61991C0112

Schlussanträge des Generalanwalts Darmon vom 6. Oktober 1992. - HANS WERNER GEGEN FINANZAMT AACHEN-INNENSTADT. - ERSUCHEN UM VORABENTSCHEIDUNG: FINANZGERICHT KOELN - DEUTSCHLAND. - STEUERN - WOHNSITZ DES STEUERPFLICHTIGEN. - RECHTSSACHE C-112/91.

Sammlung der Rechtsprechung 1993 Seite I-00429
Schwedische Sonderausgabe Seite I-00007
Finnische Sonderausgabe Seite I-00007


Schlußanträge des Generalanwalts


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Herr Präsident,

meine Herren Richter!

1. Kann die Besteuerung des Einkommens, die einen Gebietsfremden unter bestimmten Umständen stärker belastet als einen Gebietsansässigen, eine durch Artikel 52 EWG-Vertrag untersagte Beschränkung der freien Niederlassung darstellen? So lautet im wesentlichen die Frage des vorlegenden Gerichts.

2. Dem Ausgangsrechtsstreit liegt folgender Sachverhalt zugrunde: Der Kläger, ein deutscher Staatsangehöriger, der seit 1961 in den Niederlanden wohnte, war bis Oktober 1981 bei einer berufsständischen Vereinigung in Aachen angestellt. Dann ließ er sich dort als selbständiger Zahnarzt nieder, blieb jedoch in den Niederlanden wohnen. Aufgrund des Abkommens zur Vermeidung der Doppelbesteuerung zwischen Deutschland und den Niederlanden wurden seine Einkünfte aus selbständiger Arbeit und sein Vermögen, das der Ausübung dieser Arbeit dient, am Ort seiner Niederlassung in Deutschland besteuert(1). Er erklärte daher beim Finanzamt Aachen Einkünfte aus seiner freiberuflichen Tätigkeit als Zahnarzt. Weitere Einkünfte, insbesondere in den Niederlanden, erzielte er nicht(2).

3. Nach den nationalen Rechtsvorschriften, im vorliegenden Fall § 1 Absatz 4 des Einkommensteuergesetzes und § 2 Absatz 2 Nr. 1 des Vermögensteuergesetzes sind natürliche Personen, die in der Bundesrepublik Deutschland weder einen Wohnsitz noch ihren gewöhnlichen Aufenthalt haben, "beschränkt steuerpflichtig". Im Unterschied dazu sind Gebietsansässige "unbeschränkt steuerpflichtig".

4. Die unterschiedliche Behandlung dieser beiden Gruppen von Steuerpflichtigen zeigt sich an mehreren Stellen.

5. "Unbeschränkt steuerpflichtige" Personen unterliegen mit ihren gesamten Einkünften der Besteuerung, "beschränkt steuerpflichtige" Personen dagegen nur mit ihren in Deutschland erzielten Einkünften.

6. Der Steuersatz und der Steuertarif sind bei letzteren höher; ausserdem können sie den Vorzugstarif für Ehegatten (den "Splittingtarif") nicht in Anspruch nehmen. Auch einen Lohnsteuer-Jahresausgleich können sie nicht vornehmen. Schließlich sind bestimmte Abzuege und Freibeträge nur bei "unbeschränkt Steuerpflichtigen" möglich(3).

7. Anders ausgedrückt wird beim "unbeschränkt Steuerpflichtigen" die persönliche, subjektive Situation berücksichtigt (die der Wohnsitzstaat des Steuerpflichtigen am besten kennt), während die Besteuerung des "beschränkt Steuerpflichtigen" wie im Bereich der indirekten Steuern objektiv ausgestaltet ist. Dies ist zweifellos der Grund dafür, daß eine Billigkeitsvorschrift es in Ausnahmefällen erlaubt, die Höhe der Steuer beschränkt steuerpflichtiger Personen zu begrenzen.

8. Der Kläger des Ausgangsverfahrens beantragte, mit seiner Ehefrau als unbeschränkt Steuerpflichtiger behandelt zu werden, um in den Genuß des "Splittingtarifs" zu gelangen. Dieser Antrag wurde mit der Begründung abgelehnt, er habe in Deutschland keinen Wohnsitz. Nach erfolglosem Einspruch rief er das Finanzgericht Köln an.

9. Dieses Gericht fragt Sie im wesentlichen,

1) ob sich Artikel 52 EWG-Vertrag darauf beschränkt, ein Gebot der Inländerbehandlung von EG-Ausländern aufzustellen, oder ob er so weit geht, jede ° auch nicht diskriminierende ° Beschränkung der freien Niederlassung zu verbieten;

2) ob im letztgenannten Fall eine solche Beschränkung vorliegt, wenn ein Steuerpflichtiger, der als Selbständiger in einem Mitgliedstaat niedergelassen ist und dort fast ausschließlich steuerpflichtige Einkünfte erzielt bzw. der Vermögensteuer unterliegendes Vermögen besitzt, einen steuerlichen Nachteil erleidet, der darauf zurückzuführen ist, daß er in einem anderen Mitgliedstaat wohnt;

3) ob eine solche Regelung, die in Deutschland einen deutschen Staatsangehörigen trifft, gegen Artikel 7 EWG-Vertrag verstösst.

10. Ich will versuchen, die Ihnen hier gestellten Fragen einzugrenzen.

11. Es ist unstreitig, 1. daß der in den Niederlanden wohnende Kläger des Ausgangsverfahrens beschränkt steuerpflichtig ist, 2. daß er fast seine gesamten Einkünfte in Deutschland erzielt, 3. daß die von ihm geschuldete Steuer deutlich höher ist als die Steuer, die er zahlen müsste, wenn er seinen Wohnsitz in Deutschland hätte und damit unbeschränkt steuerpflichtig wäre(4).

12. Der Betroffene ist gegenüber Gebietsansässigen deutlich benachteiligt, weil er Gebietsfremder ist und weil er seine gesamten Einkünfte in Deutschland erzielt. Wenn er in seinem Wohnsitzstaat Einkünfte erzielt hätte, wäre er dort unter Berücksichtigung seiner persönlichen Situation besteuert worden, und es ist nicht sicher, daß er in diesem besonderen Fall gegenüber anderen Steuerpflichtigen mit Wohnsitz in Deutschland, die sich in einer vergleichbaren finanziellen Situation befinden, steuerlich benachteiligt worden wäre.

13. Der Kläger des Ausgangsverfahrens ist deutscher Staatsangehöriger. Es ist nicht vorgetragen worden, daß er das Zahnarztdiplom in einem anderen Staat erworben hätte, und er ist in Deutschland tätig. Der einzige Auslandsbezug liegt somit in seinem Wohnsitz in den Niederlanden.

14. Das Niederlassungsrecht wird in Kapitel 2 des Titels III des EWG-Vertrags unter zwei Aspekten behandelt: zum einen unter dem der Aufnahme selbständiger Erwerbstätigkeiten und zum anderen unter dem ihrer Ausübung. Der Wortlaut der Artikel 52 Absatz 2 und 57 Absatz 1 ist insoweit ebenso wie Ihre Rechtsprechung völlig eindeutig. So haben Sie darauf hingewiesen,

"daß die Niederlassungsfreiheit nach Artikel 52 Absatz 2 EWG-Vertrag die Aufnahme und Ausübung selbständiger Erwerbstätigkeiten nach den Bestimmungen des Aufnahmestaats für seine eigenen Angehörigen umfasst"(5),

und daß die

"in Artikel 52 vorgesehene Niederlassungsfreiheit ... nicht nur die Aufnahme selbständiger Erwerbstätigkeiten [betrifft], sondern auch deren Ausübung im weiten Sinn"(6).

15. Dem Kläger des Ausgangsverfahrens sind unzweifelhaft keine Beschränkungen bei der Aufnahme der Tätigkeit als Zahnarzt auferlegt worden. Als deutscher Staatsangehöriger, der das nach den deutschen Rechtsvorschriften erforderliche Diplom und die sonstigen Qualifikationen besaß, konnte er sich in Deutschland ohne Beschränkung niederlassen und hat in anderen Mitgliedstaaten keine durch das Gemeinschaftsrecht geschützten Rechte erworben, um deren Anerkennung in Deutschland er sich vergeblich bemüht hätte.

16. Gehen wir im übrigen für einen Moment davon aus, daß er zum Zeitpunkt seiner Niederlassung in Deutschland dort seinen Wohnsitz gehabt hätte und erst anschließend in die Niederlande umgezogen wäre. Dann hätte kein Auslandsbezug bestanden, der die Anwendung von Artikel 52 EWG-Vertrag in bezug auf die Aufnahme dieser Tätigkeit gerechtfertigt hätte.

17. Der Kläger des Ausgangsverfahrens macht jedoch geltend, wegen seiner Behandlung als beschränkt Steuerpflichtiger in seiner Niederlassungsfreiheit gerade bei der Ausübung seiner Erwerbstätigkeit beschränkt zu sein.

18. Die hier angesprochene "Beschränkung der Niederlassungsfreiheit" muß genau konkretisiert werden: Der Selbständige unterliegt wegen seines Wohnsitzes in einem anderen Mitgliedstaat einer ungünstigeren Besteuerung der Einkünfte aus seiner Erwerbstätigkeit.

19. Vor der Beantwortung der Fragen des vorlegenden Gerichts ist festzuhalten, daß der Kläger des Ausgangsverfahrens von der Freizuegigkeit niemals Gebrauch gemacht hat, um sich in einem anderen Mitgliedstaat als dem, dem er angehört, niederzulassen. Er hat sich in seinem eigenen Staat niedergelassen. Im Wortlaut der zweiten Vorlagefrage wird auf diesen Gesichtspunkt nicht eingegangen; in den Gründen der Entscheidung wird er jedoch ausführlich behandelt(7). Wird der Fall des Betroffenen somit vom Gemeinschaftsrecht und insbesondere von Artikel 52 erfasst? Handelt es sich nicht um einen rein innerstaatlichen Sachverhalt, der dem Gemeinschaftsrecht nicht unterliegt?

20. Sie haben bereits mehrfach entschieden, daß ein Selbständiger, der Angehöriger des Aufnahmemitgliedstaats ist, sich auf Artikel 52 berufen kann, wenn ein hinreichender Auslandsbezug wie ein Diplom oder eine berufliche Qualifikation, die in einem anderen Mitgliedstaat erworben wurden, die Anwendung des Gemeinschaftsrechts rechtfertigt(8).

21. So war in der Rechtssache Knoors(9) ein niederländischer Staatsangehöriger, der in Belgien wohnte, dort als selbständiger Unternehmensleiter im Klempnergewerbe tätig. Er stellte einen Antrag auf Ausübung dieses Gewerbes in den Niederlanden, der von den niederländischen Behörden mit der Begründung abgelehnt wurde, er besitze die nach den Rechtsvorschriften dieses Landes erforderlichen Qualifikationen nicht. Dem Gerichtshof wurde die Frage gestellt, ob die Richtlinie 64/427/EWG des Rates vom 7. Juli 1964, die die Verwirklichung der Niederlassungsfreiheit und des freien Dienstleistungsverkehrs für selbständige Tätigkeiten der be- und verarbeitenden Gewerbe der CITI-Hauptgruppen 23 ° 40 (Industrie und Handwerk) betrifft(10), auf Personen anwendbar ist, die die Staatsangehörigkeit des Aufnahmemitgliedstaats besitzen. Sie haben entschieden, daß

"diese ° im System der Gemeinschaft grundlegenden ° Freiheiten [freier Personenverkehr, Niederlassungsfreiheit und freier Dienstleistungsverkehr, die durch die Artikel 3 Buchstabe c, 48, 52 und 59 EWG-Vertrag garantiert werden] ... nicht voll verwirklicht [wären], wenn die Mitgliedstaaten die Vergünstigung der gemeinschaftlichen Bestimmungen denjenigen ihrer Staatsangehörigen versagen dürften, die von den Erleichterungen auf dem Gebiet des Verkehrs und der Niederlassung Gebrauch gemacht haben und die dank dieser Erleichterungen die in der Richtlinie erwähnten beruflichen Qualifikationen in einem anderen Mitgliedstaat als demjenigen erworben haben, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzen.

...

Zwar sind die Vertragsbestimmungen über die Niederlassung und den Dienstleistungsverkehr nicht auf rein interne Verhältnisse eines Mitgliedstaats anwendbar, doch kann die in Artikel 52 enthaltene Bezugnahme auf die 'Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats' , die sich 'im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats' niederlassen wollen, nicht dahin ausgelegt werden, daß die eigenen Staatsangehörigen eines bestimmten Mitgliedstaats von der Anwendung des Gemeinschaftsrechts ausgeschlossen wären, wenn sie sich aufgrund der Tatsache, daß sie rechtmässig im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats ansässig waren und dort eine nach dem Gemeinschaftsrecht anerkannte berufliche Qualifikation erworben haben, gegenüber ihrem Herkunftsland in einer Lage befinden, die mit derjenigen aller anderen Personen, die in den Genuß der durch den Vertrag garantierten Rechte und Freiheiten kommen, vergleichbar ist."(11)

22. Sie haben daraus geschlossen, daß sich die Staatsangehörigen aller Mitgliedstaaten, die die in der Richtlinie aufgestellten Anwendungsvoraussetzungen erfuellen, auf die Bestimmungen der Richtlinie berufen können, und zwar auch gegenüber dem Staat, dessen Angehörige sie sind.

23. So befand sich auch der Kläger des Ausgangsverfahrens in der Rechtssache Brökmeulen(12) ° ein niederländischer Staatsangehöriger, der Inhaber eines belgischen Diploms der Medizin war und sich in den Niederlanden niederlassen wollte ° in der gleichen Lage wie ein belgischer Staatsangehöriger, der Inhaber des gleichen Diploms ist und den gleichen Anspruch erhebt, und Sie haben entschieden, daß er sich auf die Bestimmungen der Richtlinie des Rates vom 16. Juni 1975 für die gegenseitige Anerkennung der Diplome, Prüfungszeugnisse und sonstigen Befähigungsnachweise des Arztes und für Maßnahmen zur Erleichterung der tatsächlichen Ausübung des Niederlassungsrechts und des Rechts auf freien Dienstleistungsverkehr(13) berufen konnte.

24. Der Angehörige eines Mitgliedstaats, der in diesem Staat eine selbständige Erwerbstätigkeit ausübt und eine dort erworbene berufliche Qualifikation besitzt, befindet sich jedoch gerade nicht in einer Lage, die mit derjenigen eines Gemeinschaftsbürgers gleich welcher Staatsangehörigkeit vergleichbar ist, der sich auf eine in einem anderen Mitgliedstaat erworbene berufliche Qualifikation beruft. Wie die britische Regierung zu Recht feststellt, ist die Lage des Klägers des Ausgangsverfahrens nicht mit derjenigen eines in den Niederlanden lebenden niederländischen Staatsangehörigen vergleichbar, der eine Berufstätigkeit in Deutschland aufnehmen will und sich auf niederländische Qualifikationen beruft(14).

25. In den Schlussanträgen in der Rechtssache Middleburgh stellte Generalanwalt Mischo folgendes fest:

"In den Rechtssachen Knoors, Brökmeulen und Bouchoucha haben Sie jedenfalls die Gleichstellung eines Inländers mit jeder anderen Person, der die durch den Vertrag gewährleisteten Rechte und Freiheiten zugute kommen, nicht nur davon abhängig gemacht, daß dieser im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats ansässig war, sondern auch davon, daß er dort nach dem Gemeinschaftsrecht anerkannte Rechte erworben hatte: Für die fraglichen Personen ging es darum, in ihrem Herkunftsland die so in einem anderen Mitgliedstaat dank ihres Rechts auf Freizuegigkeit erworbenen Rechte geltend zu machen."(15)

26. Über den Erwerb einer beruflichen Qualifikation hinaus können sich die in einem anderen Mitgliedstaat erworbenen Rechte somit beispielsweise aus der Ausübung einer Erwerbstätigkeit, sei es als Arbeitnehmer oder als Selbständiger, ergeben.

27. So erkennen Sie an, daß ein Gemeinschaftsbürger sich gegenüber seinem Herkunftsstaat auf Artikel 52 berufen kann, wenn er im Anschluß an die Ausübung einer unselbständigen Tätigkeit im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats zurückkehrt, um sich zur Ausübung einer selbständigen Tätigkeit im Hoheitsgebiet des erstgenannten Staats niederzulassen.

28. In der Rechtssache Singh(16) ging es darum, ob das Gemeinschaftsrecht dem Angehörigen eines Drittlandes, der mit einer Gemeinschaftsbürgerin verheiratet ist, ein Aufenthaltsrecht verleiht, wenn letztere in ihr eigenes Land zurückkehrt, um dort eine selbständige Tätigkeit auszuüben, nachdem sie in einem anderen Mitgliedstaat unselbständig tätig war. Sie haben entschieden, daß die Betroffene aufgrund von Artikel 52 EWG-Vertrag das Recht hat, von ihrem Ehegatten, der die Staatsangehörigkeit eines Drittlandes besitzt, "nach den gleichen Bestimmungen" in das Hoheitsgebiet ihres Herkunftsstaats begleitet zu werden, wie sie in der Gemeinschaftsregelung vorgesehen sind(17). Der Angehörige eines Mitgliedstaats muß, wenn er dorthin zurückkehrt, nachdem er sich in anderen Staaten der Gemeinschaft aufgehalten hat, zumindest über diejenigen Möglichkeiten zur Einreise und zum Aufenthalt verfügen, über die er nach dem EWG-Vertrag im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats verfügen würde(18).

29. Im vorliegenden Fall ist der einzige Auslandsbezug somit, wie ich ausgeführt habe, der Wohnsitz. Hat der Kläger des Ausgangsverfahrens dadurch gemeinschaftsrechtlich anerkannte Rechte erworben?

30. Bis zu den Richtlinien des Rates vom 28. Juni 1990 über das Aufenthaltsrecht(19), die der allgemeinen Anwendung dieses Rechts dienen, bestimmte ° und begrenzte ° der wirtschaftliche Charakter des EWG-Vertrags die Freizuegigkeit innerhalb der Gemeinschaft. Daraus folgt, daß die den Gemeinschaftsbürgern zuerkannte Bewegungsfreiheit eine Ortsveränderung im Hinblick auf eine wirtschaftliche Tätigkeit voraussetzt.

31. Sie haben kürzlich im Urteil Singh darauf hingewiesen,

"daß die Gesamtheit der Vertragsbestimmungen über die Freizuegigkeit den Gemeinschaftsbürgern die Ausübung jeder Art von Erwerbstätigkeit im gesamten Gebiet der Gemeinschaft erleichtern soll und einer nationalen Regelung entgegensteht, die sie dann benachteiligen könnte, wenn sie ihre Tätigkeit über das Hoheitsgebiet eines einzigen Mitgliedstaats hinaus ausdehnen wollen.

Zu diesem Zweck besitzen die Angehörigen der Mitgliedstaaten insbesondere das unmittelbar aus den Artikeln 48 und 52 EWG-Vertrag fließende Recht, in das Hoheitsgebiet der anderen Mitgliedstaaten einzureisen und sich dort aufzuhalten, um dort eine wirtschaftliche Tätigkeit im Sinne dieser Bestimmungen auszuüben"(20).

32. Was gilt aber für einen Gemeinschaftsbürger, der von der in den Artikeln 48 und 52 EWG-Vertrag niedergelegten Freizuegigkeit niemals Gebrauch gemacht hat, um in einem anderen Mitgliedstaat als dem, dem er angehört, zu arbeiten oder um sich dort niederzulassen? Im vorliegenden Fall hat der Betroffene in dem Mitgliedstaat, in dem er wohnt, weder als Arbeitnehmer noch als Selbständiger eine Erwerbstätigkeit ausgeuebt.

33. Wenn der Selbständige, der in seinem Herkunftsstaat niedergelassen ist und in einem anderen Mitgliedstaat wohnt, sich nicht aufgrund der Artikel 48 oder 52 EWG-Vertrag auf Rechte berufen kann, die er in einem anderen Mitgliedstaat erworben hat, kann er dann die in diesem Staat erworbenen Rechte gemäß Artikel 59 EWG-Vertrag geltend machen?

34. Diese Frage bedarf einer eingehenden Prüfung, da Sie im Bereich des freien Dienstleistungsverkehrs eine weite Definition des Begriffs der Beschränkung dieser Freiheit vorgenommen haben, worauf im übrigen auch die Kommission hingewiesen hat(21).

35. Der Wohnsitz des Klägers des Ausgangsverfahrens in den Niederlanden hängt nicht mit einer Tätigkeit als Erbringer von Dienstleistungen zusammen. Er hat diesen Wohnsitz offenbar nicht zum Beispiel deshalb gewählt, um in den Niederlanden um Patienten zu werben.

36. Sie haben allerdings anerkannt, daß sich Touristen und Personen, die eine medizinische Behandlung in Anspruch nehmen, und solche, die Studien- oder Geschäftsreisen unternehmen, als Empfänger von Dienstleistungen auf Artikel 59 berufen können. Sie müssen diese Dienstleistungen daher in Anspruch nehmen können, ohne daran durch Beschränkungen, wie eine Regelung zur Begrenzung der Ausfuhr ausländischer Devisen, gehindert zu werden(22).

37. Im Urteil Cowan vom 2. Februar 1989(23) haben Sie den im Urteil Luisi und Carbone aufgestellten Grundsatz bestätigt und ausgeführt,

"daß der freie Dienstleistungsverkehr die Freiheit der Leistungsempfänger einschließt, sich zur Inanspruchnahme einer Dienstleistung in einen anderen Mitgliedstaat zu begeben, ohne durch Beschränkungen daran gehindert zu werden, und daß unter anderem Touristen als Empfänger von Dienstleistungen anzusehen sind"(24).

38. Ich glaube nicht, daß dem Fall eines Touristen, der sich in einen Mitgliedstaat begibt, der eines dort wohnenden Gemeinschaftsbürgers gleichgestellt werden kann. Ersterer fällt als Empfänger von Dienstleistungen in den Geltungsbereich von Artikel 59, letzterer aber nicht(25).

39. Nach dem Wortlaut von Artikel 59 werden nämlich die "Beschränkungen des freien Dienstleistungsverkehrs innerhalb der Gemeinschaft für Angehörige der Mitgliedstaaten, die in einem anderen Staat der Gemeinschaft als demjenigen des Leistungsempfängers ansässig sind, ... aufgehoben"(26) .

40. Wenn der Empfänger der Dienstleistungen seinen Hauptwohnsitz im Staat des Leistungserbringers hat, besitzen die fraglichen Leistungen keinen grenzueberschreitenden Charakter mehr.

41. Die Richtlinien der Gemeinschaft zur Regelung des Rechts auf Ein- und Ausreise und auf Aufenthalt, die den Leistungsempfänger ausdrücklich als Inhaber von Rechten ansehen, gewähren ihm ein Aufenthaltsrecht, das der Dauer der Leistung entspricht(27). Die Erbringung von Dienstleistungen ist naturgemäß sowohl für den Leistenden als auch für den Empfänger eine zeitlich begrenzte Tätigkeit, die nur zu einem Aufenthaltsrecht oder einem Schutz von entsprechender Dauer führen kann. Sie verträgt sich deshalb schlecht mit dem Begriff des Hauptwohnsitzes und der damit logisch verbundenen unbestimmten Aufenthaltsdauer.

42. Dies haben Sie in der Rechtssache Steymann(28) ausdrücklich entschieden. Der Betroffene war deutscher Staatsangehöriger und wohnte in den Niederlanden, wo er zunächst als Arbeitnehmer tätig war und dann einer Religionsgemeinschaft beitrat. Nachdem sein Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis mit der Begründung abgelehnt worden war, daß er keiner Beschäftigung nachgehe, erhob er Klage und machte geltend, daß er sich auf Artikel 59 berufen könne, da er als Mitglied dieser Religionsgemeinschaft von ihr Dienstleistungen empfange und ihr solche erbringe. Sie haben folgendes entschieden:

"In der zweiten und dritten Frage geht es im wesentlichen darum, ob die Artikel 59 und 60 EWG-Vertrag für den Angehörigen eines Mitgliedstaats gelten, der sich in das Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats begibt und dort seinen Hauptaufenthalt nimmt, um dort für unbestimmte Dauer Dienstleistungen zu erbringen oder zu empfangen.

Hierzu führen die niederländische Regierung und die Kommission zu Recht aus, daß die Artikel 59 und 60 EWG-Vertrag einen solchen Fall nicht erfassen. Bereits aus dem Wortlaut von Artikel 60 geht nämlich hervor, daß eine auf Dauer oder jedenfalls ohne absehbare zeitliche Beschränkung ausgeuebte Tätigkeit nicht unter die gemeinschaftsrechtlichen Vorschriften über den freien Dienstleistungsverkehr fallen kann. Solche Tätigkeiten können hingegen je nach Lage des Falles in den Anwendungsbereich der Artikel 48 bis 51 und 52 bis 58 EWG-Vertrag fallen.

Deshalb ist auf die zweite und die dritte Frage zu antworten, daß die Artikel 59 und 60 EWG-Vertrag nicht für den Angehörigen eines Mitgliedstaats gelten, der sich in das Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats begibt und dort seinen Hauptaufenthalt nimmt, um dort für unbestimmte Dauer Dienstleistungen zu erbringen oder zu empfangen."(29)

43. Ebensowenig kann ein Gemeinschaftsbürger, der sich in der Lage des Klägers des Ausgangsverfahrens befindet, Rechte geltend machen, die er als Empfänger oder Erbringer von Dienstleistungen in dem Staat erworben hat, in dem sich sein Hauptwohnsitz befindet, und kraft deren er in den Geltungsbereich des EWG-Vertrags fallen könnte.

44. Da er von den in den Artikeln 48, 52 und 59 EWG-Vertrag enthaltenen Freiheiten keinen Gebrauch gemacht hat, kann er in seinem Herkunftsland, in dem er niedergelassen ist, keine nach dem Gemeinschaftsrecht anerkannten Rechte geltend machen.

45. Der Kläger des Ausgangsverfahrens hat seine Freizuegigkeit ersichtlich nur ausgeuebt, um unabhängig von einer wirtschaftlichen Tätigkeit in den Niederlanden zu wohnen. Es leuchtet deshalb ein, daß Artikel 8 der Richtlinie des Rates vom 15. Oktober 1968(30), der das Aufenthaltsrecht der Grenzgänger regelt, nicht den Fall von Personen erfasst, die in ihrem eigenen Land beschäftigt sind und in einem anderen Mitgliedstaat wohnen(31).

46. Daraus folgt, daß ein Selbständiger, der in dem Staat, dem er angehört, niedergelassen ist, die erforderlichen, von diesem Staat verliehenen Qualifikationen besitzt und niemals eine Erwerbstätigkeit in einem anderen Staat ausgeuebt hat, nicht deshalb in den Geltungsbereich von Artikel 52 fällt, weil er seinen Hauptwohnsitz in einem anderen Mitgliedstaat hat, da es an einem nach den Artikeln 48, 52 oder 59 relevanten Auslandsbezug fehlt.

47. Vor der Stellung meines Antrags erscheint mir eine letzte Bemerkung angebracht.

48. Selbst wenn das Gemeinschaftsrecht anwendbar wäre, könnte sich der gebietsfremde Steuerpflichtige auf Artikel 52 nur berufen, sofern er eine Beschränkung der Niederlassungsfreiheit nachwiese. Es erscheint wenig wahrscheinlich, daß dieser Nachweis in einem Fall wie dem vorliegenden erbracht werden könnte.

49. Die deutsche steuerrechtliche Regelung hält niemanden davon ab, sich in Deutschland niederzulassen. Sie kann jemanden, der dort niedergelassen ist, davon abhalten, seinen Wohnsitz in einen anderen Mitgliedstaat zu verlegen. Darin sehe ich keine Beschränkung der Niederlassungsfreiheit.

50. Die letzte Frage betrifft Artikel 7 EWG-Vertrag.

51. Wir wissen, daß diese Bestimmung im Geltungsbereich des EWG-Vertrags offensichtliche und versteckte Diskriminierungen aufgrund der Staatsangehörigkeit verbietet(32).

52. Nach dem Grundsatz "specialia generalibus derogant" kann Artikel 7 "autonom nur auf durch das Gemeinschaftsrecht geregelte Fallgestaltungen angewendet werden, für die der Vertrag keine besonderen Diskriminierungsverbote vorsieht"(33).

53. Es ist in diesem Verfahren nicht vorgetragen worden, daß die deutsche steuerrechtliche Regelung, falls sie eine versteckte Diskriminierung darstellen sollte, andere Rechte als die in Artikel 52 geregelte Niederlassungsfreiheit beeinträchtigen würde.

54. Daraus folgt, daß Artikel 7 hier ebenfalls keine Anwendung finden kann.

55. Ich beantrage daher, daß Sie für Recht erkennen:

Weder Artikel 52 noch Artikel 7 EWG-Vertrag sind auf rein interne Verhältnisse eines Mitgliedstaats anwendbar, wie sie vorliegen, wenn ein Angehöriger dieses Staates, der sich dort niedergelassen hat, nachdem er dort die erforderlichen beruflichen Qualifikationen erworben hat, niemals von der Freizuegigkeit Gebrauch gemacht hat, um sich in einem anderen Mitgliedstaat niederzulassen.

(*) Originalsprache: Französisch.

(1) ° Artikel 9 Absatz 1 und 19 Absatz 1 Buchstabe d des Abkommens vom 16. Juni 1959 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Königreich der Niederlande zur Vermeidung der Doppelbesteuerung auf dem Gebiete der Steuern vom Einkommen und vom Vermögen sowie verschiedener sonstiger Steuern und zur Regelung anderer Fragen auf steuerlichem Gebiete (BGBl. 1960 II, S. 1781).

(2) ° Vorlagebeschluß, S. 5.

(3) ° Siehe die Beispiele in der Anlage zu den Erklärungen der Kommission sowie auf S. 2 der Antwort des Finanzamts Aachen-Innenstadt auf die Frage des Gerichtshofes.

(4) ° Siehe die Antwort des Finanzamts auf die Frage des Gerichtshofes, S. 3.

(5) ° Urteil vom 12. Februar 1987 in der Rechtssache 221/85 (Kommission/Belgien, Slg. 1987, 719, Randnr. 9).

(6) ° Urteil vom 18. Juni 1985 in der Rechtssache 197/84 (Steinhauser, Slg. 1985, 1819, Randnr. 16), Hervorhebung von mir.

(7) ° S. 13, letzter Absatz.

(8) ° Urteil vom 7. Februar 1979 in der Rechtssache 115/78 (Knoors, Slg. 1979, 399); Urteil vom 7. Februar 1979 in der Rechtssache 136/78 (Auer, Slg. 1979, 437) (Tierärzte); Urteil vom 6. Oktober 1981 in der Rechtssache 246/80 (Brökmeulen, Slg. 1981, 2311, Randnr. 20) (Allgemeinmediziner); Urteil vom 22. September 1983 in der Rechtssache 271/82 (Auer, Slg. 1983, 2727) (Tierärzte); Urteil vom 28. Januar 1986 in der Rechtssache 270/83 (Kommission/Frankreich, Slg. 1986, 273); Urteil vom 27. September 1989 in der Rechtssache 130/88 (van de Bijl, Slg. 1989, 3039) (Maler); Urteil vom 3. Oktober 1990 in der Rechtssache C-61/89 (Bouchoucha, Slg. 1990, I-3551 (Osteopathie); zuletzt Urteil vom 7. Juli 1992 in der Rechtssache C-370/90 (Singh, Slg. 1992, I-4265).

(9) ° Siehe den Nachweis in Fußnote 8.

(10) ° Richtlinie über die Einzelheiten der Übergangsmaßnahmen auf dem Gebiet der selbständigen Tätigkeiten der be- und verarbeitenden Gewerbe der CITI-Hauptgruppen 23 ° 40 (Industrie und Handwerk) (ABl. 1964, S. 1863).

(11) ° Randnrn. 20 und 24.

(12) ° Siehe den Nachweis in Fußnote 8.

(13) ° Richtlinie 75/362/EWG (ABl. L 167, S. 1).

(14) ° Siehe die Erklärungen der Regierung des Vereinigten Königreichs, S. 8.

(15) ° Urteil vom 4. Oktober 1991 in der Rechtssache C-15/90 (Slg. 1991, I-4655), Nr. 45 der Schlussanträge, Hervorhebung von mir; siehe auch Nr. 5 der Schlussanträge von Generalanwalt Tesauro in der Rechtssache Singh, siehe oben, Fußnote 8.

(16) ° Siehe den Nachweis in Fußnote 8.

(17) ° Vgl. Randnr. 21.

(18) ° Vgl. Randnr. 19.

(19) ° Richtlinien, die gemäß Artikel 8a EWG-Vertrag erlassen wurden: Richtlinie 90/364/EWG über das Aufenthaltsrecht, Richtlinie 90/365/EWG über das Aufenthaltsrecht der aus dem Erwerbsleben ausgeschiedenen Arbeitnehmer und selbständig Erwerbstätigen und Richtlinie 90/366/EWG über das Aufenthaltsrecht der Studenten (ABl. L 180, S. 26, 28 und 30), die in zeitlicher Hinsicht nicht auf den vorliegenden Rechtsstreit anwendbar sind. Die letztgenannte Richtlinie wurde durch Urteil des Gerichtshofes vom 7. Juli 1992 in der Rechtssache C-295/90 (Parlament/Rat, Slg. 1992, I-4193) für nichtig erklärt.

(20) ° A. a. O., Randnrn. 16 und 17, Hervorhebung von mir.

(21) ° Erklärungen der Kommission, Nr. 5.7.

(22) ° Urteil vom 31. Januar 1984 in den verbundenen Rechtssachen 286/82 und 26/83 (Luisi und Carbone, Slg. 1984, 377).

(23) ° Rechtssache 186/87 (Slg. 1989, 195).

(24) ° Randnr. 15, Hervorhebung von mir.

(25) ° Abgesehen von besonderen Fällen, die mit dem vorliegenden nichts zu tun haben und in denen der Erbringer und der Empfänger der Dienstleistung aus dem gleichen Mitgliedstaat stammen und die Dienstleistung in einem anderen Mitgliedstaat erbracht wird. Siehe Urteile vom 26. Februar 1991 in der Rechtssache C-180/89 (Kommission/Italien, Slg. 1991, I-709), in der Rechtssache C-154/89 (Kommission/Frankreich, Slg. 1991, I-659) und in der Rechtssache C-198/89 (Kommission/Griechenland, Slg. 1991, I-727).

(26) ° Hervorhebungen von mir.

(27) ° Siehe die zweite Begründungserwägung sowie Artikel 4 Absatz 2 Unterabsatz 1 der Richtlinie 73/148/EWG des Rates vom 21. Mai 1973 zur Aufhebung der Reise- und Aufenthaltsbeschränkungen für Staatsangehörige der Mitgliedstaaten innerhalb der Gemeinschaft auf dem Gebiet der Niederlassung und des Dienstleistungsverkehrs (ABl. L 172, S. 14).

(28) ° Urteil vom 5. Oktober 1988 in der Rechtssache 196/87 (Slg. 1988, 6159).

(29) ° Randnrn. 15 bis 17, Hervorhebung von mir.

(30) ° Richtlinie 68/360/EWG zur Aufhebung der Reise- und Aufenthaltsbeschränkungen für Arbeitnehmer der Mitgliedstaaten und ihre Familienangehörigen innerhalb der Gemeinschaft (ABl. L 257, S. 13).

(31) ° Van Nuffel, P.: L' Europe des citoyens: vers un droit de séjour généralisé , Revü du marché unique européen, 4-1991, S. 89, Fußnote 48.

(32) ° Urteil vom 12. Februar 1974 in der Rechtssache 152/73 (Sotgiu, Slg. 1974, 153).

(33) ° Urteil vom 30. Mai 1989 in der Rechtssache 305/87 (Kommission/Griechenland, Slg. 1989, 1461); siehe auch Urteil vom 23. April 1991 in der Rechtssache C-41/90 (Höfner und Elser, Slg. 1991, I-1979, Randnr. 36).