SITZUNGSBERICHT

in der Rechtssache C-198/90 ( *1 )

I — Rechtlicher Rahmen

1. Das Gemeinschaftsrecht

Gemäß Artikel 1 Buchstabe a Ziffer i der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 (im folgenden: Verordnung) ist unter „Arbeitnehmer“ oder „Selbständiger“ jede Person zu verstehen, die gegen ein Risiko oder gegen mehrere Risiken, die von den Zweigen eines Systems der sozialen Sicherheit für Arbeitnehmer oder Selbständige erfaßt werden, pflichtversichert oder freiwillig weiterversichert ist.

Der persönliche Geltungsbereich der Verordnung wird in Artikel 2 Absatz 1 näher bestimmt; hiernach gilt die Verordnung für Arbeitnehmer, für welche die Rechtsvorschriften eines oder mehrerer Mitgliedstaaten gelten oder galten.

Nach Artikel 3 der Verordnung müssen alle Personen, die auf dem Gebiet eines Mitgliedstaats wohnen und auf die die Bestimmungen der Verordnung anwendbar sind, gleichbehandelt werden.

Artikel 73 der Verordnung in der Fassung von Artikel 1 Absatz 1 der Verordnung (EWG) Nr. 3427/89 lautet wie folgt:„Ein Arbeitnehmer oder ein Selbständiger, der den Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats unterliegt, hat, vorbehaltlich der Bestimmungen in Anhang VI, für seine Familienangehörigen, die im Gebiet eines anderen Mitgliedstaats wohnen, Anspruch auf Familienleistungen nach den Rechtsvorschriften des ersten Staates, als ob diese Familienangehörigen im Gebiet dieses Staates wohnten.“

2. Das innerstaatliche Recht

Die niederländische Regelung, um die es geht, ist die Algemene Kinderbijslagwet (allgemeines Gesetz über den Kinderzuschlag; im folgenden: AKW, Staatsblad Hr. 1 vom 17. Januar 1980).

Die Artikel 6 Absatz 1 und 7 Absatz 1 dieses Gesetzes lauten wie folgt:

„Artikel 6

1.   Versichert nach den Bestimmungen dieses Gesetzes sind:

a)

ansässige Personen;

b)

Personen, die, ohne ansässig zu sein, aufgrund von in den Niederlanden in einem Dienstverhältnis geleisteter Arbeit der Lohnsteuer unterworfen sind.

Artikel 7

1.   Der Versicherte hat nach den Bestimmungen dieses Gesetzes Anspruch auf Kinderzuschlag für seine eigenen Kinder sowie für angeheiratete und Pflegekinder, für die oder für deren Unterhalt er sorgt (...).“

II — Sachverhalt

Arbeitnehmer, die in den Niederlanden aufgrund einer für einen Wirtschaftszweig oder ein Unternehmen geltenden Regelung eine Rente bei vorzeitigem Ausscheiden (pensioen bij vervroegde uittreding; im folgenden: VUT-Leistung) beziehen, erhalten niederländischen Kinderzuschlag nur dann, wenn sie in den Niederlanden ansässig sind.

Die Verwaltungskommission für die soziale Sicherheit der Wanderarbeitnehmer befaßte sich auf ihrer 209. Sitzung u. a. mit dieser Frage. Der Vertreter der niederländischen Regierung stellte sich auf den Standpunkt, der nicht in den Niederlanden wohnhafte VUT-Empfänger sei nicht (mehr) nach dem AKW pflichtversichert. Er habe deshalb keinen Anspruch mehr auf den von den Niederlanden gewährten Kinderzuschlag. Die Artikel 73, 74 oder 77 der Verordnung Nr. 1408/71 seien nicht anwendbar, da die Empfänger von VUT-Leistungen weder Arbeitnehmer noch Arbeitslose noch Bezieher von Pensionen oder Renten seien.

Mit Schreiben vom 5. Oktober 1988 machte die Kommission die niederländische Regierung auf diese Ungleichbehandlung aufmerksam und forderte sie auf, sich hierzu zu äußern.

Da die Antwort der niederländischen Regierung vom 12. Januar 1989 die Kommission nicht zufriedenstellte, richtete diese am 30. Mai 1989 an das Königreich der Niederlande eine mit Gründen versehene Stellungnahme.

Mit Schreiben vom 30. August 1989 lehnte die niederländische Regierung den Standpunkt der Kommission ab. Hierauf erhob die Kommission die vorliegende Klage.

III — Schriftliches Verfahren und Anträge der Parteien

1.

Die Klageschrift der Kommission ist am 28. Juni 1990 in das Register der Kanzlei des Gerichtshofes eingetragen worden. Das schriftliche Verfahren ist ordnungsgemäß abgelaufen. Die Kommission hat auf die Einreichung einer Erwiderung verzichtet.

Der Gerichtshof hat auf Bericht des Berichterstatters nach Anhörung des Generalanwalts beschlossen, die mündliche Verhandlung ohne vorherige Beweisaufnahme zu eröffnen.

Er hat der Kommission jedoch eine Frage gestellt, die diese fristgemäß beantwortet hat.

2.

Die Kommission beantragt:

a)

festzustellen, daß das Königreich der Niederlande dadurch gegen seine Verpflichtungen aus dem EWG-Vertrag verstoßen hat, daß es vorzeitig ausgeschiedenen Arbeitnehmern, die außerhalb des Staatsgebiets wohnen, jedoch nach den Artikeln 73 und 75 der Verordnung Nr. 1408/71 unter die niederländischen Rechtsvorschriften fallen, den Kinderzuschlag verweigert;

b)

dem Königreich der Niederlande die Kosten des Verfahrens aufzuerlegen.

Das Königreich der Niederlande beantragt:

a)

die Klage der Kommission auf Feststellung, daß das Königreich der Niederlande dadurch gegen seine Verpflichtungen aus dem EWG-Vertrag verstoßen habe, daß es vorzeitig ausgeschiedenen Arbeitnehmern, die außerhalb des Staatsgebiets wohnen, jedoch nach den Artikeln 73 und 75 der Verordnung Nr. 1408/71 unter die niederländischen Rechtsvorschriften fallen, den Kinderzuschlag verweigert, als unbegründet abzuweisen;

b)

der Kommission die Kosten des Verfahrens aufzuerlegen.

IV — Vorbringen der Parteien

Die Kommission führt aus, die Empfänger von VUT-Leistungen nach der niederländischen Regelung seien weiterhin Arbeitnehmer im Sinne von Artikel 1 Buchstabe a der Verordnung Nr. 1408/71.

Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofes habe der Begriff des Arbeitnehmers einen gemeinschaftsrechtlichen Inhalt und sei im Lichte von Artikel 51 EWG-Vertrag, der die Herstellung größtmöglicher Freizügigkeit der Arbeitnehmer bezwecke, weit auszulegen. Der Begriff „Arbeitnehmer“ umfasse alle Personen, die in dieser Eigenschaft, gleichviel unter welcher Bezeichnung, von den verschiedenen Systemen des innerstaatlichen Sozialversicherungsrechts erfaßt würden (Urteile vom 24. September 1987 in der Rechtssache 43/86, De Rijke, Sig. 1987, 3611, und vom 19. März 1964 in der Rechtssache 75/63, Unger-Hoekstra, Slg. 1964, 369).

Nach niederländischem Recht blieben die Empfänger von VUT-Leistungen aufgrund der Ziekenfondswet (Gesetz über die Krankenkassen) pflichtversichert, wenn sie dies bereits vor der Aufgabe ihrer beruflichen Tätigkeit gewesen seien, und zwar ohne Rücksicht auf ihren Wohnort. Hieraus folge, daß Empfänger von VUT-Leistungen, solange sie — sei es auch nur gegen ein einziges Risiko, für das Krankenkosten erstattet würden — pflichtversichert blieben, der Definition des Begriffs Arbeitnehmer durch den Gerichtshof entsprächen.

Wie der Gerichtshof in seinen Urteilen vom 10. Juli 1986 in der Rechtssache 60/85 (Luijten, Slg. 1986, 2365) und vom 3. Mai 1990 in der Rechtssache C-2/89 (Kits van Heijningen, Slg. 1990, 1755) festgestellt habe, bezwecke die Vorschrift von Titel II der Verordnung Nr. 1408/71, daß die Arbeitnehmer dem System der sozialen Sicherheit nur eines einzigen Mitgliedstaates unterworfen seien. Die Feststellung, daß auf einen Arbeitnehmer eine bestimmte Rechtsordnung anwendbar sei, habe somit zur Folge, daß lediglich diese Rechtsordnung auf ihn Anwendung finde; hiermit solle verhindert werden, daß die von Titel II erfaßten Personen in Ermangelung einer für sie geltenden gesetzlichen Regelung jedes Schutzes auf dem Gebiet der sozialen Sicherheit beraubt würden. Daß die Empfänger von VUT-Leistungen aufgrund des Ziekenfondswet pflichtversichert blieben, wenn sie dies auch während ihres aktiven Berufslebens gewesen seien, bedeute, daß sie unter die niederländischen Rechtsvorschriften fielen. Fielen sie nämlich unter andere innerstaatliche Rechtsvorschriften, so könnten sie nicht aufgrund des Ziekenfondswet pflichtversichert bleiben.

Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofes (siehe u. a. die Urteile vom 23. September 1982 in der Rechtssache 275/81, Koks, Slg. 1982, 3013, und vom 17. Mai 1984 in der Rechtssache 101/83, Brusse, Slg. 1984, 2223, sowie das Urteil vom 3. Mai 1990 in der Rechtssache Kits van Heijningen) habe der Arbeitnehmer, der unter die Rechtsvorschriften seines Beschäftigungslandes falle, einen wohlerworbenen Anspruch auf Kinderzuschlag gemäß den in diesen Vorschriften aufgestellten Voraussetzungen. Dieser Anspruch dürfe ihm nicht durch die Anwendung einer Wohnortklausel entzogen werden, derzufolge Personen, die nicht im Gebiet des betroffenen Mitgliedstaates wohnten, von der Gewährung des Kinderzuschlags ausgeschlossen würden.

Die gegenteilige Lösung würde darauf hinauslaufen, den Grenzarbeitern durch Anwendung einer diskriminierenden Wohnsitzbedingung den Zuschlag für die Zeit ihres vorzeitigen Ausscheidens willkürlich zu verweigern, obwohl sie sowohl in dem vorausgegangenen Zeitraum, das heißt während ihrer Berufstätigkeit, als auch in dem nachfolgenden Zeitraum, wenn sie das Rentenalter erreicht hätten, hierauf Anspruch hätten.

Nach Ansicht der niederländischen Regierung kann ein Empfänger von VUT-Leistungen, der in Ansehung des Ziekenfondswet versichert bleibe, den übrigen Zweigen der sozialen Sicherheit jedoch nicht mehr angeschlossen sei, zwar als Arbeitnehmer im Sinne von Artikel 1 Buchstabe a der Verordnung Nr. 1408/71 angesehen werden, falle jedoch nicht unter die Bestimmungen von Titel II der Verordnung über die Bestimmung der anwendbaren Rechtsvorschriften.

Diese Kollisionsnormen bezögen sich nämlich nur auf Personen, die in gesellschaftlichem Sinne als Arbeitnehmer betrachtet werden könnten.

Die niederländische Regierung verweist auf die Schlußanträge des Generalanwalts Mischo vom 15. Juni 1990 in der Rechtssache C-140/8 8 (Noij, Urteil vom 21. Februar 1991, Slg. 1991, I-387), wonach Artikel 13 der Verordnung einzig und allein auf Personen anwendbar sein könne, die eine Berufstätigkeit ausübten. Ein Arbeitnehmer, der seine Berufstätigkeit aufgegeben habe, sei daher den Rechtsvorschriften seines Wohnsitzlandes unterworfen. Den gleichen Standpunkt habe übrigens auch die Kommission in ihren schriftlichen Bemerkungen in der oben genannten Rechtssache eingenommen, wobei sie sich auf Ziel und Tragweite der Verordnung sowie auf die Ratio der in Titel II der Verordnung enthaltenen Kollisionsregeln gestützt habe.

Die Anwendbarkeit von Artikel 73 setze voraus, daß gemäß Titel II die Anwendbarkeit der Rechtsvorschriften eines bestimmten Mitgliedstaates festgestellt worden sei. Das ergebe sich im übrigen aus dem Urteil des Gerichtshofes vom 17. Mai 1984 in der Rechtssache 101/83 (Brusse, Slg. 1984, 2223, Randnr. 31).

Jedenfalls könne Artikel 73 nicht eine Wohnsitzklausel ausschalten, die eine Bedingung für die Zugehörigkeit zu einem gesetzlichen System der Familienzulagen aufstelle. Diese Bestimmung ziele ausschließlich auf Fälle, in denen die innerstaatlichen Rechtsvorschriften für die Gewährung oder Auszahlung von Familienzulagen den Familienangehörigen Auflagen bezüglich des Wohnsitzes mache. Lediglich derartige Bedingungen würden durch die genannte Bestimmung im Ergebnis ausgeschaltet.

Die in Artikel 3 der Verordnung Nr. 1408/71 vorgeschriebene Gleichbehandlung betreffe lediglich die Fälle, in denen die Zugehörigkeit zum innerstaatlichen Rechtssystem eines Mitgliedstaates an einer von diesem System aufgestellten Staatsangehörigkeitsklausel scheitern würde, sei es kraft der innerstaatlichen Rechtsvorschriften selbst, sei es aufgrund von Titel II der Verordnung. Dagegen könne Artikel 3 kein als Zugehörigkeitsbedingung aufgestelltes Wohnsitzkriterium ausschalten und daher auch nicht die Zugehörigkeit zu einem Zweig der Sozialversicherung eines Mitgliedstaates begründen.

Wohnsitzklauseln könnten allein dann ausgeschaltet werden, wenn sie in einem nach den Kollisionsnormen von Titel II bestimmten innerstaatlichen Rechtssystem enthalten seien. Ein Mitgliedstaat könne einem ehemaligen Arbeitnehmer, der früher einmal angeschlossen gewesen sei, keine diskriminierenden Bestimmungen über die Gewährung oder Auszahlung von unter die Verordnung fallenden Leistungen entgegenhalten.

Die Auffassung der Kommission würde dazu führen, daß Rechtssysteme, die die Zugehörigkeit zu ihnen von der Ansässigkeit abhängig machte, sämtliche Angehörigen aller Mitgliedstaaten zum Kreis ihrer Versicherten zu rechnen hätten. Ein solches Ergebnis sei unannehmbar.

V — Antwort der Kommission auf die Frage des Gerichtshofes

Frage

Die Kommission wird gebeten, insbesondere mit Hinblick auf die Urteile des Gerichtshofes vom 21. Februar 1991 in den Rechtssachen C-140/88 (Noij) und C-245/88 (Daalmeijer, Slg. 1991, I-555) zu nachstehenden Ausführungen in Punkt 17 der Klagebeantwortung der niederländischen Regierung Stellung zu nehmen:

Kann jemand zwar als Arbeitnehmer im Sinne von Artikel 1 Buchstabe a der Verordnung angesehen werden, weil er aufgrund der innerstaatlichen Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaates einem Zweig des sozialen Sicherheitssystems dieses Staates angeschlossen ist, so bedeutet diese Zugehörigkeit zu einem Zweig der sozialen Sicherheit dennoch für sich allein noch nicht, daß der Betroffene auch den übrigen Zweigen des sozialen Sicherheitssystems desselben Mitgliedstaates angeschlossen wäre. Die Voraussetzungen für den Anschluß werden nämlich von den nationalen Rechtsvorschriften bestimmt. Macht die nationale gesetzliche Regelung den Anschluß von einer an den Wohnsitz geknüpften Bedingung abhängig, so kann dieses Erfordernis lediglich durch die Wirkungen von Titel II aufgehoben werden. Dieser Titel findet nach Ansicht der niederländischen Regierung jedoch nicht auf Empfänger von VUT-Leistungen Anwendung.

Antwort

Auf den ersten Blick scheine es, daß diese Ausführungen in Einklang mit den Feststellungen des Gerichtshofes in seinen Urteilen vom 21. Februar 1991 in den Rechtssachen C-140/88 (Noij, a. a. O.) und C-245/88 (Daalmeijer, a. a. O., Randnr. 14) stünden.

Nach diesem Urteil lasse sich in der Tat die Ansicht vertreten, Titel II der Verordnung finde nicht auf Grenzarbeiter Anwendung, die niederländische VUT-Leistungen erhielten, so daß diese nicht aus diesem Grunde dem gesamten niederländischen Sozialversicherungsrecht unterworfen seien. Dies bedeute jedoch nicht, daß sie nicht aus einem anderen Grunde Anspruch auf eine oder mehrere der in Titel III genannten Leistungen haben könnten. Einen solchen Anspruch hätten sie nämlich sehr wohl. Dies folge bereits aus dem Urteil Daalmeijer. Zwar habe der Gerichtshof bekräftigt, daß es Sache des nationalen Gesetzgebers sei, die Voraussetzungen für den Anschluß aller am System der sozialen Sicherheit zu bestimmen, dies jedoch lediglich unter der Bedingung, daß hierbei keine Unterschiede zwischen eigenen Staatsangehörigen und Staatsangehörigen anderer Mitgliedstaaten gemacht würden.

Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofes sei das Diskriminierungsverbot von Artikel 51 EWG-Vertrag weit auszulegen: Hierunter fielen auch alle Formen der Diskriminierung durch die Aufstellung von Unterscheidungsmerkmalen, die zu einem gleichen Ergebnis führten. Vorliegend sei eine versteckte Diskriminierung gegeben. Es gehe hier nämlich fast ausnahmslos um Nicht-Niederländer, nämlich ehemalige belgische Grenzarbeiter, die ohne Unterbrechung weiterhin in Belgien gewohnt hätten und dorthin zurückgekehrt seien. Überdies habe der Gerichtshof in seinem Urteil vom 15. Januar 1986 in der Rechtssache 41/84 (Pina, Slg. 1986, 1) entschieden, daß der Betrag der von einem Mitgliedstaat gewährten Familienzulagen nicht vom Wohnort der Familienangehörigen abhängig gemacht werden dürfe. Hieraus folge a fortiori, daß das gleiche für die Gewährung von Familienzulagen wie denjenigen gelten müsse, um die es in der vorliegenden Rechtssache gehe.

Ein drittes Argument lasse sich bereits aus dem Ziel von Artikel 51 EWG-Vertrag ableiten. Dieses sei bekanntlich, dem Wanderarbeitnehmer die Aufrechterhaltung von Ansprüchen auf Leistungen der Sozialversicherung zu garantieren, um eine möglichst große Freizügigkeit dieser Arbeitnehmer zu gewährleisten. Das bedeute in jedem Fall zweierlei: Zum einen müßten Staatsangehörige eines Mitgliedstaates sich zur Arbeit als Arbeitnehmer oder Selbständige in einen anderen Mitgliedstaat begeben können, ohne die in ihrem eigenen Mitgliedstaat erworbenen Rechte zu verlieren; zum anderen müsse dieselbe Person später auch wieder in ihren eigen Mitgliedstaat zurückkehren können, ohne hierdurch der im Beschäftigungsland erworbenen Rechte verlustig zu gehen. Dies wäre aber der Fall, wenn man sich der Auffassung der niederländischen Regierung anschlösse: Arbeitnehmer, denen durch die Gewährung von VUT-Leistungen ein Anreiz geboten werde, aus dem Arbeitsprozeß auszuscheiden, verlören auf diese Weise gesetzlich erworbene Ansprüche, im vorliegenden Fall den Anspruch auf Kinderzuschlag. Ein solches Ergebnis stehe in völligem Gegensatz zu den Zielen von Artikel 51 EWG-Vertrag.

Die Gründe für die Meinungsverschiedenheit zwischen der niederländischen Regierung und der Kommission rührten im wesentlichen daher, daß sich die Verordnung Nr. 1408/71 über Arbeitnehmer ausschweige, die eine vorzeitige Rente empfingen. Dieses Problem könne man, solange die Verordnung in diesem Punkt nicht ausdrücklich geändert werde, auf zwei Wegen in Angriff nehmen. Man könne wie die niederländische Regierung eine formalistische und einschränkende Haltung einnehmen und zu dem Schluß kommen, daß Personen, die den Anschlußvoraussetzungen der innerstaatlichen Rechtsvorschriften nicht genügten, keine Leistungen erhielten. Man könne aber auch, wie es die Kommission vorschlage, nach Anknüpfungspunkten in der Verordnung suchen, um die Betroffenen nicht ins Leere fallen zu lassen. Dieses Ergebnis könne wiederum auf zwei Arten erreicht werden: Man könne die vorzeitig in Rente gehenden Personen entweder den Rentenempfängern oder den Arbeitnehmern gleichstellen. Im ersten Fall wende man Artikel 77 der Verordnung analog an; im zweiten Fall werde namentlich Artikel 75 angewandt. Für die erste Lösung spreche, daß vorzeitig in den Ruhestand tretende Arbeitnehmer ebenso wie solche, die dies zum normalen Zeitpunkt täten, endgültig aus dem Arbeitsprozeß ausschieden.

Für die zweite Lösung sprächen insbesondere die Urteile vom 31. Mai 1979 in der Rechtssache 182/78 (Pierik, Slg. 1979, 177) und vom 5. Juli 1983 in der Rechtssache 171/82 (Valentini, Slg. 1983, 2157). Im ersten Fall war es um jemanden gegangen, der „nicht mehr tätig ist“, dem Gerichtshof zufolge jedoch trotzdem als „Arbeitnehmer“ im Sinne von Artikel 1 Buchstabe a der Verordnung Nr. 1408/71 anzusehen sei. Im zweiten Fall habe der Gerichtshof, abgesehen von bestimmten Übereinkommen, vor allem die Unterschiede zwischen Altersrenten und bei vorzeitigem Ausscheiden gewährten Renten betont und sei zu dem Schluß gelangt, daß die streitigen Leistungen nicht als Leistungen gleicher Art wie die von Artikel 46 der Verordnung Nr. 1408/71 erfaßten Leistungen bei Alter anzusehen seien (Randnr. 19). Da diese Rechtsprechung speziell die Verordnung Nr. 1408/71 betreffe, schlägt die Kommission vor, sie auf den vorliegenden Fall anzuwenden.

Im Ergebnis bleibt die Kommission bei der Auffassung, daß Arbeitnehmer, die VUT-Leistungen erhalten, aber in einem anderen Mitgliedstaat wohnen, ungeachtet der von den niederländischen Rechtsvorschriften aufgestellten Wohnsitzvoraussetzung, ihren Anspruch auf niederländischen Kinderzuschlag behielten. Die von der niederländischen Regierung vertretene Auffassung führe zu einem mit Artikel 51 EWG-Vertrag unvereinbaren Ergebnis.

J. C. Moitinho de Almeida

Berichterstatter


( *1 ) Verfahrenssprache: Niederländisch.


URTEIL DES GERICHTSHOFES

28. November 1991 ( *1 )

In der Rechtssache C-198/90

Kommission der Europäischen Gemeinschaften, zunächst vertreten durch Marie Wolfcarius und René Barents, später durch M. Wolfcarius und Berend Jan Drijber, Juristischer Dienst, als Bevollmächtigte, Zustellungsbevollmächtigter: Roberto Hayder, Vertreter des Juristischen Dienstes, Centre Wagner, Luxemburg-Kirchberg,

Klägerin,

gegen

Königreich der Niederlande, vertreten durch J. W. de Zwaan und T. Heukels, Hilfsrechtsberater im Außenministerium, als Bevollmächtigte, Zustellungsanschrift: Niederländische Botschaft, 5, rue C. M. Spoo, Luxemburg,

Beklagter,

wegen Feststellung, daß das Königreich der Niederlande dadurch gegen seine Verpflichtungen aus dem EWG-Vertrag verstoßen hat, daß es vorzeitig aus dem Arbeitsprozeß ausgeschiedenen Arbeitnehmern, die außerhalb des Staatsgebiets wohnen, jedoch nach den Artikeln 73 und 75 der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 über die Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern (ABl. L 149, S. 2), in ihrer jetzigen Fassung unter die niederländischen Rechtsvorschriften fallen, die Gewährung von Kinderzuschlag verweigert,

erläßt

DER GERICHTSHOF

unter Mitwirkung des Präsidenten O. Due, der Kammerpräsidenten Sir Gordon Slynn, R. Joliét, F. Grévisse und P. J. G. Kapteyn, der Richter C. N. Kakouris, J. C. Moitinho de Almeida, M. Diez de Velasco und M. Zuleeg,

Generalanwalt: W. Van Gerven

Kanzler: J. A. Pompe, Hilfskanzler

aufgrund des Sitzungsberichts,

nach Anhörung der Parteien in der Sitzung vom 12. Juni 1991,

nach Anhörung der Schlußanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 17. September 1991,

folgendes

Urteil

1

Die Kommission der Europäischen Gemeinschaften hat mit Klageschrift, die am 28. Juni 1990 bei der Kanzlei des Gerichtshofes eingegangen ist, gemäß Artikel 169 EWG-Vertrag Klage erhoben auf Feststellung, daß das Königreich der Niederlande dadurch gegen seine Verpflichtungen aus dem EWG-Vertrag verstoßen hat, daß es vorzeitig aus dem Arbeitsprozeß ausgeschiedenen Arbeitnehmern, die außerhalb des Staatsgebietes wohnen, jedoch nach den Artikeln 73 und 75 der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 über die Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern (ABl. L 149, S. 2), unter die niederländischen Rechtsvorschriften fallen, die Gewährung von Kinderzuschlag verweigert.

2

Die niederländischen Behörden stützen ihre Weigerung, Personen, die eine Rente wegen vorzeitigen Ausscheidens aus dem Arbeitsprozeß beziehen und nicht in den Niederlanden wohnen, Kinderzuschlag zu gewähren, zum einen auf Artikel 6 Absatz 1 der niederländischen Algemene Kinderbijslagwet (Allgemeines Gesetz über den Kinderzuschlag, Staatsblad Nr. 1 vom 17. Januar 1980, im folgenden: AKW), zum anderen darauf, daß die Verordnung Nr. 1408/71 keine Bestimmungen enthalte, die vorzeitig ausscheidenden Arbeitnehmern, die auf dem Gebiet eines anderen Mitgliedstaats wohnten, ebenso wie Arbeitnehmern (Artikel 73), Arbeitslosen (Artikel 74) und Rentnern (Artikel 77) einen Anspruch auf Kinderzuschlag gewährten.

3

Artikel 6 Absatz 1 AKW lautet wie folgt:

„Versichert nach den Bestimmungen dieses Gesetzes sind:

a)

ansässige Personen;

b)

Personen, die, ohne ansässig zu sein, aufgrund von in den Niederlanden in einem Dienstverhältnis geleisteter Arbeit der Lohnsteuer unterworfen sind.“

4

Zufolge der Kommission finden die Artikel 73 und 75 der Verordnung Nr. 1408/71 Anwendung auf Arbeitnehmer, die eine Rente wegen vorzeitigen Ausscheidens aus dem Arbeitsprozeß beziehen; die Wohnsitzvoraussetzung des Artikels 6 AKW könne Personen, die in den Geltungsbereich der Verordnung Nr. 1408/71 fielen, nicht entgegengehalten werden.

5

Wegen weiterer Einzelheiten des Sachverhalts, des Verfahrensablaufs und des Vorbringens der Parteien wird auf den Sitzungsbericht verwiesen. Der Akteninhalt ist im folgenden nur insoweit wiedergegeben, als die Begründung des Urteils dies erfordert.

Zur Anwendung der Artikel 73 und 75 der Verordnung Nr. 1408/71 auf Arbeitnehmer, die von einer Regelung Gebrauch machen, die ein vorzeitiges Ausscheiden ermöglicht

6

Die Kommission macht geltend, vorzeitig ausgeschiedene Arbeitnehmer würden von der Definition des Begriffs „Arbeitnehmer“ in Artikel 1 Buchstabe a der Verordnung Nr. 1408/71 erfaßt; da sie als aktive Arbeitnehmer anzusehen seien, fielen sie unter Artikel 13 Absatz 2 Buchstabe a dieser Verordnung, wonach für Arbeitnehmer, die auf dem Gebiet eines Mitgliedstaates beschäftigt sind, die Rechtsvorschriften dieses Staates gelten, auch wenn sie auf dem Gebiet eines anderen Mitgliedstaates wohnen. Hieraus folgt ihrer Meinung nach, daß für sie die niederländischen Rechtsvorschriften gelten und daß sie daher gemäß Artikel 73 Absatz 1 Anspruch auf Familienleistungen für diejenigen Angehörigen ihrer Familie haben, die nicht in den Niederlanden wohnen.

7

Die Kommission führt hierzu weiterhin aus, die Tatsache, daß die vorzeitig ausgeschiedenen Arbeitnehmer aufgrund der Ziekenfondswet (Gesetz über Krankenkassen; im folgenden: ZFW) pflichtversichert seien, liefere den Beweis dafür, daß die niederländischen Rechtsvorschriften nach wie vor für sie gälten.

8

Gemäß Artikel 73 der Verordnung Nr. 1408/71 in der Fassung der Verordnung (EWG) Nr. 3427/89 des Rates vom 30. Oktober 1989 (ABl. 1989, L 331, S. 1)

„[hat] ein Arbeitnehmer oder ein Selbständiger, der den Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats unterliegt, ... für seine Familienangehörigen, die im Gebiet eines anderen Mitgliedstaats wohnen, Anspruch auf Familienleistungen nach den Rechtsvorschriften des ersten Staates, als ob diese Familienangehörigen im Gebiet dieses Staates wohnten“.

9

Diese Bestimmung ist im Zusammenhang mit den in den Artikeln 13 bis 17 der gleichen Verordnung enthaltenen Kollisionsnormen zu lesen (siehe das Urteil vom 19. Februar 1981 in der Rechtssache 104/80, Beeck, Slg. 1981, 503, Randnr. 7).

10

Entgegen der Auffassung der Kommission ist Artikel 13 Absatz 2 Buchstabe a nicht auf vorzeitig ausscheidende Arbeitnehmer anwendbar. Wie der Gerichtshof nämlich entschieden hat, soll diese Bestimmung Fälle der Rechtskollision lösen, die sich ergeben können, wenn Wohn- und Beschäftigungsort während des gleichen Zeitraums nicht in demselben Mitgliedstaat liegen. Derartige Kollisionsfälle können aber bei Arbeitnehmern, die jegliche Berufstätigkeit endgültig aufgegeben haben, nicht mehr auftreten (siehe das Urteil vom 21. Februar 1991 in der Rechtssache C-140/88, Noij, Slg. 1991, I-387, Randnrn. 9 und 10).

11

Zwar sind die vorzeitig ausgeschiedenen Arbeitnehmer, um die es vorliegend geht, aufgrund der ZFW weiterhin versichert, jedoch ergibt sich die Anwendung dieses Gesetzes nicht aus der Anwendung der in Artikel 13 Absatz 2 Buchstabe a der Verordnung Nr. 1408/71 enthaltenen Kollisionsnorm.

12

Aus beiden Überlegungen folgt, daß Artikel 73 auf diese Arbeitnehmer keine Anwendung findet. Da Artikel 75 die beiden vorhergehenden Bestimmungen lediglich ergänzt, ist der Vorwurf der Verletzung der Artikel 73 und 75 somit zurückzuweisen.

Zum Vorbringen, wonach Artikel 6 AKW bestimmten Personen nicht entgegengehalten werden könne

13

Hilfsweise macht die Kommission geltend, nach der Rechtsprechung des Gerichtshofes sei es Sache des innerstaatlichen Gesetzgebers, die Voraussetzungen festzulegen, unter denen eine Person einem System der sozialen Sicherheit oder einem bestimmten Zweig eines solchen Systems beitreten könne oder müsse — und zwar einschließlich der Voraussetzung für die Beendigung der Versicherungszugehörigkeit —, solange hierbei nicht zwischen Inländern und Staatsangehörigen der übrigen Mitgliedstaaten unterschieden werde (siehe u. a. das Urteil vom 21. Februar 1991 in der Rechtssache C-245/48, Daalmeijer, Slg. 1991, I-555, Randnr. 15). Die im AKW aufgestellte, an den Wohnort geknüpfte Voraussetzung sei mittelbar diskriminierend, da sie sich tendenziell zum Nachteil von Angehörigen der übrigen Mitgliedstaaten auswirke und könne diesen daher nicht entgegengehalten werden.

14

Ein derartiger Vorwurf findet sich weder im Aufforderungsschreiben der Kommission noch in der mit Gründen versehenen Stellungnahme. In diesen Schriftstücken wird lediglich der Vorwurf der Verletzung der Artikel 73 und 75 der Verordnung Nr. 1408/71 erhoben, ohne daß unmittelbar oder mittelbar von einem Verstoß gegen das Diskriminierungsverbot die Rede wäre.

15

Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofes (siehe u. a. das Urteil vom 7. Februar 1984 in der Rechtssache 166/82, Kommission/Italien, Slg. 1984, 459, Randnr. 16) wird der Gegenstand einer Klage gemäß Artikel 169 EWG-Vertrag durch das in dieser Bestimmung vorgesehene vorprozessuale Verwaltungsverfahren sowie durch die Klageanträge eingegrenzt und müssen die mit Gründen versehene Stellungnahme der Kommission und die Klage auf die gleichen Gründe und das gleiche Vorbringen gestützt sein.

16

Hieraus folgt, daß der Gerichtshof diesen Vorwurf nicht untersuchen kann, so daß die Klage in ihrer Gesamtheit abzuweisen ist.

Kosten

17

Nach Artikel 69 § 2 der Verfahrensordnung ist die unterliegende Partei zur Tragung der Kosten zu verurteilen. Da die Kommission mit ihrem Vorbringen unterlegen ist, sind ihr die Kosten aufzuerlegen.

 

Aus diesen Gründen

hat

DER GERICHTSHOF

für Recht erkannt und entschieden:

 

1)

Die Klage wird abgewiesen.

 

2)

Die Kommission trägt die Kosten des Verfahrens.

 

Due

Slynn

Joliét

Grévisse

Kapteyn

Kakouris

Moitinho de Almeida

Diez de Velasco

Zuleeg

Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 28. November 1991.

Der Kanzler

J.-G. Giraud

Der Präsident

O. Due


( *1 ) Verfahrenssprache: Niederländisch.