61985C0419

Schlussanträge des Generalanwalts Lenz vom 19. Februar 1987. - KOMMISSION DER EUROPAEISCHEN GEMEINSCHAFTEN GEGEN ITALIENISCHE REPUBLIK. - DURCHFUEHRUNG EINER RICHTLINIE - EG-FUEHRERSCHEIN. - RECHTSSACHE 419/85.

Sammlung der Rechtsprechung 1987 Seite 02115


Schlußanträge des Generalanwalts


++++

Herr Präsident,

meine Herren Richter!

A - Sachverhalt

1 . In dem Vertragsverletzungsverfahren, zu dem ich heute Stellung nehme, geht es erneut um die Durchführung der Ersten Richtlinie des Rates vom 4 . Dezember 1980 zur Einführung eines EG-Führerscheins ( 1 ).

2 . In der Richtlinie sind Bestimmungen enthalten über

- die Harmonisierung der bestehenden nationalen Fahrprüfungsregelungen;

- die Erfuellung gesundheitlicher Normen;

- die gegenseitige Anerkennung der nationalen Führerscheine;

- den Umtausch der Führerscheine von Inhabern, die ihren Wohn - oder Arbeitsort von einem Mitgliedstaat in einen anderen verlegen;

- die Einführung eines EG-Modells für den nationalen Führerschein .

3 . Gemäß Artikel 12 der Richtlinie hatten die Mitgliedstaaten die zur Durchführung der Richtlinie ab 1 . Januar 1983 notwendigen Rechts - und Verwaltungsvorschriften rechtzeitig, spätestens jedoch am 30 . Juni 1982, zu erlassen . Es war den Mitgliedstaaten allerdings freigestellt, die Führerscheine nach dem EG-Modell erst von einem späteren Zeitpunkt an, spätestens aber ab 1 . Januar 1986, auszustellen .

4 . Gemäß Artikel 6 Absatz 2 der Richtlinie können die Mitgliedstaaten für die Ausstellung des Führerscheins ihre nationalen Vorschriften anwenden, die andere Gegenstände als das Bestehen einer praktischen und theoretischen Prüfung, die Erfuellung gesundheitsrechtlicher Normen sowie das Wohnsitzerfordernis betreffen . Gemäß Artikel 9 der Richtlinie können die Mitgliedstaaten bis zur Einführung einer endgültigen Regelung nach Anhörung der Kommission von bestimmten Regelungen der Richtlinie abweichen .

5 . Da die Kommission, die Klägerin, zu der Auffassung gelangte, daß die Italienische Republik, die Beklagte, nicht die erforderlichen Maßnahmen für die Umsetzung der Richtlinie in innerstaatliches Recht ergriffen habe, leitete sie am 9 . November 1983 das Verfahren gemäß Artikel 169 EWG-Vertrag ein .

6 . Auf eine Mitteilung der Beklagten, sie habe in Erwartung späterer gesetzlicher Regelungen durch Runderlaß einen ersten Schritt zur Anwendung der Richtlinie getan, entgegnete die Klägerin, dieser Runderlaß enthalte zwar eine Anwendung von Artikel 8 der Richtlinie, nicht jedoch der übrigen Bestimmungen, insbesondere nicht von Artikel 6, der die Ausstellung des Führerscheins betreffe .

7 . In ihrer mit Gründen versehenen Stellungnahme vom 11 . Februar 1985 führte die Klägerin aus, daß insbesondere insoweit dem Artikel 6 der Richtlinie nicht hinreichend Rechnung getragen worden sei, als für Führerscheine der Klasse A ( Krafträder ) überhaupt keine praktische Prüfung vorgesehen und für Führerscheine der übrigen Klassen die Bestimmung der Dauer der Prüfung dem Prüfer überlassen bleibe, während Anhang II der Richtlinie eine Mindestprüfdauer von 20 Minuten vorschreibe . Im übrigen enthalte das italienische Recht keine Bestimmungen, die es untersagten, Personen, die an bestimmten schweren Krankheiten litten, den Führerschein zu erteilen oder zu erneuern .

8 . Die Klägerin beantragt,

- festzustellen, daß die Beklagte gegen ihre Verpflichtungen aus dem EWG-Vertrag verstossen hat, indem sie nicht innerhalb der festgesetzten Fristen alle erforderlichen Rechts - und Verwaltungsvorschriften erlassen hat, um der Richtlinie 80/1263 des Rates vom 4 . Dezember 1980 zur Einführung eines EG-Führerscheins nachzukommen;

- der Beklagten die Kosten aufzuerlegen .

9 . Die Beklagte beantragt,

- die Klage als unzulässig, auf jeden Fall jedoch als unbegründet abzuweisen .

10 . Sie ist der Auffassung, die Eröffnung eines Vertragsverletzungsverfahrens wegen Nichtdurchführung der Richtlinie in ihrer Gesamtheit sei vor dem 1 . Januar 1986 wegen der Regelung des Artikels 12 Absatz 2 der Richtlinie nicht zu rechtfertigen .

11 . Den Bestimmungen der Artikel 6 Absatz 2, Artikel 9 und Artikel 12 Absatz 2 der Richtlinie sei zu entnehmen, daß die Mitgliedstaaten nicht gehalten seien, die Gemeinschaftsvorschriften über den Führerschein sofort und vollständig umzusetzen . Für die Ausstellung des Führerscheins der Klasse A sei eine fakultative Prüfung vorgesehen . Zur Einführung einer obligatorischen Prüfung seien Maßnahmen des Gesetzgebers erforderlich .

12 . Zur Erfuellung der vorgesehenen gesundheitlichen Normen hat die Beklagte ausgeführt, die Klägerin habe eine Reihe von Einzelheiten des "Systems" der Beklagten kritisiert . Da aber die Mindestanforderungen - wenn auch nicht wesentlich - von der Anforderung der Richtlinie abweichen dürften, genüge es nicht, das Fehlen einer besonderen Vorschrift zu rügen . Man müsse hingegen prüfen, ob die nationalen Mindestanforderungen gleichwertig seien .

13 . Auf die Einzelheiten des Parteivortrags werde ich, soweit erforderlich, im Rahmen meiner Stellungnahme eingehen . Im übrigen verweise ich auf den Inhalt des Sitzungsberichtes .

B - Stellungnahme

I - Zur Zulässigkeit

Zeitpunkt der Klageerhebung

14 . Dem Vortrag der Beklagten, angesichts der Bestimmungen der Artikel 6 Absatz 2, 9 und 12 Absatz 2 müsse die Klage als verfrüht und somit als unzulässig angesehen werden, kann nicht gefolgt werden . Gemäß Artikel 12 Absatz 1 hatten die Mitgliedstaaten die zur Durchführung der Richtlinie ab 1 . Januar 1983 notwendigen Rechts - und Verwaltungsvorschriften rechtzeitig, spätestens am 30 . Juni 1982, zu erlassen . War ein Mitgliedstaat dieser Verpflichtung nicht nachgekommen, so konnte spätestens ab dem 1 . Januar 1983 ein Vertragsverletzungsverfahren gegen ihn eingeleitet werden - allerdings nur in dem Umfang, in dem sich bereits Verpflichtungen aus der Richtlinie ergaben .

15 . Nur insoweit ist die Ausnahmebestimmung des Artikels 12 Absatz 2 von Bedeutung, nach der lediglich die Ausgabe des Führerscheins nach dem EG-Modell bis zum 1 . Januar 1986 aufgeschoben werden konnte . Auf diesen Punkt beschränkt sich diese Ausnahmeregelung . Man kann aus ihr jedenfalls nicht den Schluß ziehen, daß die Durchführung der übrigen Bestimmungen der Richtlinie ebenfalls bis zum 1 . Januar 1986 aufgeschoben werden konnte .

16 . Auch die Bestimmungen der Artikel 6 Absatz 2 und 9 der Richtlinie können nicht die Zulässigkeit der Klage in Frage stellen . Artikel 6 Absatz 2 ermächtigt die Mitgliedstaaten, für die Ausstellung des Führerscheins nationale Vorschriften anzuwenden, die andere Voraussetzungen als das Bestehen einer praktischen und theoretischen Prüfung, die Erfuellung gesundheitlicher Normen sowie das Wohnsitzerfordernis betreffen . Artikel 9 ermächtigt die Staaten, nach Anhörung der Kommission in Einzelheiten Abweichungen von der Richtlinie vorzusehen . Keiner dieser Bestimmungen ist jedoch ein Anhaltspunkt dafür zu entnehmen, daß durch sie die Pflicht der Mitgliedstaaten zur Umsetzung der Richtlinie in der in Artikel 12 Absatz 1 genannten Frist in Frage gestellt werden sollte .

Auslegung des Klageantrags

17 . Es ist einzuräumen, daß die Klägerin ihren Klageantrag sehr weitreichend formuliert hat, so daß er dahin gehend interpretiert werden könnte, sie werfe der Beklagten die Nichtdurchführung der Richtlinie in ihrer Gesamtheit vor . Eine Auslegung des Klageantrags anhand der Klagebegründung und des Vorverfahrens ergibt jedoch ein anderes Bild .

18 . Bereits dem Schreiben der Klägerin vom 27 . August 1984, insbesondere aber der mit Gründen versehenen Stellungnahme vom 11 . Februar 1985, lässt sich entnehmen, daß sie die Art und Weise, wie die Beklagte Artikel 8 der Richtlinie - Anerkennung bzw . Umtausch der nationalen Führerscheine - durchgeführt hat, nicht angreift . Da die mit Gründen versehene Stellungnahme den äussersten Rahmen dessen absteckt, was Gegenstand der späteren Vertragsverletzungsklage sein kann, steht somit fest, daß der Beklagten ein Verstoß gegen Artikel 8 der Richtlinie nicht vorgeworfen wird . Insoweit sind die Ausführungen der Beklagten als gegenstandslos zu betrachten .

19 . Im übrigen hat die Klägerin in der mit Gründen versehenen Stellungnahme die Pflicht der Beklagten betont, die Richtlinie insgesamt durchzuführen, d . h . alle - und nicht nur einige - Bestimmungen in innerstaatliches Recht umzusetzen, insbesondere aber deren Artikel 6 . Eine unkorrekte Durchführung anderer Bestimmungen der Richtlinie wird weder in der Stellungnahme vom 11 . Februar 1985 noch in der Klageschrift angesprochen . Deswegen ist der Klageantrag dahin gehend auszulegen, daß der Beklagten eine Verletzung des EWG-Vertrags vorgeworfen wird, weil sie die Bestimmungen des Artikels 6 der strittigen Richtlinie nicht in innerstaatliches Recht umgesetzt hat .

20 . Daß sich der Klagevorwurf auch nicht darauf bezieht, daß die Beklagte auch nach dem 1 . Januar 1986 Führerscheine nicht nach dem EG-Modell ausgibt, hatte die Klägerin bereits in ihrer Erwiderung klargestellt . Im übrigen hätte eine sinnvolle Interpretation des Klageantrags auch kein anderes Ergebnis zugelassen, da nicht angenommen werden kann, daß die Klägerin zum Zeitpunkt der Erhebung ihrer Klage der Beklagten die Verletzung einer Pflicht vorwerfen wollte, der weder zum Zeitpunkt der Einleitung des Vertragsverletzungsverfahrens noch zum Zeitpunkt der Klageerhebung nachgekommen werden musste .

21 . Die Klage ist somit in der von mir vorgeschlagenen einschränkenden Auslegung zulässig .

II - Zur Begründetheit

22 . Aufgrund des Ergebnisses des schriftlichen Verfahrens und der mündlichen Verhandlung steht fest, daß die Beklagte bislang ( also mehr als vier Jahre, nachdem die betroffene Richtlinie hätte durchgeführt werden müssen ) ihren Verpflichtungen aus Artikel 6 der Richtlinie nicht nachgekommen ist .

23 . Die Klägerin hat an die Beklagte drei Vorwürfe gerichtet :

1 ) Für den Führerschein der Klasse A ( Krafträder ) werde keine praktische Prüfung verlangt;

2 ) die Dauer der Prüfung werde dem Ermessen der Prüfer überlassen;

3 ) die Gesetzgebung der Beklagten stelle nicht klar, daß Führerscheine für Antragsteller mit bestimmten in der Richtlinie aufgeführten Krankheiten nicht ausgegeben oder verlängert werden dürften .

24 . Im Fall der praktischen Prüfung zur Ausstellung des Führerscheins der Klasse A ( Krafträder ) hat die Beklagte eingeräumt, daß lediglich eine fakultative Prüfung vorgesehen sei . Daraus folgt, daß eine praktische Prüfung nicht zwingend vorgeschrieben ist .

25 . Zur Dauer der praktischen Prüfung hat sich die Beklagte weder im schriftlichen Verfahren noch in der mündlichen Verhandlung geäussert .

26 . Infolgedessen muß davon ausgegangen werden, daß die Beklagte keine Vorkehrungen irgendwelcher Art getroffen hat, um sicherzustellen, daß die Dauer der Fahrprüfung in Italien der vorgeschriebenen Mindestdauer entspricht . Gemäß Ziffer 8 des Anhangs II soll die Prüfung mehr als 30 Minuten, mindestens aber 20 Minuten dauern .

27 . Zu der Erfuellung gesundheitlicher Normen hat sich die Beklagte im schriftlichen Verfahren ebenfalls nicht und im mündlichen Verfahren höchst undeutlich eingelassen . Sie hat im wesentlichen ausgeführt, die Klägerin habe bestimmte Einzelheiten des italienischen Systems angegriffen . Da aber gemäß Artikel 6 Absatz 1 Buchstabe a lediglich vorgeschrieben sei, daß die Mindestanforderungen nicht wesentlich von denen der Richtlinie nach unten abweichen dürften, hätte die Klägerin nachweisen müssen, daß das italienische System nicht gleichwertig sei . Die Beklagte hat nicht dargelegt, daß die geltenden Bestimmungen von denen der Richtlinie nicht wesentlich nach unten abweichen .

28 . Sicherlich obliegt es im Rahmen des Vertragsverletzungsverfahrens der Klägerin, den Nachweis der Vertragsverletzung zu führen . Diese Nachweispflicht findet jedoch ihre Grenzen dann, wenn der angegriffene Mitgliedstaat bei der Aufklärung des Sachverhalts und insbesondere bei der Darstellung seiner innerstaatlichen Rechtslage nur unzureichend mitwirkt . Die Beklagte hätte die Behauptung der Klägerin, das italienische Recht enthalte keine Bestimmungen, die es untersagten, Personen, die an bestimmten schweren Krankheiten litten, den Führerschein zu erteilen oder zu erneuern, widerlegen müssen .

29 . Das hat sie nicht getan : Auf die Frage der Klägerin im Vorverfahren, welche Maßnahmen zur Durchführung der Richtlinie erlassen worden seien, hat die Beklagte lediglich auf einen Runderlaß über die Anerkennung und den Umtausch ausländischer Führerscheine hingewiesen . Die Beklagte hat im übrigen Verfahren nicht dargelegt, welche anderen konkreten Maßnahmen sie ergriffen hat . Sie hat vielmehr eingeräumt, daß ein Gesetzgebungsverfahren erforderlich sei, welches jedoch noch nicht abgeschlossen ist .

30 . Gerade im Hinblick auf die gesundheitlichen Mindestanforderungen hat die Beklagte lediglich die Rügen der Klägerin vorgetragen und deren Bewertung angegriffen . Sie hat jedoch nicht dargelegt, worin dieses System besteht, insbesondere hat sie nichts darüber ausgesagt, ob die innerstaatlichen Mindestanforderungen an die gesundheitlichen Normen in einem Runderlaß, in einer gesetzgeberischen Maßnahme oder aber in dem Gesetzentwurf enthalten sind, der noch verabschiedet werden muß, und sie hat nicht dargelegt, inwiefern sie von den gemeinschaftlichen Normen "nicht wesentlich nach unten abweichen ".

31 . Angesichts dieser Lage bin ich der Ansicht, daß für die Zwecke dieses Vertragsverletzungsverfahrens davon ausgegangen werden kann, daß die Beklagte die Vorschriften über die Fahrprüfung und die Erfuellung gesundheitlicher Normen noch nicht in korrekter Weise erlassen hat .

C - Schlussantrag

32 . Nach alledem schlage ich Ihnen vor, festzustellen, daß die Beklagte gegen ihre Verpflichtungen aus dem EWG-Vertrag verstossen hat, indem sie nicht innerhalb der festgesetzten Frist die erforderlichen Rechts - und Verwaltungsvorschriften erlassen hat, um Artikel 6 Absatz 1 Buchstabe a der Richtlinie 80/1263 des Rates vom 4 . Dezember 1980 zur Einführung eines EG-Führerscheins nachzukommen, und der Beklagten die Kosten des Verfahrens aufzuerlegen .

( 1 ) Richtlinie 80/1263 ( ABl . 1980, L 375, S . 1 ).