61991C0157

Schlussanträge des Generalanwalts Darmon vom 7. Juli 1992. - KOMMISSION DER EUROPAEISCHEN GEMEINSCHAFTEN GEGEN KOENIGREICH DER NIEDERLANDE. - VERTRAGSVERLETZUNG EINES MITGLIEDSTAATS - RICHTLINIE - ZULASSUNG DER MIT DER PFLICHTPRUEFUNG DER RECHNUNGSLEGUNGSUNTERLAGEN BEAUFTRAGTEN PERSONEN. - RECHTSSACHE C-157/91.

Sammlung der Rechtsprechung 1992 Seite I-05899


Schlußanträge des Generalanwalts


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Herr Präsident,

meine Herren Richter!

1. Mit der vorliegenden Klage wegen Vertragsverletzung sind Sie aufgefordert festzustellen, daß das Königreich der Niederlande dadurch gegen seine Verpflichtungen aus dem EWG-Vertrag verstossen hat, "daß es nicht innerhalb der vorgeschriebenen Fristen alle Rechts- und Verwaltungsvorschriften erlassen hat, die erforderlich sind, um der Achten Richtlinie 84/253/EWG des Rates vom 10. April 1984 nachzukommmen"(1), und "die Kommission hiervon nicht unverzueglich in Kenntis gesetzt hat".

2. Die Achte Richtlinie hat insbesondere zum Ziel, die Anforderungen an die Befähigung der Personen zu harmonisieren, die zur Durchführung der Pflichtprüfung der Rechnungslegungsunterlagen von Gesellschaften bestimmmter Rechtsformen befugt sind. Sie führt in den Artikeln 4 ff. eine berufliche Eignungsprüfung ein und regelt sehr eingehend die Voraussetzungen für den Zugang zu diesem Beruf.

3. Sie bestimmt im übrigen in Artikel 30 die Frist, innerhalb deren die Mitgliedstaaten alle erforderlichen Maßnahmen zur Umsetzung ergreifen müssen.

4. Diese Frist kann indessen verschieden von der Frist für die tatsächliche Anwendung der vorgesehenen Vorschriften sein. Artikel 30 bestimmt:

"(1) Die Mitgliedstaaten erlassen vor dem 1. Januar 1988 die erforderlichen Rechts- und Verwaltungsvorschriften, um dieser Richtlinie nachzukommen. Sie setzen die Kommission unverzueglich davon in Kenntnis.

(2) Die Mitgliedstaaten können vorsehen, daß die in Absatz 1 bezeichneten Vorschriften erst ab dem 1. Januar 1990 anzuwenden sind.

(3) Die Mitgliedstaaten teilen der Kommission den Wortlaut der wichtigsten innerstaatlichen Rechtsvorschriften mit, die sie auf dem unter diese Richtlinie fallenden Gebiet erlassen.

(4) Die Mitgliedstaaten übermitteln der Kommission ferner eine Aufstellung der staatlichen oder im Sinne von Artikel 4 staatlich anerkannten Prüfungen."

5. Das Königreich der Niederlande war folglich verpflichtet, die Achte Richtlinie vor dem 1. Januar 1988 umzusetzen und die Kommission hiervon in Kenntnis zu setzen. Es konnte andererseits durch die Regelungen, mit denen diese Richtlinie in das innerstaatliche Recht übernommmen wird, ihre Anwendung auf den 1. Januar 1990 hinausschieben.

6. Nachdem die Niederlande mit einem Schreiben der Kommission vom 27. Juli 1989 aufgefordert worden war, den Nachweis für die Umsetzung zu erbringen, erwiderten sie am 26. September desselben Jahres, daß nur die praktische Berufsausbildung nicht den Anforderungen der Richtlinie entspreche und daß die festgestellte Verzögerung bei der Durchführung der Richtlinie ihre Ursache in einer Veränderung der politischen Verhältnisse ebenso wie in dem Wunsch nach Bereinigung und Vereinfachung der gesamten Rechtsvorschriften über das Buchhaltungs- und Rechnungswesen habe.

7. Die Kommission, die mit diesen Erklärungen nicht zufrieden war, richtete am 2. Mai 1990 eine mit Gründen versehene Stellungnahme an die niederländische Regierung und forderte sie auf, innerhalb der üblichen Frist von zwei Monaten die erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen. Der Mitgliedstaat wiederholte die vorhergehende Argumentation.

8. Ich möchte zunächst den genauen Umfang des Klagegegenstands bestimmmen.

9. Während die Klage wegen Vertragsverletzung, wie wir gesehen haben, auf das Fehlen der Benachrichtigung abstellt, erscheint diese Rüge nicht in dem verfügenden Teil der mit Gründen versehenen Stellungnahme, die allein auf das Fehlen der Umsetzung Bezug nimmt.

10. Es ist nun aber bekannt, "daß der Gegenstand einer nach Artikel 169 eingereichten Klage durch die mit Gründen versehene Stellungnahme der Kommission festgelegt wird und daß die beiden Akte daher auf die gleichen Gründe und das gleiche Vorbringen gestützt sein müssen"(2). Hieraus folgt, daß der Klagegegenstand auf die Prüfung der fehlenden Umsetzung beschränkt ist. Auf entsprechendes Befragen hat die Kommission im übrigen während der mündlichen Verhandlung eingeräumt, daß die Rüge der Nichtbenachrichtigung in der mit Gründen versehenen Stellungnahme nicht ausreichend erkennbar gewesen sei.

11. Die Niederlande räumen ein, daß das geltende innerstaatliche Recht hinsichtlich der praktischen Berufsausbildung, und zwar hinsichtlich der Artikel 4 und 8 der Richtlinie, den Vorschriften der Gemeinschaft widerspreche. Sie machen vor allem geltend, daß sich die beanstandete Vertragsverletzung auf diesen einzigen Punkt beschränke und nicht, wie die Kommission behauptet, die gesamte Regelung betreffen könne. Es werde nicht bestritten, daß die praktische Berufsausbildung ° wesentlicher Bestandteil des vorgeschlagenen Systems, das auf einer Prüfung der beruflichen Eignung beruhe, bestehend nicht nur aus einer Überprüfung der theoretischen Kenntnisse, sondern auch aus einer praktischen Berufsausbildung von mindestens drei Jahren (Artikel 8 der Richtlinie) °, obwohl üblich, formal noch nicht zu der gegenwärtig in den Niederlanden bestehenden Ausbildung gehöre. Ohne daß dies für das Vorliegen oder Nichtvorliegen einer Vertragsverletzung von Bedeutung sei(3), liege die eigentliche Ursache für die Verzögerung vor allem in dem Wunsch der Regierung begründet, die gesetzliche Regelung des Berufs des Buchprüfers aus Anlaß der Durchführung dieser Richtlinie zu ändern (ein Gesetzentwurf sei ausgearbeitet worden und werde gerade verabschiedet).

12. Die Niederlande berufen sich gleichfalls auf Artikel 18 Absatz 1 der Richtlinie, der bestimmt:

"(1) Bis zu sechs Jahren nach Beginn der Anwendung der in Arikel 30 Absatz 2 bezeichneten Rechtsvorschriften können die Mitgliedstaaten Übergangsmaßnahmen für Personen ergreifen, die sich zu Beginn der Anwendung der genannten Rechtsvorschriften in der theoretischen oder praktischen Berufsausbildung befinden, bei Abschluß dieser Ausbildung jedoch die Bedingungen der vorliegenden Richtlinie nicht erfuellen würden und deswegen die Pflichtprüfung der in Artikel 1 Absatz 1 genannten Unterlagen, für die sie ausgebildet wurden, nicht durchführen dürften."

13. Diese Übergangsmaßnahmen, die dazu bestimmt sind, den Übergang von der alten zur neuen Ausbildung für Personen zu regeln, die mit den bereits unter dem alten System eingeführten Buchprüfungen beauftragt sind, dürfen nun nicht so verstanden werden, als würden sie die unmittelbar im Rahmen der Achten Richtlinie anzuwendenden Vorschriften zeitlich hinausschieben. Zudem darf sich ein Mitgliedstaat bei fehlender Umsetzung nicht auf eine Vorschrift berufen, die das Vorliegen von innerstaatlichen, in Anwendung der Richtlinie (d. h. Artikel 30 Absatz 2) ergriffenen Maßnahmen voraussetzt.

14. Schließlich und nach Begrenzung des Streitstoffes allein auf das Fehlen der Umsetzung kommt es gegenwärtig darauf an, dessen Umfang zu bestimmen und zu prüfen, ob die Richtlinie ganz oder nur teilweise betroffen ist.

15. Der beklagte Mitgliedstaat gibt offen zu, die Richtlinie nicht umgesetzt zu haben und "räumt ein, daß er im Zusammenhang mit der Durchführung der Richtlinie 84/253/EWG den Vertrag verletzt hat, jedoch einzig und allein im Hinblick auf die Vorschriften über die praktische Berufsausbildung, soweit sie zu der Regelung über die Zulassung gehören"(4). Die Kommission, die von Ihnen aufgefordert worden war, den Umfang der Vertragsverletzung näher zu bestimmen, hat in ihrer Antwort vom 30. April 1992 darauf hingewiesen, daß sie der "Auffassung des Königreichs der Niederlande zum begrenzten Umfang der festgestellten Verletzung"(5) widerspreche, weil die Artikel 4 und 8 Einfluß auf die gesamte Regelung hätten. Sie hat gleichwohl im Verlauf der mündlichen Verhandlung ihre Ausführungen auf die Artikel 4, 8, 28 und 30 Absatz 1 der Richtlinie beschränkt.

16. Die Artikel 4, 8 und 30 ° von denen der letztere die Verpflichtung der Mitgliedstaaten zur Umsetzung und zur Benachrichtigung betrifft ° bedürfen keiner besonderen Erörterung, da die Verletzung vorbehaltlich

der Frage der Benachrichtigung zugestanden worden ist. Artikel 28 dagegen, über den während der Sitzung verhandelt worden ist, muß noch erörtert werden.

17. Nach diesem Artikel sollen die Namen und Anschriften der (natürlichen und juristischen) Personen, die zur Pflichtprüfung der Unterlagen der in Artikel 1 Absatz 1 der Richtlinie genannten Gesellschaften zugelassen sind, der Öffentlichkeit zur Verfügung gestellt werden.

18. Die Kommission behauptet, daß dieses Verzeichnis nicht zwischen den Buchprüfern unterscheide, die den Anforderungen, die in der Richtlinie für die Berufsausbildung aufgestellt werden, genügen, und denjenigen, die diesen Anforderungen nicht genügen.

19. Der Vertreter der Niederlande seinerseits erwidert, daß diese Frage erst sehr spät erörtert worden sei, nämlich erst bei der erwähnten Beantwortung der Fragen des Gerichtshofes, und daß die Artikel 55 ff. des niederländischen Gesetzes über die im Verzeichnis eingetragenen Wirtschaftsprüfer auf alle Fälle den Anforderungen der Gemeinschaftsnorm entsprächen.

20. Zu beachten ist, daß der Gerichtshof zu keiner Zeit die geltenden innerstaatlichen Regelungen zum Gegenstand der Erörterung gemacht hat, und daß eine Prüfung der Vorschriften, die in den Niederlanden Anwendung finden und der Achten Richtlinie widersprechen, nicht stattgefunden hat.

21. In einem Urteil vom 20. Mai 1992(6), das ein Verfahren zwischen der Kommission und den Niederlanden betraf, haben Sie kürzlich entschieden, daß

"die Umsetzung einer Richtlinie in innerstaatliches Recht nicht notwendigerweise [verlangt], daß ihre Bestimmungen förmlich und wörtlich in einer ausdrücklichen besonderen Gesetzesvorschrift wiedergegeben werden; je nach dem Inhalt der Richtlinie kann ein allgemeiner rechtlicher Rahmen genügen, wenn er tatsächlich die vollständige Anwendung der Richtlinie in ... klarer und bestimmter Weise gewährleistet"(7).

22. Da der Mitgliedstaat sich auf eine vollständige Übereinstimmung seines innerstaatlichen Rechts mit der Achten Richtlinie beruft, musste die Kommission demnach den Nachweis erbringen, daß das gegenwärtige niederländische Recht im Widerspruch zu Artikel 28 steht.

23. Es ist aber festzustellen, daß im vorliegenden Fall nichts für die Unvereinbarkeit des innerstaatlichen Rechts mit der in Frage stehenden Richtlinie vorgetragen worden ist.

24. Nach ständiger Rechtsprechung muß

"die Kommission, wie der Gerichtshof wiederholt und zuletzt im Urteil vom 22. September 1988 in der Rechtssache 272/86 (Kommission/Griechische Republik, Slg. 1988, 4875) entschieden hat, ... das Vorliegen der behaupteten Vertragsverletzung nachweisen"(8).

25. Die Kommission musste daher diejenigen geltenden niederländischen Vorschriften benennen, die ihrer Ansicht nach nicht mit der Achten Richtlinie übereinstimmen, und ihre Auffassung hierzu zu begründen. Dies gilt um so mehr, als die Regierung der Niederlande in ihrer Klagebeantwortung (Nr. 6) behauptet, daß ihre Rechtsvorschriften über den Beruf des Buchprüfers den Anforderungen der Richtlinie hinsichtlich beruflicher Sorgfalt, Unabhängigkeit und Veröffentlichung ° wobei letztere gerade Gegenstand von Artikel 28 der Richtlinie ist ° entsprächen, und unwidersprochen versichert, der Kommission alle zweckdienlichen Unterlagen und Erläuterungen geliefert und hierdurch ihren Willen zur Zusammenarbeit bekundet zu haben.

26. Da die Kommission diesen Argumenten nicht substantiiert entgegengetreten ist, hat sie weder den Nachweis für die allgemeine, im Verlauf des schriftlichen Verfahrens behauptete Vertragsverletzung noch für den Verstoß gegen Artikel 28, der während der mündlichen Verhandlung erörtert wurde, erbracht.

27. Bei den Kosten ist das Verhältnis zwischen dem Umfang der festgestellten und dem Umfang der ursprünglich von der Kommission behaupteten Vertragsverletzung zu berücksichtigen. Ich ersuche Sie in dieser Frage, die Vorschriften des Artikel 69 § 2 und 3 der Verfahrensordnung anzuwenden und jeder Partei ihre eigenen Kosten aufzuerlegen.

28. Ich beantrage daher,

1) festzustellen, daß das Königreich der Niederlande dadurch gegen seine Verpflichtungen aus dem EWG-Vertrag verstossen hat, daß es nicht innerhalb der vorgeschriebenen Fristen alle Maßnahmen erlassen hat, die erforderlich sind, um den Artikeln 4 und 8 der Achten Richtlinie 84/253/EWG des Rates vom 10. April 1984 aufgrund von Artikel 54 Absatz 3 Buchstabe g des Vertrages über die Zulassung der mit der Pflichtprüfung der Rechnungslegungsunterlagen beauftragten Personen nachzukommmen;

2) die Klage im übrigen abzuweisen;

3) jeder Partei ihre eigenen Kosten aufzuerlegen.

(*) Originalsprache: Französisch.

(1) ° Richtlinie aufgrund von Artikel 54 Absatz 3 Buchstabe g des Vertrages über die Zulassung der mit der Pflichtprüfung der Rechnungslegungsunterlagen beauftragten Personen (ABl. L 126, S. 20).

(2) ° Urteil vom 15. Dezember 1982 in der Rechtssache 211/81 (Kommission/Dänemark, Slg. 1982, 4547, Randnr. 14); vgl. auch Urteil vom 5. Oktober 1989 in der Rechtssache 290/87 (Kommission/Niederlande, Slg. 989, 3083, Randnr. 8).

(3) ° Es ist daran zu erinnern, daß sich nach ständiger Rechtsprechung ein Mitgliedstaat nicht auf Bestimmungen, Übungen oder Umstände seiner internen Rechtsordnung berufen kann, um damit die Nichtbeachtung der Verpflichtungen und Fristen zu rechtfertigen, die sich aus den Gemeinschaftsrichtlinien ergeben. Vgl. insbesondere das Urteil 6. September 1989 in der Rechtssache C-329/88 (Kommission/Griechenland, Slg. 1989, 4159).

(4) ° Nr. 14 der Klagebeantwortung.

(5) ° Nr. 4 der Stellungnahme der Kommission.

(6) ° Rechtssache C-190/90 (Slg. 1992, I-3265).

(7) ° Randnr. 17.

(8) ° Urteil vom 25. April 1989 in der Rechtssache 141/87 (Kommission/Italien, Slg. 1989, 943).