61990C0002(01)

Schlussanträge des Generalanwalts Jacobs vom 19/09/1991. - KOMMISSION DER EUROPAEISCHEN GEMEINSCHAFTEN GEGEN KOENIGREICH BELGIEN. - VERTRAGSVERLETZUNG EINES MITGLIEDSTAATS - VERBOT DES ABLAGERNS VON ABFALL AUS ANDEREN MITGLIEDSTAATEN. - RECHTSSACHE C-2/90.

Sammlung der Rechtsprechung 1992 Seite I-04431
Schwedische Sonderausgabe Seite I-00031
Finnische Sonderausgabe Seite I-00031


Schlußanträge des Generalanwalts


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Herr Präsident,

meine Herren Richter!

1. Dem Gerichtshof ist dieses Verfahren bereits bekannt, in dem die Kommission die Feststellung beantragt, daß das Königreich Belgien dadurch gegen seine Verpflichtungen aus

1) der Richtlinie 75/442/EWG des Rates vom 15. Juli 1975 über Abfälle (ABl. L 194, S. 39);

2) der Richtlinie 84/631/EWG des Rates vom 6. Dezember 1984 über die Überwachung und Kontrolle ° in der Gemeinschaft ° der grenzueberschreitenden Verbringung gefährlicher Abfälle (ABl. L 326, S. 31);

3) den Artikeln 30 und 36 EWG-Vertrag

verstossen hat, daß es verbietet, Abfälle aus anderen Mitgliedstaaten oder aus einer anderen Region als der Region Wallonien in Wallonien zwischenzulagern, abzulagern oder abzuleiten.

2. Die Parteien haben in der Sitzung vom 27. November 1990 mündlich verhandelt, und ich habe meine Schlussanträge am 10. Januar 1991 gestellt. Der Gerichtshof hat jedoch mit Beschluß vom 2. Mai 1991 nach Artikel 61 der Verfahrensordnung die Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung angeordnet, um den Parteien, den übrigen Mitgliedstaaten und den Organen Gelegenheit zu geben, zu folgender Frage Stellung zu nehmen: Gelten die Vertragsvorschriften über den freien Warenverkehr für den Verkehr mit nicht wiederverwendbaren und nicht rückführbaren Abfällen ohne Handelswert oder gelten die Vertragsvorschriften über den freien Dienstleistungsverkehr für Handelsgeschäfte in bezug auf die Beseitigung, die Ablagerung oder die Vernichtung solcher Abfälle?

3. Ausserdem wurde die Kommission aufgefordert, den Gerichtshof über möglicherweise in Vorbereitung befindliche gesetzgeberische Maßnahmen der Gemeinschaft im Hinblick auf die grenzueberschreitende Verbringung sowie die Zwischenlagerung, die Ableitung oder die Ablagerung ungefährlicher und nicht rückführbarer Abfälle zu unterrichten und ihm mitzuteilen, ob sie Maßnahmen zur Beschränkung des grenzueberschreitenden Verkehrs mit diesen Abfällen vorzuschlagen beabsichtige. Die belgische Regierung wurde gebeten mitzuteilen, ob die vorliegend in Frage stehenden Vorschriften (nämlich die Verordnung der wallonischen Regionalverwaltung vom 19. März 1987 in der geänderten Fassung der Verordnung vom 23. Juli 1987) rückführbare oder nicht rückführbare Abfälle umfassten.

4. Sowohl die Kommission als auch die belgische Regierung haben auf die allein ihnen gestellten Fragen wie auch auf die allgemeine Frage geantwortet, jedoch hat weder ein anderer Mitgliedstaat noch ein anderes Organ eine Stellungnahme abgegeben. Die belgische Regierung hat auf die ihr gestellte Frage mitgeteilt, daß die in Frage stehenden Vorschriften nur auf Abfälle Anwendung fänden, die entweder nicht wiederverwendet oder rückgeführt werden könnten oder tatsächlich nicht rückgeführt oder wiederverwendet würden. Somit findet die Verordnung der wallonischen Regionalverwaltung auf rückführbare, jedoch nicht zur Rückführung bestimmte Abfälle wie auf nicht rückführbare Abfälle Anwendung. Die Kommission übersandte in Beantwortung der ihr gestellten Frage Kopien einer an den Rat und das Parlament gerichteten Mitteilung der Kommission vom 14. September 1989 über die Gemeinschaftsstrategie für die Abfallwirtschaft sowie des Vorschlags vom 22. Mai 1991 für eine Richtlinie des Rates über das Einbringen von Abfällen in Deponien. Die Kommission wies den Gerichtshof auch auf den Vorschlag für eine Verordnung des Rates zur Überwachung und Kontrolle der Verbringung von Abfällen in der, in die und aus der Gemeinschaft (ABl. 1990, C 289, S. 9) sowie auf die vor kurzem erlassene Richtlinie des Rates vom 18. März 1991 zur Änderung der Richtlinie 75/442/EWG über Abfälle (ABl. 1991, L 78, S. 32) hin.

Abfälle und freier Warenverkehr

5. Ich habe in Nr. 16 meiner vorausgegangenen Schlussanträge ausgeführt, daß die Vertragsvorschriften über den freien Warenverkehr als auf alle Arten von Abfällen, sogar auf nicht rückführbare oder wiederverwendbare, anwendbar anzusehen seien. Ich halte es für hilfreich, die Gründe für meine Ansicht im Lichte der Antworten der Parteien auf die Fragen des Gerichtshofes näher darzustellen.

6. Die Vertragsvorschriften über den freien Warenverkehr sind Dreh- und Angelpunkt der Gemeinschaft. Nach Artikel 9 EWG-Vertrag ist "Grundlage der Gemeinschaft ... eine Zollunion, die sich auf den gesamten Warenaustausch erstreckt". Der Vertrag enthält jedoch keine Definition des Begriffs "Waren" (anders als beispielsweise der EGKS-Vertrag, der eine Definition der Begriffe "Kohle" und "Stahl" enthält). Dieses Fehlen einer Definition ist vielleicht schon ein Anzeichen dafür, daß der Begriff weit auszulegen ist. Im Gegensatz dazu ist der Begriff der "Dienstleistungen" in Artikel 60 EWG-Vertrag zumindest teilweise definiert, wo es heisst:

"Dienstleistungen im Sinne dieses Vertrages sind Leistungen, die in der Regel gegen Entgelt erbracht werden, soweit sie nicht den Vorschriften über den freien Waren- und Kapitalverkehr und über die Freizuegigkeit der Personen unterliegen.

..."

7. Wie sich aus Artikel 60 EWG-Vertrag zweifelsfrei ergibt, umfasst der Begriff der Dienstleistungen eine Restgruppe von Transaktionen, die vom freien Waren- und Kapitalverkehr und der Freizuegigkeit nicht umfasst sind: vgl. Urteil vom 11. Juli 1985 in den Rechtssachen 60/84 und 61/84 (Cinéthèque, Slg. 1985, 2605, Randnrn. 10 und 11). Der subsidiäre Charakter der Vertragsvorschriften über die Dienstleistungen wurde vor kurzem im Urteil vom 30. April 1991 in der Rechtssache C-239/90 (Boscher, Slg. 1991, I-2023) aufgezeigt. In diesem Urteil wurde eine nationale Regelung, durch die die öffentliche Versteigerung von Waren dadurch beschränkt wurde, daß dem Eigentümer der Waren eine Pflicht zur Eintragung am Ort der Versteigerung auferlegt wurde, als mit Artikel 30 EWG-Vertrag unvereinbar angesehen. Artikel 59 fand keine Anwendung, obwohl die Beschränkung zweifellos auch eine Behinderung der Dienstleistungen darstellte, die der Versteigerer in anderen Mitgliedstaaten ansässigen Kunden erbrachte.

8. Die Vertragsvorschriften über den freien Warenverkehr können also unabhängig davon Anwendung finden, ob die in Frage stehenden Transaktionen auch die Gelegenheit zur Erbringung von Dienstleistungen bieten. Selbst wenn man unterstellt, daß ein die Beseitigung von Abfällen übernehmender Vertragspartner gegenüber dem Abfallerzeuger eine "Dienstleistung" im Sinne des Vertrages erbringt, würde dies allein nicht ausreichen, um die Transaktion unter die Gemeinschaftsvorschriften über die Dienstleistungen fallen zu lassen. Diese Vorschriften finden nämlich nur Anwendung, wenn die in Frage stehende Transaktion nicht von den Vorschriften über den freien Warenverkehr umfasst ist. Das heisst nicht, daß es nicht Fälle gäbe, in denen eine Transaktion, die sowohl den Verkehr mit Waren als auch die Erbringung von Dienstleistungen umfasst, zu Recht als unter Artikel 59 EWG-Vertrag fallend angesehen werden kann: Als Beispiel ließe sich der Fall anführen, daß Waren vorübergehend zu Zwecken der Restaurierung oder Reparatur in einen anderen Mitgliedstaat verbracht werden. In solchen Fällen ist die Verbringung nur gelegentlich der betreffenden Transaktion erfolgt. Wo jedoch wie im vorliegenden Fall der Sinn der Transaktion gerade darin liegt, den Gegenstand auf Dauer von einem Mitgliedstaat in einen anderen zu verbringen, damit er dort zwischengelagert, abgelagert oder vernichtet werden kann, lässt sich der Warenverkehr nicht als nur gelegentlich der Erbringung von Dienstleistungen erfolgt ansehen, auch wenn Vorgänge der Zwischenlagerung, Ablagerung oder Vernichtung als "Dienstleistung" im Sinne des Vertrages angesehen werden: vgl. Urteil vom 7. Mai 1985 in der Rechtssache 18/84 (Kommission/Frankreich, Slg. 1985, 1339, Randnr. 12).

9. Demzufolge sind zwei Fragen zu untersuchen: Die erste geht dahin, ob nicht rückführbare Abfälle tatsächlich "Waren" im Sinne des Vertrages sind; die zweite geht dahin, ob die in Frage stehenden Transaktionen Merkmale aufweisen, die sie vom Anwendungsbereich der Vorschriften über den freien Warenverkehr ausnehmen. Ich werde diese Fragen nacheinander behandeln.

10. Die Bedeutung des Begriffs "Waren" wurde im Urteil vom 10. Dezember 1968 in der Rechtssache 7/68 (Kommission/Italien, Slg. 1968, 634) ausdrücklich behandelt. In diesem Rechtsstreit versuchte die italienische Regierung geltend zu machen, daß Gegenstände künstlerischer, geschichtlicher, archäologischer oder ethnographischer Art keine "Gegenstände des allgemeinen Handels" seien und deshalb keine unter Artikel 16 EWG-Vertrag (der Ausfuhrzölle und Abgaben gleicher Wirkung verbietet) fallenden Waren darstellten. Der Gerichtshof wies diese Argumentation zurück und stellte in seinem Urteil (a. a. O., S. 642) fest:

"Nach Artikel 9 des Vertrages ist Grundlage der Gemeinschaft eine Zollunion, 'die sich auf den gesamten Warenaustausch erstreckt' . Unter Waren im Sinn dieser Vorschrift sind Erzeugnisse zu verstehen, die einen Geldwert haben und deshalb Gegenstand von Handelsgeschäften sein können. Die durch das italienische Gesetz erfassten Erzeugnisse teilen nun aber, durch welche sonstigen Eigenschaften sie sich auch von anderen Handelsgütern unterscheiden mögen, mit diesen letzteren das Merkmal, daß sie einen Geldwert haben und deshalb Gegenstand von Handelsgeschäften sein können."

11. Unter Bezugnahme auf die zitierte Stelle macht die belgische Regierung geltend, es sei nicht ausreichend, daß die betreffenden Erzeugnisse Gegenstand von Handelsgeschäften sein könnten; sie müssten auch einen "Wert haben", womit die belgische Regierung offenbar meint: einen positiven, nicht einen negativen Wert. Meines Erachtens ist jedoch der in der zitierten Stelle verwendete Ausdruck "einen Geldwert haben" nicht in dieser Weise eng auszulegen. Vor dem Hintergrund der sich dem Gerichtshof in der Rechtssache 7/68 stellenden Problematik ist offensichtlich, daß "einen Geldwert haben" nicht als Gegensatz zu "wertlos" oder "einen negativen Wert haben" verstanden wurde, sondern als Gegensatz zu "ohne Preis" im Sinne eines solch hohen oder vielleicht solch unbestimmten oder unbeschreibbaren (künstlerischen, historischen usw.) Wertes, daß dieser nicht mit finanziellen Begriffen erfasst werden kann. Wie der Gerichtshof ausführte, war es nicht nur möglich, die Gegenstände mit finanziellen Begriffen zu erfassen; die in Frage stehende italienische Abgabe wurde tatsächlich auch anhand dieser finanziellen Werte berechnet.

12. Es ist zweifelhaft, ob der Gerichtshof in seinem Urteil vom 10. Dezember 1968 in der Rechtssache 7/68 eine erschöpfende Definition des Begriffs "Waren" geben wollte; doch steht jedenfalls fest, daß Gegenstände mit "negativem" Wert (d. h. Gegenstände, für deren Beseitigung ihr Eigentümer bereit ist, einen Preis zu bezahlen) Gegenstand von Handelsgeschäften sein können. Ausserdem wäre eine wirtschaftliche Tätigkeit, die in der Beseitigung und Rückführung von Abfällen besteht, unmöglich, wenn nicht ein Preis bestimmt werden könnte, zu dem die Übernahme der Verantwortung für die Abfälle wirtschaftlich rentabel ist. Da für Abfälle ein freier Markt besteht, werden solche "negativen" Preise von den Marktkräften in ähnlicher Weise bestimmt wie in dem gewöhnlicheren Fall der Waren mit positivem Wert. Abfälle sind deshalb Gegenstände, die einen Geldwert haben, und können somit Gegenstand von Handelsgeschäften sein. Ich bin deshalb der Ansicht, daß, selbst wenn die im Urteil vom 10. Dezember 1968 in der Rechtssache 7/68 gegebene Definition des Begriffs "Waren" als erschöpfend anzusehen wäre, es dieser Definition nicht widerspräche, Gegenstände mit negativem Wert, wie etwa nicht rückführbare Abfälle, als Waren im Sinne des Vertrages zu qualifizieren.

13. Auch ist darauf hinzuweisen, daß die Begriffe des negativen Preises und des negativen Wertes den Ökonomen bekannt sind:

"Zu negativen Grössen kommt es in der Wirtschaftswissenschaft wie in anderen Wissenschaften, wenn eine Variable über den Wert Null hinaus zu weniger als Nichts wird, so daß deren Addition nicht eine Vermehrung, sondern eine Verminderung bewirkt. Die meisten ökonomischen Grössen können einem solchen Vorzeichenwechsel unterworfen werden. So wird aus Vermögen durch Hinzufügen des Minus-Zeichens Schuld ... Jevons schlägt den Gebrauch des Begriffs 'Nicht-Güter' vor, um Gegenstände oder Handlungen zu bezeichnen, die das Gegenteil von Gütern sind, d. h. alles, dessen wir uns entledigen wollen, wie etwa Asche oder Abwasser (Theory, 2. Auflage, S. 63). Von solchen Gegenständen kann gesagt werden, daß sie einen negativen Wert haben ..."

(The New Palgrave: A Dictionary of Economics, herausgegeben von Eatwell, Milgate und Newman (London 1987); Artikel "Negative Grössen", Nachdruck aus Palgrave' s Dictionary of Political Economy).

14. Die nächste Frage geht dahin, ob die in Rede stehenden Transaktionen ° solche nämlich, die die grenzueberschreitende Verbringung nicht rückführbarer Abfälle zu Zwecken der Zwischenlagerung, Ablagerung oder Beseitigung umfassen ° Merkmale aufweisen, die sie vom Anwendungsbereich der Artikel 30 bis 36 EWG-Vertrag ausnehmen.

15. Zunächst ist festzustellen, daß für Gegenstände, unabhängig davon, ob sie zu Zwecken des Verkaufs oder Weiterverkaufs grenzueberschreitend befördert werden oder nicht, die Vertragsvorschriften über den freien Warenverkehr in Anspruch genommen werden können. Der Grundsatz des freien Warenverkehrs ist nicht auf Waren beschränkt, die für den Handel im Einfuhrmitgliedstaat bestimmt sind; der Grundsatz erstreckt sich beispielsweise auf Waren, die von einer Privatperson für ihren persönlichen Bedarf eingeführt werden: vgl. die Urteile vom 7. März 1989 in der Rechtssache 215/87 (Schumacher, Slg. 1989, 617) und vom 7. März 1990 in der Rechtssache C-362/88 (GB-Inno-BM, Slg. 1990, I-667); vgl. auch die Ausführungen des Generalanwalts Warner im Urteil vom 14. Dezember 1979 in der Rechtssache 34/79 (Henn und Darby, Slg. 1979, 3795, 3827).

16. Ich halte es darüber hinaus für grundsätzlich falsch, den freien Warenverkehr auf den Verkehr mit Gegenständen mit positivem Wert zu beschränken. Auf einen Gegenstand mit negativem Wert können sich ebensogut Eigentumsrechte und Pflichten beziehen, wie auf einen Gegenstand mit positivem Wert. Zu diesen Rechten und Pflichten müssen solche gezählt werden, die sich auf die sichere Beseitigung des Gegenstands beziehen. Nach innerstaatlichem Recht wird dem Eigentümer eines Gegenstands typischerweise nicht nur das Recht zu dessen rechtmässiger Benutzung zustehen, sondern auch das Recht, wiederum innerhalb der Grenzen der Rechtmässigkeit zu entscheiden, auf welche Weise dieser zu beseitigen ist. Meines Erachtens kann im vorliegenden Zusammenhang keine rechtserhebliche Unterscheidung gemacht werden zwischen dem Recht zur Beseitigung eines Gegenstands durch Konsum und dem Recht zur Beseitigung durch Zwischenlagerung, Ablagerung oder Ableitung. Für den Umweltschützer beispielsweise dürfte letzteres Recht von grösserer Bedeutung sein als ersteres. Daraus ergibt sich meines Erachtens, daß der freie Warenverkehr ebensosehr die Freiheit umfasst, Gegenstände grenzueberschreitend zu verbringen, um diese in einem anderen Mitgliedstaat billiger oder sicherer zu beseitigen, wie die Freiheit, persönliche Gegenstände ° wie in der Rechtssache 215/87 (Schumacher, vgl. oben, Randnr. 15) ° über eine Grenze zu bringen. Der freie Warenverkehr umfasst also nicht nur zur Weiterveräusserung bestimmte Waren, sondern auch solche, die zum Verbrauch, zur Lagerung oder zur Beseitigung bestimmt sind.

17. In der mündlichen Verhandlung versuchte die belgische Regierung zwischen dem Verkehr mit Gegenständen zu Zwecken des Verbrauchs in einem anderen Mitgliedstaat und dem Verkehr mit Abfällen zu Zwecken der Beseitigung zu differenzieren. Sie machte insbesondere geltend, daß im Verbrauch eines Erzeugnisses der "eigentliche Zweck" von Handelsgeschäften liege und dieser demzufolge ein wesentlicher Teil des Wirtschaftskreislaufs von Herstellung, Handel und Verbrauch darstelle. Damit betrachtet die belgische Regierung wohl die Herstellung und Beseitigung von Abfällen nicht als einen wesentlichen Teil des Kreislaufs wirtschaftlicher Tätigkeit. Dieser Sichtweise kann ich nicht zustimmen. Sowohl die Herstellung als auch der Verbrauch von Waren führt nicht nur zur Erzeugung von Gegenständen von positivem Nutzen sondern ebenso zwangsläufig zur Entstehung von nutzlosen und manchmal gefährlichen Abfällen. Entscheidungen über die Beseitigung solcher Abfälle sind ebensosehr Bestandteil des Wirtschaftskreislaufs wie Entscheidungen über den Verbrauch, die Herstellung oder den Handel.

18. Der Begriff der "Waren" im Sinne des Vertrages muß also meines Erachtens alle beweglichen körperlichen Gegenstände umfassen, auf die sich Eigentumsrechte oder Pflichten beziehen können (und die deshalb einen positiven oder negativen Geldwert haben). Wenn die Ausübung solcher Rechte oder die Erfuellung solcher Pflichten die Beförderung des Gegenstands von einem Mitgliedstaat in einen anderen miteinschließt, sind nationale Vorschriften, die eine solche Beförderung beschränken, anhand Artikel 30 bis 36 EWG-Vertrag zu prüfen.

19. Es wäre nicht nur, wie ich vorstehend ausgeführt habe, ein grundsätzlicher Fehler, die Vertragsvorschriften über den freien Warenverkehr auf Artikel zu beschränken, die einen positiven Wert haben; es wäre auch schwierig, dies praktisch durchzuführen. Wie die Kommission ausgeführt hat, kann im vorliegenden Zusammenhang keine brauchbare Unterscheidung zwischen rückführbaren und nicht rückführbaren Abfällen gemacht werden. Beide Arten von Abfall können Erzeugnisse mit negativem Wert sein, da der Erzeuger der Abfälle in beiden Fällen einen Preis für deren Beseitigung bezahlen, d. h. einen "negativen" Preis verlangen wird. Im Falle nicht rückführbarer Abfälle wird der Preis selbstverständlich immer negativ sein; doch kann er auch dann negativ sein, wenn die Abfälle rückgeführt werden, da der Erlös der Rückführung möglicherweise die Kosten für Beförderung und Wiederherstellung nicht völlig deckt. In manchen Fällen mögen die Abfälle rückführbar, doch tatsächlich nicht zur Rückführung bestimmt sein; ich erinnere daran, daß die Verordnung der wallonischen Regionalverwaltung solche Abfälle betrifft. Ob eine bestimmte Menge von Abfällen wieder rückgeführt wird, hängt von einer Reihe von Faktoren ab, darunter dem gegenwärtigen Stand des technischen Know-how, den Kosten konkurrierender Rohstoffe, den Kosten des Rückführungsprozesses als solche sowie den Absichten und Kapazitäten des rückführenden Unternehmens. Es ist meines Erachtens deshalb äusserst schwierig, zwischen diesen verschiedenen Abfallarten eine brauchbare Unterscheidung zu machen, indem man die eine als "Waren", die andere nur als Gelegenheit zur Erbringung von Dienstleistungen qualifiziert; tatsächlich schien der Gerichtshof in früheren Fällen, die Abfälle betrafen, nicht geneigt, in solcher Weise zu differenzieren: vgl. die Urteile vom 10. März 1983 in der Rechtssache 172/88 (Inter-Huiles, Slg. 1983, 555) und vom 7. Februar 1985 in der Rechtssache 240/83 (ADBHU, Slg. 1985, 531). In diesem Zusammenhang beruft sich die Kommission auch auf die Urteile vom 12. Mai 1987 in den Rechtssachen 372/85 bis 374/85 (Slg. 1987, 2141) und vom 28. März 1990 in den Rechtssachen C-206/88 und C-207/88 (Vessoso und Zanetti, Slg. 1990, I-1461); meines Erachtens stand in diesen Fällen jedoch der Anwendungsbereich des freien Warenverkehrs nicht einmal mittelbar in Frage.

20. Darüber hinaus kann eine einzelne Abfallsendung sowohl rückführbaren als auch nicht rückführbaren Abfall enthalten, oder sie kann rückführbaren Abfall enthalten, der nur zum Teil tatsächlich zur Rückführung bestimmt ist. Es wäre meines Erachtens ein unbefriedigendes Ergebnis, wenn der freie Verkehr für einen Teil der Sendung nach Artikel 30 EWG-Vertrag, für den übrigen Teil nach Artikel 59 EWG-Vertrag in Anspruch genommen werden könnte.

21. Es wäre nicht nur schwierig, zwischen rückführbaren und nicht rückführbaren Abfällen, sondern auch, zwischen rückführbaren Abfällen und anderen Rohstoffen zu unterscheiden. Es ist darauf hinzuweisen, daß Artikel 4 Absatz 2 Buchstabe i der Verordnung (EWG) Nr. 802/68 des Rates vom 27. Juni 1968 über die gemeinsame Begriffsbestimmung für den Warenursprung (ABl. 1968, L 148, S. 1) auf "Ausschuß und Abfälle" Bezug nimmt. Darüber hinaus sind, wie die Kommission bemerkt, verschiedene Abfallarten zweifellos deshalb im Gemeinsamen Zolltarif enthalten, weil sie bedeutende Rohstoffquellen sind. Es könnte natürlich sein, daß es sich bei den darin enthaltenen Abfallarten um jene handelt, die normalerweise eher einen positiven als einen negativen Marktwert haben; ich sehe jedoch keinen Grund, zwischen den beiden Fällen in bezug auf den Grundsatz des freien Warenverkehrs zu unterscheiden, zumal eine bestimmte Abfallart ° je nach den Kosten und der Verfügbarkeit anderer Rohstoffquellen ° zu verschiedenen Zeiten zu der einen oder der anderen Kategorie gehören kann.

22. Aus all diesen Gründen komme ich zu dem Schluß, daß der Begriff "Waren" im Sinne des Vertrages nicht rückführbare und nicht wiederverwendbare Abfälle umfasst und daß für Beschränkungen des Verkehrs mit solchen Abfällen zwischen den Mitgliedstaaten nicht die Vorschriften des Vertrages über den freien Dienstleistungsverkehr sondern jene über den freien Warenverkehr gelten. Ungeachtet dessen, daß die vorliegend in Frage stehenden einzelstaatlichen Rechtsvorschriften nur für Abfälle gelten, die nicht wiederverwendet oder rückgeführt werden können oder werden, bleibe ich deshalb bei der Ansicht, daß solche Rechtsvorschriften gegen Artikel 30 EWG-Vertrag verstossen.

23. In der mündlichen Verhandlung wurde erörtert, welche Maßnahmen ein Mitgliedstaat treffen darf, um bestimmte Regionen oder Orte vor einem unerwünschten Zustrom nicht rückführbarer Abfälle zu schützen. Es steht fest, daß solche Maßnahmen nach anerkannten Grundsätzen entweder gemäß Artikel 36 EWG-Vertrag oder aufgrund eines der vom Gemeinschaftsrecht anerkannten zwingenden Erfordernisse, zu denen auch der Umweltschutz gehört, gerechtfertigt werden könnten: vgl. das Urteil vom 20. September 1988 in der Rechtssache 302/86 (Kommission/Dänemark, Slg. 1988, 4607). Wird ein nicht in Artikel 36 EWG-Vertrag erwähntes zwingendes Erfordernis zur Rechtfertigung angeführt, müssen die betreffenden Maßnahmen auf einheimische und eingeführte Abfälle unterschiedslos anwendbar sein. Selbst wenn die Transaktionen als Dienstleistungen zu qualifizieren wären, müsste meines Erachtens die Rechtfertigung für jegliche Beschränkung nach ähnlichen Grundsätzen zu beurteilen sein. So sieht Artikel 56 EWG-Vertrag, der gemäß Artikel 66 EWG-Vertrag auf Dienstleistungen Anwendung findet, eine Ausnahme vom freien Dienstleistungsverkehr aus Gründen der öffentlichen Gesundheit vor; im Falle unterschiedslos anwendbarer Maßnahmen können Beschränkungen von Dienstleistungen mit zwingenden Gründen des Allgemeininteresses gerechtfertigt werden (vgl. Urteil vom 25. Juli 1991 in der Rechtssache C-288/89, Stichting Collectieve Antennevoorziening Gouda, Slg. 1991, 4007, Randnr. 13).

24. Wendet man diese Grundsätze an, so lassen sich meiner Ansicht nach zumindest einige Beschränkungen der Verbringung von Abfällen mit Gründen des Umweltschutzes rechtfertigen. Da Umweltschutz ein in Artikel 36 EWG-Vertrag nicht erwähntes zwingendes Erfordernis ist, müsste jedoch eine solche Maßnahme auf einheimische und ausländische Abfälle unterschiedslos anwendbar sein. Wie ich in meinen vorausgegangenen Schlussanträgen in Nr. 20 festgestellt habe, kann dieser Voraussetzung eine Maßnahme nicht genügen, die einfach nur die Benutzung von Müllagerplätzen einer bestimmten Region oder eines bestimmten Ortes auf an diesem Ort oder in dieser Region erzeugte Abfälle beschränkt. Eine Vorschrift dieser Art bevorzugt eindeutig einheimisch erzeugte Abfälle, insbesondere wenn, wie im Falle der Verordnungen der wallonischen Regionalverwaltung, bei Abfällen aus anderen Regionen dieses Mitgliedstaats Ausnahmen gemacht werden dürfen. Im vorliegenden Falle können die streitigen Maßnahmen deshalb nicht durch Gründe des Umweltschutzes gerechtfertigt werden. Dagegen kann eine in der gesamten Region eines Mitgliedstaats anwendbare Vorschrift, nach der Abfälle am Ort ihrer Erzeugung zu beseitigen sind, als unterschiedslos anwendbar angesehen werden. Eine solche Vorschrift würde die Verbringung örtlich erzeugter Abfälle an einen anderen Ort oder in einen anderen Mitgliedstaat in derselben Weise verhindern, wie sie die Beseitigung von aus einem anderen Staat oder einem anderen Ort stammenden Abfällen verhindert. Eine solche Maßnahme könnte ausserdem durch die Notwendigkeit gerechtfertigt werden, die Menge der Abfälle im Transitverkehr zu verringern und die für die Abfallbeseitigung benutzten Flächen zu beschränken. Ob eine solche Maßnahme im Hinblick auf diese Ziele tatsächlich verhältnismässig wäre, könnte natürlich nur unter Berücksichtigung aller erheblichen Sachumstände entschieden werden.

Neuere Gemeinschaftsvorschriften und Gesetzesvorschläge

25. Wie ich oben in Nr. 4 dargelegt habe, hat die Kommission den Gerichtshof auf verschiedene vor kurzem ergangene Gemeinschaftsvorschriften auf dem Gebiet der Abfälle bzw. entsprechende Vorschläge aufmerksam gemacht. In meinen vorausgegangenen Schlussanträgen habe ich in den Nrn. 23 bis 26 bereits die Entschließung des Rates vom 7. Mai 1990 über die Abfallpolitik (ABl. 1990, C 122, S. 2) und den Vorschlag für eine Verordnung des Rates zur Überwachung und Kontrolle der Verbringung von Abfällen in der, in die und aus der Gemeinschaft (ABl. 1990, C 289, S. 9) näher untersucht. Ich vertrete weiterhin den Standpunkt, daß das von der wallonischen Regionalverwaltung erlassene allgemeine Verbot der Einfuhr von Abfällen sich selbst dann nicht durch die Entschließung des Rates oder durch den Verordnungsentwurf rechtfertigen ließe, wenn ersterer ein verbindlicher Rechtsakt oder letzterer gegenwärtig in Kraft wäre.

26. Mit der Richtlinie 91/156/EWG des Rates vom 18. März 1991 erfuellt der Rat die in seiner Entschließung vom 7. Mai 1990 eingegangene Verpflichtung, die Richtlinie 75/442/EWG zu ändern. In Artikel 5 der geänderten Richtlinie heisst es:

"(1) Die Mitgliedstaaten treffen ... Maßnahmen, um ein integriertes und angemessenes Netz von Beseitigungsanlagen zu errichten ... Dieses Netz muß es der Gemeinschaft insgesamt erlauben, die Entsorgungsautarkie zu erreichen, und es jedem einzelnen Mitgliedstaat ermöglichen, diese Autarkie anzustreben, wobei die geographischen Gegebenheiten oder der Bedarf an besonderen Anlagen für bestimmte Abfallarten berücksichtigt werden.

(2) Dieses Netz muß es darüber hinaus gestatten, daß die Abfälle in einer der am nächsten gelegenen geeigneten Entsorgungsanlagen unter Einsatz von Methoden und Technologien beseitigt werden, die am geeignetsten sind ..."

Ein einseitiges Verbot der Einfuhr von Abfällen durch einen Mitgliedstaat könnte meines Erachtens sehr wohl mit der Errichtung eines solchen integrierten Netzes unvereinbar sein. Insbesondere könnte ein solches Verbot zur Folge haben, daß Abfälle aus einem benachbarten Mitgliedstaat nicht in einer der am nächsten gelegenen geeigneten Anlagen beseitigt werden könnten.

27. Es trifft zu, daß Artikel 5 der geänderten Richtlinie sich auf das Ziel der Mitgliedstaaten bezieht, individuell die Entsorgungsautarkie anzustreben. Zweifellos darf aber dieses Ziel nicht in einer mit den Artikeln 30 bis 36 EWG-Vertrag unvereinbaren Weise erreicht werden. Obwohl es sich also bei der Verringerung der grenzueberschreitenden Verbringung von Abfällen um ein legitimes Ziel der Umweltschutzpolitik der Gemeinschaft handeln mag, darf dies nicht im Wege mengenmässiger Beschränkungen an nationalen Grenzen erreicht werden. Es ist vielmehr durch eine Verbesserung der Abfallbeseitigungsanlagen und, vielleicht in erster Linie, mittels einer Beschränkung der erzeugten Abfallmengen zu erreichen (vgl. die vierte Begründungserwägung der geänderten Richtlinie). Mit anderen Worten ist es nicht durch ein Verbot der Einfuhr von Abfällen aus anderen Mitgliedstaaten zu erreichen, sondern dadurch, daß man die Erforderlichkeit von Abfallausfuhren verringert.

28. Ausserdem steht das in Artikel 5 erwähnte Ziel der Entsorgungsautarkie unter dem Vorbehalt, daß die "geographischen Gegebenheiten" und der "Bedarf an besonderen Anlagen für bestimmte Abfallarten" zu berücksichtigen sind; dieses Ziel ist dadurch zu erreichen, daß die Mitgliedstaaten nach Artikel 7 der geänderten Richtlinie Abfallbewirtschaftungspläne aufstellen. Im Hinblick auf solche Pläne dürfen die Mitgliedstaaten die erforderlichen Maßnahmen ergreifen, um das Verbringen von Abfällen zu unterbinden (vgl. Artikel 7 Absatz 3).

29. Obwohl ich demzufolge immer noch der Ansicht bin, daß das Verbot der wallonischen Regionalverwaltung der gegenwärtig geltenden Fassung der Richtlinie 75/442/EWG nicht zuwiderläuft, ist dies möglicherweise nach dem 1. April 1993 nicht länger der Fall, wenn nämlich die Frist für die Durchführung der geänderten Richtlinie abgelaufen sein wird.

30. Der Vorschlag einer Richtlinie des Rates über die Beseitigung von Abfällen vom 22. Mai 1991 steht mit dem Verkehr von Abfällen zwischen den Mitgliedstaaten nicht in direkter Beziehung, da er eher die Harmonisierung der Verfahren und der Benutzungskriterien dieser Beseitigungsmethode innerhalb des Gebiets der Mitgliedstaaten betrifft. Ebenso steht jedoch fest, daß eine solche Harmonisierung von Vorschriften auf einem hohen Niveau des Umweltschutzes (vgl. zweite Begründungserwägung des Richtlinienentwurfs) eine geeignete Ergänzung des freien Verkehrs mit Abfällen darstellt und in gewissem Maß sogar den Interessen der wallonischen Regionalverwaltung förderlich sein könnte.

Schlussanträge

31. Ich bleibe deshalb bei dem Antrag,

1) festzustellen, daß das Königreich Belgien dadurch gegen seine Verpflichtungen aus der Richtlinie 84/631/EWG des Rates und aus Artikel 30 EWG-Vertrag verstossen hat, daß es verbietet, Abfälle aus anderen Mitgliedstaaten und, soweit Abfall aus anderen Mitgliedstaaten betroffen ist, aus anderen Regionen Belgiens als Wallonien, in Wallonien zwischenzulagern, abzulagern oder abzuleiten;

2) die Klage im übrigen abzuweisen;

3) dem Königreich Belgien die Kosten des Verfahrens aufzuerlegen.

(*) Originalsprache: Englisch.