SCHLUßANTRÄGE DES GENERALANWALTS CARL OTTO LENZ
VOM25. OKTOBER 1984
Herr Präsident,
meine Henen Richter!
In dem Verfahren, zu dem ich heute Stellung nehme, geht es um folgenden Sachverhalt:
A — |
Der Kläger, ein niederländischer Staatsbürger, hat von 1932 bis zum Mai 1950 in den Niederlanden als unselbständiger Straßenbauarbeiter gearbeitet und von Juni 1933 an Beiträge nach dem niederländischen Gesetz über die Arbeitsunfähigkeitsversicherung geleistet. Von Mai 1950 bis Oktober 1972 war er als selbständiger Straßenbauunternehmer in den Niederlanden tätig und hat bis zum Januar 1965 freiwillige Beiträge nach dem Gesetz über die Arbeitsun-fähigkeits-, Alters- und Hinterbliebenenversicherung gezahlt. Im Dezember 1972 übersiedelte er — offenbar wegen des Gesundheitszustands seiner Frau — nach Deutschland, wo er — nach einiger Zeit der Arbeitslosigkeit — ab Mai 1973 als Vermessungsgehilfe in einem deutschen Unternehmen tätig war. Im Juni 1974 wurde er arbeitsunfähig und bezog danach Krankengeld. Im September 1974 kehrte er in die Niederlande zurück und verrichtete dort ab September 1975 (bis dahin ist offenbar das deutsche Krankengeld weiter gezahlt worden) leichte Halbtagsarbeit bei einem niederländischen Arbeitgeber. Im Juni 1975 stellte er beim Bestuur van de Nieuwe Algemene Bedrijfsvereniging, dem Beklagten des Ausgangsverfahrens, einen Antrag auf Gewährung von Leistungen wegen Arbeitsunfähigkeit. Dem wurde in einem Bescheid vom September 1977 stattgegeben: Danach erhielt der Kläger wegen im Juni 1974 eingetretener Arbeitsunfähigkeit ab September 1975 Leistungen, und zwar zunächst wegen einer Arbeitsunfähigkeit von 55 bis 65 % und ab April 1977 wegen einer solchen von 80 bis 100 %. Die Parteien streiten sich über die Höhe des sogenannten Tagesentgelts, anhand dessen die dem Kläger nach dem niederländischen Gesetz über die Arbeitsunfähigkeitsversicherung (im folgenden WAO genannt) zustehende Leistung zu berechnen ist. Der Beklagte ist bei der Ermittlung des Tagesentgelts von dem Entgelt ausgegangen, das der Kläger als Vermessungsgehilfe in der Bundesrepublik Deutschland während seiner etwa einjährigen Tätigkeit erhielt, bevor er am 11. Juni 1974 arbeitsunfähig wurde. Der Kläger ist dagegen der Meinung, das Tagesentgelt sei richtigerweise anhand der Einkünfte zu berechnen, die er als Straßenbauarbeiter/Polier in den Niederlanden während eines Zeitraums von 40 Jahren bezogen hatte. Das angerufene Gericht möchte nun wissen, wie dieser Streitfall aufgrund des Gemeinschaftsrechts zu beurteilen ist. Es hat dem Gerichtshof einige Fragen gestellt, zu deren Wortlaut ich auf das Vorabentscheidungsersuchen verweise. |
B — |
Um die gestellten Fragen verstehen und beantworten zu können, muß man wissen, daß es in den Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaften zwei unterschiedliche Typen von Arbeitsunfähigkeitsversicherungen gibt (Artikel 40 Absatz 1 der Verordnung Nr. 1408/71, Anhng IV). Der eine Typ ist dadurch gekennzeichnet, daß die Höhe der Leistung nicht von der Dauer der Versicherungszeiten abhängt. Man nennt die unter diesen Typ fallenden Arbeitsunfähigkeitsversicherungen Risikosysteme oder Systeme mit Umlageverfahren. Die Kommission hat sie in ihren Ausführungen mit dem Buchstaben A bezeichnet. Bei der anderen Gruppe von Systemen bemißt sich die Höhe der Leistung nach der Dauer der Versicherungszeit. Man spricht insofern von einem kumulativen System oder einem System der Kapitaldekkung. Die Kommission bezeichnet es mit dem Buchstaben B. Das niederländische System gehört zur Gruppe A, das deutsche System gehört zur Gruppe B. Der Kläger hat Versicherungszeiten unter beiden Systemen zurückgelegt; er gehörte bei Eintritt der Arbeitsunfähigkeit zu einem System der Gruppe B (Kumulativsystem mit Kapitaldeckung).
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C — |
Auf die vom Centrale Raad van Beroep aufgeworfenen Fragen sollte demnach wie folgt geantwortet werden : Artikel 47 Absatz 1 der Verordnung Nr. 1408/71 ist grundsätzlich auch anwendbar, wenn Artikel 46 Absatz 2 Buchstabe a 2. Satz eingreift, das heißt, wenn eine Leistung wegen Arbeitsunfähigkeit nach einem Risikosystem zu bestimmen ist, für das es nicht auf die Dauer der Versicherung ankommt, sondern in dem zur Bestimmung des maßgeblichen Verdienstausfalls das Entgelt eine Rolle spielt, das der Versicherte während eines Zeitraums unmittelbar vor Eintritt der Arbeitsunfähigkeit erhalten hat. Besteht ein Leistungsanspruch nach einem Risikosystem nur aufgrund der Berücksichtigung bestimmter Versicherungszeiten, ist es einem Mitgliedstaat mit einem solchen System nicht untersagt, sich auf das letzte in einem anderen Mitgliedstaat unmittelbar vor Eintritt der Arbeitsunfähigkeit bezogene Entgelt zu stützen, um die Leistung gemäß Artikel 46 Absatz 2 Buchstabe a zu berechnen. |