeit ist und daß der Gesamtbetrag, den die Eheleute als Rente beziehen, unverändert geblieben ist.

54. Insoweit ist noch das vom vorlegenden Gericht in seiner zweiten Frage aufgeworfene Problem zu prüfen, ob das Gemeinschaftsrecht eine etwaige Beschränkung des Grundsatzes der Freizuegigkeit der Arbeitnehmer rechtfertigt.

55. Wie die niederländische Regierung zu Recht ausgeführt hat(22), können solche Rechtfertigungen auf diesem Gebiet nur Gründe der öffentlichen Ordnung, der öffentlichen Gesundheit und der öffentlichen Sicherheit sein. Weder die Regierung des Königreichs Belgien noch der RVP haben sich auf einen dieser drei Gründe berufen.

56. Daher beantrage ich, wie folgt zu erkennen:

1) Artikel 4 Absatz 1 in Verbindung mit Artikel 7 Absatz 1 Buchstabe c der Richtlinie 79/7/EWG des Rates vom 19. Dezember 1978 zur schrittweisen Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen im Bereich der sozialen Sicherheit ist dahin auszulegen, daß er es nicht verbietet, daß eine nationale Bestimmung an die Gewährung einer Rente für den nicht erwerbstätigen Ehegatten unterschiedliche Rechtsfolgen knüpft, je nachdem, ob diese Leistung in Form einer Erhöhung der Rente des erwerbstätigen Ehegatten oder in Form einer an den nicht erwerbstätigen Ehegatten persönlich gezahlten Rente gewährt wird.

2) Artikel 3 Buchstabe c, Artikel 48 und 51 EWG-Vertrag verbieten eine solche Bestimmung, wenn sie, ohne durch Gründe der öffentlichen Ordnung, der öffentlichen Sicherheit oder der öffentlichen Gesundheit gerechtfertigt zu sein, nach einem mit einem Umzug des Arbeitnehmers in einen anderen Mitgliedstaat verbundenen Beschäftigungswechsel zu einer Verringerung der Renteneinkünfte, die der Arbeitnehmer und sein niemals erwerbstätiger Ehegatte beziehen, führen, und folglich die Wanderarbeitnehmer daran hindern kann, von ihrer Freizuegigkeit innerhalb der Gemeinschaft Gebrauch zu machen.

(*) Originalsprache: Französisch.

(1) - Urteil vom 20. April 1988 in der Rechtssache 151/87 (Bakker, Slg. 1988, 2009).

(2) - Unter I Punkt 1.

(3) - ABl. L 6, S. 24.

(4) - Nach einer zusammenfassenden Untersuchung der geltenden sozialen Bestimmungen lassen sich drei Regelungstypen unterscheiden: Regelungen, die die Situation des erwerbslosen Ehegatten unberücksichtigt lassen und nur auf den Arbeitnehmer abstellen, der Beiträge entrichtet hat; Regelungen ° sie stellen die Mehrzahl dar ° die eine Erhöhung der Rente des erwerbstätigen Ehegatten vorsehen; schließlich Regelungen ° und die Niederlande sind der einzige Vertreter dieser Kategorie °, die dem nicht erwerbstätigen Ehegatten einen eigenen Rentenanspruch gewähren.

(5) - Unter I Punkt 2.

(6) - Vgl. die zweite und die vierte Begründungserwägung der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und deren Familien, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern (ABl. L 149, S. 2).

(7) - Urteil vom 15. Januar 1986 in der Rechtssache 41/84 (Slg. 1986, 1).

(8) - Randnr. 20.

(9) - Randnr. 21.

(10) - Ebenda.

(11) - Urteil vom 25. Februar 1986 in der Rechtssache 254/84 (De Jong, Slg. 1986, 671, Randnr. 14).

(12) - A. a. O., Randnr. 15.

(13) - Urteil in der Rechtssache C-349/87 (Slg. 1991, I-4501).

(14) - Randnr. 15.

(15) - Randnr. 16.

(16) - Randnr. 22.

(17) - Randnr. 24, Hervorhebung nur hier.

(18) - Randnr. 25.

(19) - Randnr. 27.

(20) - Sie sahen es in Ihrer Rechtsprechung als eine mögliche Beeinträchtigung der Freizuegigkeit der Arbeitnehmer an, wenn ein Arbeitnehmer davon abgehalten wird, von einem Recht Gebrauch zu machen, das ihm vertraglich, insbesondere durch Artikel 48 zuerkannt wird (vgl. insbesondere die Urteile vom 7. März 1991 in der Rechtssache C-10/90, Masgio, Slg. 1991, I-1119, Randnr. 18; Paraschi, a. a. O., Randnr. 22; vom 22. Februar 1990 in der Rechtssache C-228/88, Bronzino, Slg. 1990, I-531, Randnr. 12).

(21) - Erklärungen der belgischen Regierung, S. 5 des französischen Textes.

(22) - Nr. 20 ihrer Erklärungen.