SCHLUßANTRÄGE DES GENERALANWALTS

CARL OTTO LENZ

vom 21. März 1985

Herr Präsident,

meine Herren Richter!

A. 

Dem Vorabentscheidungsersuchen, zu dem ich mich heute äußere, liegt folgender Sachverhalt zugrunde:

Der Kläger des Ausgangsverfahrens ließ am 1. September 1982 in Berlin ein Wandrelief des amerikanischen Künstlers Claes Oldenburg aus den USA zollamtlich zur Einfuhr abfertigen. Das Werk hat eine Abmessung von 61 x 87,5 x 31,5 cm und trägt die BeZeichnung„Modi. Motor Section-Giant Soft Fan“. Es ist hergestellt aus mit Kartonpappe beklebtem Styropor, einem Kunststoff, der außerdem mit schwarzer Farbe und Öl besprüht sowie mit Draht und Kunstharz auf einer Holzplatte befestigt worden ist. Es handelt sich um eine für diesen Künstler typische bildnerische Verfremdung von Gegenständen des täglichen Lebens.

Während der Kläger das Werk als Originalerzeugnis der Bildhauerkunst unter der Tarifnummer 99.03 des Gemeinsamen Zolltarifs angemeldet hat, will es der Beklagte nach seiner Beschaffenheit der Zolltarifnummer 39.07 zuordnen. Im ersteren Fall besteht Zollfreiheit, andernfalls ist Zoll in Höhe von 14,2 % des Zollwertes von 7500 DM, also 1065 DM, zu entrichten.

Der Beklagte, bestärkt durch eine Stellungnahme der Zolltechnischen Prüfungs- und Lehranstalt, bestreitet nicht, daß es sich um ein Kunstwerk handelt. Er hält dies jedoch nicht für entscheidend, da es sich jedenfalls nicht um ein Werk der Bildhauerkunst handele, denn als solches könnte es nur bezeichnet werden, wenn es nach überkommenen Techniken aus hartem Material hergestellt worden sei. Demgegenüber hält der Kläger die Eigenschaft als Kunstwerk für entscheidend.

Das Finanzgericht Berlin hat Zweifel über die Zuordnung, weil es es für möglich hält, daß bei der Auslegung des Gemeinsamen Zolltarifs (GZT) gegebenenfalls die neuere Kunstentwicklung zu berücksichtigen sei. Danach sei der Begriff der Bildhauerkunst sehr erweitert worden und umfasse auch neuere Materialien wie Schrott und Kunststoffe. Auch würden neue Techniken der Bearbeitung des Materials angewandt. Es hat deshalb den Gerichtshof mit der folgenden Auslegungsfrage befaßt:

„Ist eine von der Zollbehörde als Kunstwerk anerkannte Arbeit, nämlich ein Wandrelief aus Kartonpappe, Styropor, mit schwarzer Farbe und Ol besprüht und mit Draht und Kunstharz auf einer Holzplatte befestigt, als „Originalerzeugnis der Bildhauerkunst aus Stoffen aller Art“ der Tarifstelle 99.03 (Codenummer 99.03.00.00) des Gemeinsamen Zolltarifs oder wegen seiner Stoffbestandteile der Tarifstelle 39.07 (Codenummer 39.07.999.00) zuzuordnen?“

Die Kommission trägt vor, bei dem Erzeugnis, um das es im Ausgangsverfahren gehe, handele es sich unzweifelhaft um ein Kunstwerk, für dessen Zuordnung zur Tarifnummer 99.03 zwei im GZT selbst vorgesehene Regelungen sprechen würden.

In dieser Tarifnummer heiße es ausdrücklich „Originalerzeugnisse der Bildhauerkunst aus Stoffen aller Art“, was auf eine gewisse Offenheit hinsichtlich der stofflichen Beschaffenheit hindeute.

Gemäß der Vorschrift Nr. 4 Buchstabe a zu Kapitel 99 gehörten aber Waren, bei deren Tarifierung dieses Kapitel und andere Kapitel des Zolltarifs in Betracht kämen, zu Kapitel 99. Daraus lasse sich ablesen, daß im Zweifelsfalle — abgesehen von den genannten Ausnahmeregelungen — die Tarifierung nach Kapitel 99 erfolgen solle. Zusammen mit der Überlegung, daß echtes künstlerisches Schaffen in der Gemeinschaft durch den Zolltarif ohnehin nicht sinnvoll geschützt oder gefördert werden könne, müsse diese Vorschrift dazu führen, im vorliegenden Fall zugunsten des Kapitels 99 zu entscheiden.

Es wäre unbillig, die Ware, deren hoher Wert aus der künstlerischen Bearbeitung herrühre, nach ihrer Materialbeschaffenheit zu tarifieren, weil der Materialwert äußerst gering sein dürfte.

Die Kommission schlägt deshalb vor, die Vorlagefrage des Finanzgerichts Berlin folgendermaßen zu beantworten:

Ein als Kunstwerk anerkanntes Wandrelief, das hergestellt wurde aus mit Kartonpappe beklebtem, mit Öl und Farbe besprühtem und auf eine Holzpappe befestigtem Styropor, einem Kunststoff, gehört als Originalerzeugnis der Bildhauerkunst aus Stoffen aller Art zur Tarifnummer 99.03 des Gemeinsamen Zolltarifs.

B. 

Zu Beginn meiner Stellungnahme zu diesem Vorabentscheidungsersuchen erlaube ich mir, zunächst die genannten Tarifpositionen in der damals maßgeblichen Fassung ( 1 ) anzuführen:

99.03:

Originalerzeugnisse der Bildhauerkunst, aus Stoffen aller Art

39.07:

Waren aus Stoffen der Tarifnummern 39.01 bis 39.06:

A.

Rohre und Schläuche für Gasoder Flüssigkeitsleitungen, mit Form-, Verschluß- oder Verbindungsstücken, für zivile Luftfahrzeuge ...

B.

andere:

I.

aus regenerierter Zellulose

II.

aus Vulkanfiber

III.

aus gehärteten Eiweißstoffen

IV.

aus chemischen Kautschukderivaten

V.

aus anderen Stoffen:

a)

Spulen und ähnliche Unterlagen für photographische und kinematographische Filme oder für Bänder, Filme und dergleichen der Tarifnummer 92.12

b)

Klappfächer und starre Fächer, Fächergestelle und Fächergriffe, Teile von Fächergestellen und Fächergriffen

c)

Miederstäbe und dergleichen für Korsette, Kleider und Bekleidungszubehör

d)

andere.

Die Stoffe der Tarifnummern 39.01 bis 39.06 will ich nicht im einzelnen aufzählen, sondern mich auf den Hinweis beschränken, daß es sich bei ihnen um Kunststoffe, Zelluloseäther und -ester und Waren daraus handelt.

Da es zwischen den Beteiligten unstreitig ist, daß es sich bei der eingeführten Ware um ein Kunstwerk handelt, beschränkt sich das vorliegende Verfahren auf die Frage, ob sie auch ein Erzeugnis der Bildhauetkunst darstellt.

Das im Ausgangsverfahren beklagte Hauptzollamt hat, gestützt auf eine Stellungnahme der Zolltechnischen Prüfungs- und Lehranstalt der Oberfinanzdirektion Berlin, den Begriff der Bildhauerkunst restriktiv ausgelegt. Als Originalerzeugnisse der Bildhauerkunst könnten nur in überkommenen Techniken hergestellte, d. h. aus hartem Material herausgearbeitete oder aus weichem Material geformte bildhauerisch gestaltete Rundplastiken, somit auch Skulpturen, angesehen werden. Andere Kunstobjekte, vor allem zeitgenössische Kunstwerke, z.B. Textilbilder, Collagen, Assemblagen usw., könnten wegen den hierbei angewandten Techniken und/oder der eingesetzten Ausdrucksmittel nicht dem Kapitel 99, sondern müßten dem jeweils in Betracht kommenden Stoffkapitel zugewiesen werden. Die Zuordnung der aus Kartonabschnitten, Leinwandgeweben und Kunststoff hergestellten Skulptur zu Tarifnummer 39.07 stelle weder eine Willkür noch eine interpretatorische Notlösung dar, da die Skulptur aufgrund ihrer Herstellungsweise und der verwendeten atypischen Materialien nicht von dem Warenkreis der Tarifnummer 99.03 erfaßt werde.

Ich kann diese restriktive Interpretation des Begriffs der „Bildhauerkunst“ nicht nachvollziehen.

Bereits im Vorabentscheidungsersuchen des Finanzgerichts Berlin finden wir einen Hinweis auf das Stichwort Bildhauerkunst im Meyers Enzyklopädischen Lexikon von 1972. Dort heißt es:

„Die Bezeichnungen Bildhauerkunst, Bildnerei und Plastik werden meist gleichbedeutend gebraucht, wobei aber im strengen Sinn Plastik nur Werke in weichem Material (Ton, Wachs, Gips) umfaßt (auch gegossene Bildwerke), Bildhauerkunst und Skulptur nur Werke, die aus hartem Material (Stein, Holz) gearbeitet sind. Als Werkstoffe der Bildhauerkunst dienten vor allem Stein, Holz, Metalle, Elfenbein, Ton und Wachs In der Neuzeit wird der Begriff Bildhauerkunst sehr erweitert, neue Materialien werden verwendet (Schrott, Kunststoffe) und neue Techniken angewandt (Schweißen und Löten von Eisenteilen, Arbeiten mit elektrischen Schneidgeräten, Steinguß usw.)...“

In dem Neuen Fischer Lexikon von 1981 finden wir Bildhauerkunst als die Kunst der räumlichen Gestaltung eines Bildwerkes bezeichnet. Es heißt dort:

Bildhauerkunst (Plastik, Skulptur), die Kunst der räumlichen Gestaltung eines Bildwerkes, entweder aus Holz oder Elfenbein geschnitzt, aus Stein (Marmor, Alabaster, Porphyr, Granit) gehauen, aus einer weichen, später erhärtenden Masse (Ton, Wachs, Gips) modelliert oder aus Metall gegossen (geschmiedet, getrieben usw.)... Formen: Vollplastik (freistehend, von allen Seiten bearbeitet), Tief-, Hoch-, Flachrelief ...“

Schon der allgemeine Sprachgebrauch rechtfertigt es somit nicht, von einem restriktiven Begriff der Bildhauerkunst auszugehen, der sich auf die traditionelle Bearbeitung harter Stoffe beschränke. Diese Beschränkung auf die sogenannten „harten“ Stoffe steht auch nicht im Einklang mit dem Wortlaut des Gemeinsamen Zolltarifs, der von „Stoffen aller Art“ spricht. Auch die anderen sprachlichen Fassungen des Gemeinsamen Zolltarifs legen eine weite Auslegung des Begriffs der Bildhauerkunst nahe. Mit Ausnahme der dänischen Fassung umreißen die anderen Sprachen den Begriff der „Bildhauerkunst“ mit mehreren Ausdrücken: Im Französischen heißt es z.B. „Productions originales de l'art statuaire et de la sculpture“, im Englischen „Original sculptures and statuary“.

Die Tarifnummer 99.03 geht somit nicht von einer restriktiven Auslegung des Begriffs der Bildhauerkunst aus. Zusätzlich ist. darauf hinzuweisen, daß gemäß Vorschrift 4 a zu Kapitel 99 im Zweifelsfall Kapitel 99 der Vorrang zu geben ist: „Vorbehaltlich der Vorschriften 1, 2 und 3 gehören Waren, bei deren Tarifierung Kapitel 99 und andere Kapitel des Zolltarifs in Betracht kommen, zu Kapitel 99.“

Abschließende Klarheit dürfte eine Betrachtung der Tarifstelle 39.07 B V d) sowie der Gegenstände, die üblicherweise in diese Tarifstelle eingereiht werden, ergeben. Ich will jetzt nicht alle Einzelangaben aus den Erläuterungen zur Nomenklatur des Rates für die Zusammenarbeit auf dem Gebiete des Zollwesens und auch nicht alle einzelnen Tarifentscheide der EWG aufzählen, sondern lediglich zwei Beispiele nennen, in denen die Kommission die Einreihung von Waren in die genannte Tarifstelle angeordnet hat.

In der Verordnung Nr. 810/83 vom 5. April 1983 ( 2 ) hat die Kommission entschieden, daß unter die Tarifstelle 39.07 B V d) zu tarifieren sei eine „Spardose aus Kunststoff in Form eines Pinguins, mit einer Höhe von etwa 16 cm, mit einem roten Halstuch bekleidet und einem Schlitz im Rücken zum Einwerfen von Münzen versehen“.

Artikel 1 der Verordnung Nr. 1218/84 der Kommission vom 30. April 1984 ( 3 ) lautet:

„Die Waschbecken, bestehend aus 30 Gewichtshundertteilen Kunststoff (mit Styrol modifiziertem Polyesterharz) und 70 Gewichtshundertteilen überwiegend Silikaten als Füllstoffe, die auf der Schauseite (Nutzseite) eine etwa 0,2 mm starke, glasklare Kunststoffbeschichtung (Polyester) aufweisen, gehören im Gemeinsamen Zolltarif zur Tarifstelle

39.07

Waren aus Stoffen der Tarifnm. 39.01 bis 39.06:

B.

andere:

V.

aus anderen Stoffen:

d)

andere.“

Diese Beispiele dürften zeigen, daß die Tarifierung des eingeführten Kunstwerks nach seiner Materialbeschaffenheit nicht angemessen ist. Im übrigen teile ich die Auffassung der Kommission, daß es grob unbillig wäre, die Ware, deren hoher Wert aus der künstlerischen Bearbeitung herrührt, nach ihrer Materialbeschaffenheit zu tarifieren, weil der Materialwert äußerst gering sein dürfte. Auch den mehr allgemeinen Überlegungen der Kommission, daß echtes künstlerisches Schaffen in der Gemeinschaft durch den Zolltarif ohnehin nicht sinnvoll geschützt oder gefördert werden könne und somit im vorliegenden Fall zugunsten des Kapitels 99 entschieden werden müsse, schließe ich mich an.

C. 

Ich schlage dem Gerichtshof deswegen vor, auf die vom Finanzgericht Berlin mit Beschluß vom 20. März 1984 vorgelegte Frage wie folgt zu antworten:

Eine von der Zollbehörde als Kunstwerk anerkannte Arbeit, nämlich ein Wandrelief aus Karton, Pappe, Styropor, mit schwarzer Farbe und Öl besprüht und mit Draht und Kunstharz auf einer Holzplatte befestigt, ist als „Originalerzeugnis der Bildhauerkunst aus Stoffen aller Art“ der Tarifnr. 99.03 des Gemeinsamen Zolltarifs zuzuordnen.


( 1 ) Verordnung Nr 3300/81 des Rates vom 16. November 1981 zur Änderung der Verordnung Nr. 950/68 über den Gemeinsamen Zolltarif, ABI. 1981, L 335, S. 1.

( 2 ) ABl. L 90, S. 11.

( 3 ) ABl. L 117, S. 16.