Schlussanträge des Generalanwalts Lenz vom 3. Juli 1991. - CAISSE AUXILIAIRE D'ASSURANCE MALADIE-INVALIDITE UND INSTITUT NATIONAL D'ASSURANCE MALADIE-INVALIDITE GEGEN NAPOLEON UND JOCELYNE FAUX. - ERSUCHEN UM VORABENTSCHEIDUNG: COUR DU TRAVAIL DE MONS - BELGIEN. - SOZIALE SICHERHEIT DER GRENZGAENGER - VERORDNUNG NR. 36/63/EWG. - RECHTSSACHE C-302/90.
Sammlung der Rechtsprechung 1991 Seite I-04875
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Herr Präsident,
meine Herren Richter!
1. Zu der von der Cour du travail in Mons an uns gerichteten Anfrage, die sich bezieht auf die Auslegung gemeinschaftsrechtlicher Vorschriften über die soziale Sicherheit von Wanderarbeitnehmern, halte ich folgende Stellungnahme für angezeigt:
Stellungnahme
2. 1. Der ersten Frage zufolge soll geklärt werden, ob die Artikel 1 Absatz 1 Buchstabe c und 2 Absatz 1 in Verbindung mit Artikel 19 Absatz 1 der Verordnung Nr. 36/63/EWG des Rates vom 2. April 1963 über die soziale Sicherheit der Grenzgänger (1) dahin auszulegen sind, daß eine in Frankreich wohnende französische Arbeitnehmerin, die fast 14 Jahre lang ausschließlich in Belgien im Lohn- oder Gehaltsverhältnis beschäftigt war, die ihr im Zeitpunkt ihrer Kündigung am 4. Dezember 1970 noch zuerkannte Eigenschaft einer Grenzgängerin im Sinne von Artikel 1 Absatz 1 Buchstabe c verloren hat, weil sie voll arbeitslos wurde und deshalb in der Zeit vom 25. Februar 1971 bis zum 11. Oktober 1971 gemäß Artikel 19 Absatz 1 der Verordnung Nr. 36/63 vom französischen Träger ihres Wohnorts Leistungen bezog, obwohl sie diese Eigenschaft nach Artikel 2 Absatz 1 und Artikel 19 Absatz 1 dieser Verordnung offenbar behalten hat.
3. Dazu ist in Erinnerung zu bringen, daß gemäß Artikel 1 Absatz 1 Buchstabe c der Verordnung Nr. 36/63 der Ausdruck "Grenzgänger" die Arbeitnehmer bezeichnet, die unter Beibehaltung ihres Wohnortes im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaates im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaates beschäftigt sind und in der Regel täglich oder mindestens einmal wöchentlich an ihren Wohnort zurückkehren; daß nach Artikel 2 der genannten Verordnung diese auf Grenzgänger Anwendung findet, für welche die Rechtsvorschriften eines oder mehrerer Mitgliedstaaten gelten oder galten; und daß der Artikel 19 der Verordnung für den Fall der Arbeitslosigkeit bestimmt, Grenzgänger hätten nach den Rechtsvorschriften des Mitgliedstaates, in dessen Hoheitsgebiet sie wohnen, Anspruch auf Leistungen, als ob sie ihre letzte Beschäftigung im Hoheitsgebiet dieses Staates ausgeuebt hätten.
4. In Erinnerung zu bringen ist auch, daß die verlangte Klärung für wichtig gehalten wird im Hinblick auf von der ursprünglichen Berufungsbeklagten, einer ehemaligen Grenzgängerin (mit Wohnsitz in Frankreich und Beschäftigung in Belgien), geltend gemachten Ansprüche auf Leistungen wegen ursprünglicher Arbeitsunfähigkeit (ab 12. Oktober 1971) und auf Leistungen wegen Invalidität (ab 12. Oktober 1972).
5. Diese Leistungen wurden von der Berufungsklägerin bekanntlich verweigert unter Bezugnahme auf das belgische Gesetz vom 9. August 1963, genauer: unter Hinweis darauf, die ursprüngliche Berufungsbeklagte habe im Zeitpunkt des Eintritts der Arbeitsunfähigkeit die belgische Versicherung seit mehr als 30 Tagen verlassen gehabt (und erfuelle somit nicht die in Artikel 75 des genannten Gesetzes festgelegte Bedingung). Die Ansprüche wurden dagegen - auf Klage - zuerkannt durch ein Urteil der zuständigen ersten Instanz aus dem Jahre 1976, in dem im wesentlichen betont wurde, es sei die in Frankreich kontrollierte Arbeitslosigkeit der ursprünglichen Berufungsbeklagten einem in Belgien kontrollierten Zeitraum gleichzustellen. Sie bilden nunmehr, nachdem gegen dieses Urteil Berufung eingelegt worden ist und das Berufungsverfahren im Jahre 1989 von den Erben der 1983 verstorbenen Anspruchsinhaberin wieder aufgenommen worden ist, den Gegenstand des Verfahrens bei der Cour du travail in Mons, aus dem ein Vorabentscheidungsersuchen an uns gerichtet worden ist.
6. Vor diesem Gericht vertritt die Berufungsklägerin bekanntlich die Ansicht, die ursprüngliche Berufungsbeklagte sei ab Eintritt ihrer Arbeitslosigkeit (4. Dezember 1970) nicht mehr Grenzgängerin im Sinne der Verordnung Nr. 36/63 gewesen. Sie habe sich also für Leistungen wegen ursprünglicher Arbeitsunfähigkeit nicht auf den Artikel 6 der genannten Verordnung berufen können; Ansprüche ab Eintritt der Arbeitsunfähigkeit (12. Oktober 1971) habe sie vielmehr gemäß Artikel 17 der Verordnung Nr. 3 des Rates vom 25. September 1958 über die soziale Sicherheit der Wanderarbeitnehmer (2) und solche wegen Invalidität (ab 12. Oktober 1972) nach Artikel 39 der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 (3) geltend machen können, was bedeutet, daß Leistungen von französischen Versicherungsträgern zu erbringen waren.
7. Entsprechend ist auch der Standpunkt, den sie im vorliegenden Verfahren eingenommen hat. Sie meint, die ursprüngliche Berufungsbeklagte habe ab Eintritt der Arbeitslosigkeit Sachleistungen (wegen Krankheit) gemäß Artikel 10 der Verordnung Nr. 36/63 ausschließlich von der französischen Sozialversicherung beanspruchen können. Ansprüche auf Geldleistungen nach Artikel 6 der Verordnung Nr. 36/63 hätten ihr dagegen nicht zugestanden, denn als Arbeitslose habe sie nicht mehr der (eingangs zitierten) in Artikel 1 Absatz 1 Buchstabe c enthaltenen Definition entsprochen und dafür lasse sich auch auf den Standpunkt verweisen, den die Verwaltungskommission für die soziale Sicherheit der Wanderarbeitnehmer in ihrer 54. Sitzung hinsichtlich der Frage eingenommen habe, wie der Begriff "beschäftigt" in Artikel 1 der Verordnung Nr. 36/63 zu verstehen sei.
8. Dem sind im gegenwärtigen Verfahren mit Nachdruck entgegengetreten die Berufungsbeklagten des Ausgangsverfahrens wie auch die Kommission.
9. Mir scheint - wenn ich das gleich sagen darf -, daß die von letzteren vertretene Ansicht offensichtlich mehr für sich hat als die der Berufungsklägerin und daß somit auf die erste Frage nicht im Sinne der Berufungsklägerin geantwortet werden kann.
10. Auch wenn nicht zu leugnen ist, daß der Wortlaut des Artikels 1 Absatz 1 Buchstabe c der Verordnung Nr. 36/63 (der Ausdruck Grenzgänger bezeichne Arbeitnehmer, die beschäftigt sind) an Eindeutigkeit nicht zu überbieten ist, dürfte es doch wohl nicht angebracht sein, die zitierte Formulierung aus einer Vorschrift, die den typischen Grenzgänger visiert (also lediglich eine Grundsatzaussage enthält), bei der Bestimmung des Anwendungsbereiches der Verordnung Nr. 36/63 überzubewerten. In der Tat spricht für einen weiteren Anwendungsbereich schon der Artikel 2 (wonach die Verordnung Anwendung findet auf Grenzgänger, für welche die Rechtsvorschriften eines oder mehrerer Mitgliedstaaten gelten oder galten). Insbesondere kann dafür aber auch auf Formulierungen hingewiesen werden, wie sie sich in Artikel 19 (sowie in Artikel 10) der Verordnung finden. Wenn hier zum einen davon gesprochen wird, bei Arbeitslosigkeit hätten Grenzgänger nach den Vorschriften des Mitgliedstaates, in dessen Hoheitsgebiet sie wohnen, Anspruch auf Leistungen (Artikel 19), sowie zum anderen (Artikel 10), ein Grenzgänger, dem gemäß Artikel 19 Leistungen bei Arbeitslosigkeit gewährt werden, habe während des gleichen Zeitraums Anspruch auf die Sachleistungen des Trägers des Wohnortes, so kann daraus in der Tat, eben weil den genannten Personen trotz Arbeitslosigkeit als Grenzgängern Ansprüche zugestanden werden, geschlossen werden, daß im Sinne der Verordnung die Eigenschaft eines Grenzgängers nicht mit der Kündigung des Arbeitsverhältnisses erloschen ist, sondern erhalten blieb, solange gemäß den genannten Vorschriften Zahlungen an - im Grunde genommen - "frühere" Grenzgänger geleistet wurden.
11. Daß demgegenüber nichts Entscheidendes vermag, was die Verwaltungskommission für die soziale Sicherheit der Wanderarbeitnehmer auf ihrer 54. Sitzung behandelt hat, ist meines Erachtens offensichtlich. Der Gesamtinhalt des uns dazu vorgelegten Papiers macht nämlich klar, daß es seinerzeit nur um die Frage ging, ob Grenzgänger, die Leistungen wegen Kurzarbeit und technisch bedingter Arbeitslosigkeit erhalten, als "beschäftigt" anzusehen sind. Nicht zur Debatte stand dagegen eine umfassende Behandlung des Problems der Auslegung des Artikels 1 Absatz 1 Buchstabe c der Verordnung Nr. 36/63, und es kann deshalb sicher nicht ein Argument aus dem Umstand hergeleitet werden, daß damals nicht auch voll arbeitslos gewordene Grenzgänger erwähnt wurden. Zudem ist daran zu erinnern, daß nach der Rechtsprechung (vergleiche etwa Urteil in der Rechtssache 21/87 (4)) feststeht, daß Beschlüsse der Verwaltungskommission für die soziale Sicherheit der Wanderarbeitnehmer keinen normativen Charakter haben und deshalb für die Auslegung der einschlägigen Bestimmungen nicht ausschlaggebend sind. Welche Tragweite einer derartigen Bestimmung in Wirklichkeit zukommt, ist vielmehr der Auslegung durch diesen Gerichtshof vorbehalten.
12. 2. Die zweite Frage, der wir uns danach zuwenden, betrifft das Problem, ob die ursprüngliche Berufungsbeklagte vom belgischen Versicherungsträger ab 12. Oktober 1971 Leistungen wegen ursprünglicher Arbeitsunfähigkeit gemäß Artikel 6 der Verordnung Nr. 36/63 und danach Leistungen wegen Invalidität beanspruchen konnte.
13. Der in der Frage genannte Artikel 6 der Verordnung Nr. 36/63 aus dem Kapitel "Krankheit; Mutterschaft" bestimmt bekanntlich, daß Geldleistungen, auf die ein Grenzgänger Anspruch hat oder Anspruch hätte, wenn er im Hoheitsgebiet des zuständigen Landes wohnen würde, ihm von dem zuständigen Träger gewährt werden, als ob er im Hoheitsgebiet dieses Landes wohnte. Geht man davon aus - und dies hat man gemäß der auf die erste Frage zu gebenden Antwort -, daß die ursprüngliche Berufungsbeklagte auch nach Eintritt ihrer Arbeitslosigkeit Grenzgängerin blieb, so folgt aus der zitierten Bestimmung in der Tat, daß Geldleistungen bei Krankheit durch den Versicherungsträger des Beschäftigungsstaates zu erbringen waren (wie es übrigens einem allgemeinen, die Materie beherrschenden Grundsatz entspricht, auf den der Vertreter der Kommission in der mündlichen Verhandlung mit Recht hingewiesen hat), d. h., daß Entschädigung wegen ursprünglicher Arbeitsunfähigkeit nach belgischem Recht zu gewähren war. Nicht einschlägig war dagegen - wie die Berufungsklägerin fälschlicherweise meinte - der Artikel 17 aus dem Kapitel "Krankheit; Mutterschaft" der Verordnung Nr. 3, wo davon die Rede ist, daß Arbeitnehmer, die aufgrund der Rechtsvorschriften eines oder mehrerer Mitgliedstaaten Versicherungszeiten zurückgelegt haben und die sich in das Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaates begeben, Anspruch auf die in den Rechtsvorschriften des anderen Mitgliedstaates vorgesehenen Leistungen haben, wenn bestimmte Voraussetzungen erfuellt sind (Arbeitsfähigkeit bei der letzten Einreise in das Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaates und Versicherungspflichtigkeit nach ihrer letzten Einreise in dieses Hoheitsgebiet).
14. Was die - ab 12. Oktober 1972 - beanspruchten Leistungen wegen Invalidität angeht, so ist dafür offenbar die am 1. Oktober 1972 in Kraft getretene Verordnung Nr. 1408/71 maßgeblich. Insofern kann aber nicht - wie gleichfalls mit Recht die Kommission hervorgehoben hat - auf den Artikel 39 Absatz 5 aus dem Kapitel "Invalidität" zurückgegriffen werden, wo es heisst:
"Der voll arbeitslose Arbeitnehmer, für den Artikel 71 Absatz 1 Buchstabe a Ziffer ii oder Buchstabe b Ziffer ii 1. Satz gilt, erhält eine Invalidenrente vom zuständigen Träger des Mitgliedstaates, in dessen Gebiet er wohnt, entsprechend den von diesem Träger anzuwendenden Rechtsvorschriften, als ob für ihn während seiner letzten Beschäftigung diese Rechtsvorschriften gegolten hätten. ... Diese Leistungen gehen zu Lasten des Trägers des Wohnlandes."
15. Denn diese Vorschrift wurde erst eingeführt durch die Verordnung (EWG) Nr. 2793/81 (5), die am Tag ihrer Veröffentlichung (29. September 1981) in Kraft getreten ist. Sie kann also nicht auf den im Ausgangsverfahren zu behandelnden Fall angewandt werden, in dem es um eine ab 12. Oktober 1971 anerkannte und bis zum Eintritt in den Ruhestand (30. September 1980) fortbestehende Arbeitsunfähigkeit geht. Auf diesen Fall sind vielmehr die zu der genannten Zeit gültigen Vorschriften anwendbar, d. h. die beiden ersten Absätze des Artikels 39, wo es heisst:
"Der Träger des Mitgliedstaats, dessen Rechtsvorschriften zum Zeitpunkt des Eintritts von Arbeitsunfähigkeit mit anschließender Invalidität anzuwenden waren, stellt nach diesen Rechtsvorschriften fest, ob die betreffende Person die Voraussetzungen für den Leistungsanspruch - gegebenenfalls unter Berücksichtigung von Artikel 38 - erfuellt.
Personen, welche die Voraussetzungen nach Absatz 1 erfuellen, erhalten die Leistungen ausschließlich von dem genannten Träger nach den von ihm anzuwendenden Rechtsvorschriften."
16. Da aber - wie wir gesehen haben - bei Eintritt der Arbeitsunfähigkeit (12. Oktober 1971) gemäß Artikel 6 der Verordnung Nr. 36/63 belgisches Recht anzuwenden war und ihm zufolge für ein Jahr Entschädigung wegen ursprünglicher Arbeitsunfähigkeit zu leisten ist, kann nur festgehalten werden, daß sich nach diesem Recht bestimmt, ob die Voraussetzungen für den Anspruch auf Invalidenrente erfuellt sind.
17. In diesem Sinne ist letztlich auf den zweiten Teil der zweiten Frage zu antworten, und dies bedeutet wohl insgesamt - wenn ich recht sehe -, daß entgegen der Auffassung der Berufungsklägerin die Voraussetzungen des Artikels 75 des belgischen Gesetzes vom 9. August 1963 erfuellt sind, eben weil - trotz Arbeitslosigkeit - eine Versicherung nach belgischem Recht bis zum 12. Oktober 1972 gegeben war oder doch jedenfalls bis zum Ausserkrafttreten der Verordnung Nr. 36/63, die durch Artikel 100 der Verordnung Nr. 1408/71 aufgehoben worden ist.
18. 3. Die dritte Frage - auf deren Beantwortung es danach (wie der Vertreter der Kommission mit Recht bemerkt hat) eigentlich gar nicht mehr ankommen dürfte - zielt noch auf die Klärung des Problems ab, ob im Hinblick auf die Tatsache, daß ein arbeitslos gewordener Grenzgänger verpflichtet war, Ansprüche auf Leistungen im Wohnsitzstaat geltend zu machen (wie es der Artikel 19 der Verordnung Nr. 36/63 vorschrieb), davon auszugehen ist, daß die Zeit der Arbeitslosigkeit in Frankreich, obwohl dort nicht als Versicherungs - oder gleichgestellte Zeit anerkannt, im früheren Beschäftigungsstaat Belgien als Versicherungs- oder gleichgestellte Zeit anzusehen ist.
19. Die Berufungsklägerin hat dazu eine verneinende Beantwortung vorgeschlagen unter Bezugnahme auf die in Artikel 1 der Verordnung Nr. 3 enthaltenen Definitionen. Danach sei nämlich wesentlich, daß der Ausdruck "Versicherungszeiten" die Beitrags- oder Beschäftigungszeiten umfasse, die in den Rechtsvorschriften über ein Beitragssystem, nach denen sie zurückgelegt worden sind, als Versicherungszeiten bestimmt sind, und wichtig sei auch, daß der Ausdruck "gleichgestellte Zeiten" bedeute, die den Versicherungszeiten oder gegebenenfalls den Beschäftigungszeiten gleichgestellten Zeiten, die in den Rechtsvorschriften, nach denen sie zurückgelegt worden sind, bestimmt sind, und zwar soweit sie darin als den Versicherungs- oder Beschäftigungszeiten gleichwertig anerkannt sind [Artikel 1 Buchstaben p und r]. Da aber Arbeitslosigkeit in Frankreich nicht als Versicherungszeit oder gleichgestellte Zeit anerkannt werde, könne sie im Falle des Ausgangsverfahrens auch nicht in Belgien für die Eröffnung eines Leistungsanspruchs berücksichtigt werden.
20. Für ihren entgegengesetzten Standpunkt gehen die Berufungsbeklagten davon aus, daß nach belgischem Sozialversicherungsrecht Zeiten der Arbeitslosigkeit den Zeiten einer versicherten Tätigkeit gleichgestellt sind. Sie meinen weiter, im Hinblick auf die Tatsache, daß die ursprüngliche Berufungsbeklagte kraft Gemeinschaftsrecht verpflichtet war, Leistungen wegen Arbeitslosigkeit im Wohnsitzstaat und nicht im Beschäftigungsstaat zu beanspruchen (vergleiche Artikel 19 der Verordnung Nr. 36/63), sei eine Auslegung des belgischen Rechts im Lichte des Gemeinschaftsrechts angebracht mit der Folge, daß als gleichgestellte Zeiten im Falle von Grenzgängern auch Zeiten der Arbeitslosigkeit gelten müssten, für die Leistungen im Wohnsitzstaat gewährt werden.
21. Mir scheint, daß auch in diesem Punkt der Ansicht der Berufungsbeklagten der Vorzug zu geben ist vor dem formalistischen und engen Standpunkt der Berufungsklägerin.
22. Dafür spricht die in der Rechtsprechung erkennbare Tendenz, die Verordnungen über die soziale Sicherheit der Wanderarbeitnehmer im Interesse der damit verfolgten Vertragsziele weit und in der Weise auszulegen, daß es nicht infolge der Freizuegigkeit zum Verlust von Vorteilen kommt, die sich aus einer für einen Fall einschlägigen Rechtsordnung ergeben. Sie hat sich - um nur ein Beispiel zu geben - etwa manifestiert in der Rechtssache 733/79 (6), in der es um die Auslegung des sich auf die Zahlung von Kinderbeihilfen beziehenden Artikels 77 der Verordnung Nr. 1408/71 ging. Unter Hinweis darauf, daß die Gemeinschaftsregelung so anzuwenden sei, daß es nicht zu einer Verminderung von Leistungen komme, die einem Berechtigten nach dem Recht eines Mitgliedstaates zustehen, gelangte der Gerichtshof so zu dem (nach dem Wortlaut der Bestimmungen sicher nicht naheliegenden) Ergebnis, es sei - wenn die Leistungen in dem an sich zuständigen Wohnsitzstaat nicht das Niveau der Leistungen des Beschäftigungsstaates erreichten - aus letzterem der Differenzbetrag zu zahlen.
23. Von dieser Grundtendenz ausgehend müssen die von den Berufungsbeklagten angestellten Erwägungen - so hat es auch der Vertreter der Kommission in der mündlichen Verhandlung empfunden - sicher als plausibel anerkannt werden. Es darf also, wenn tatsächlich nach belgischem Recht für den Erwerb einer Invalidenrente Zeiten der Arbeitslosigkeit als Versicherungszeiten gleichgestellte Zeiten anzusehen sind (wofür der Artikel 45 des erwähnten belgischen Gesetzes zu sprechen scheint), einem Arbeitnehmer in der besonderen Situation eines Grenzgängers nicht ein Nachteil daraus erwachsen, daß er bei Arbeitslosigkeit nicht (was naheliegend wäre) vom Beschäftigungsstaat betreut wird, sondern kraft Gemeinschaftsrecht an den Wohnsitzstaat verwiesen wird, der eine solche Gleichstellung offenbar nicht kennt. Anderenfalls käme es in einem solchen Fall infolge der Wahrnehmung des Rechts auf Freizuegigkeit und aufgrund der Anwendung des Gemeinschaftsrechtes zu einem Rechtsverlust, und dies wäre zweifellos nicht in Einklang mit den nach Artikel 48 des EWG-Vertrages verfolgten Zielen.
Schlussantrag
24. 4. Nach alledem (ein Eingehen auf die lediglich hilfsweise gestellte vierte Frage erscheint mir angesichts der bisher gewonnenen Erkenntnisse nicht notwendig) würde ich folgende Beantwortung der gestellten Fragen für richtig halten:
a) Die Verordnung Nr. 36/63/EWG ist dahin auszulegen, daß die Eigenschaft eines Grenzgängers nicht verlorenging mit der Kündigung des Arbeitsverhältnisses, die zu Arbeitslosigkeit und Leistungen gemäß Artikel 19 der Verordnung führte.
b) Ein arbeitslos gewordener Grenzgänger konnte, solange die Verordnung Nr. 36/63/EWG anwendbar war, gemäß Artikel 6 Geldleistungen bei Krankheit nach den Rechtsvorschriften des Beschäftigungsstaates beanspruchen. - Ansprüche auf Leistungen wegen Invalidität für einen Zeitraum, der nach Inkrafttreten der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 begonnen hat und vor Inkrafttreten der Verordnung (EWG) Nr. 2793/81 endete, sind nach Artikel 39 Absätze 1 und 2 der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 zu beurteilen.
c) Werden im Beschäftigungsstaat eines arbeitslos gewordenen Grenzgängers Zeiten der Arbeitslosigkeit als Versicherungszeiten gleichgestellte Zeiten für die Gewährung von Leistungen bei Arbeitsunfähigkeit anerkannt, so kann aus dem Umstand, daß der Grenzgänger gemäß Artikel 19 der Verordnung Nr. 36/63/EWG verpflichtet war, Leistungen wegen Arbeitslosigkeit im Wohnsitzstaat zu beanspruchen, sowie der Tatsache, daß dort Zeiten der Arbeitslosigkeit nicht als gleichgestellte Zeiten gewertet werden, nicht hergeleitet werden, daß in einem solchen Fall der Beschäftigungsstaat Zeiten der Arbeitslosigkeit ebenfalls nicht als gleichgestellte Zeiten anzusehen hat.
(*) Originalsprache: Deutsch.
(1) ABl. 1963, 62, S. 1314.
(2) ABl. 1958, 30, S. 561.
(3) Verordnung des Rates vom 14. Juni 1971 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und deren Familien, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern, ABl. L 149, S. 2.
(4) Urteil vom 5. Juli 1988 in der Rechtssache 21/87 (Borowitz, Slg. 1988, S. 3715).
(5) Verordnung des Rates vom 17. September 1981 (ABl. L 275, S. 1).
(6) Urteil vom 12. Juni 1980 in der Rechtssache 733/79 (Laterza, Slg. 1980, 1915).