SCHLUßANTRÄGE DES GENERALANWALTS
MARCO DARMON
VOM 3. APRIL 1984 ( 1 )
Herr Präsident,
meine Herren Richter!
1. |
Herr Kent Kirk, Kapitän des dänischen Schiffs „Sandkirk“, begann am 6. Januar 1983 innerhalb der 12-Meilen-Zone vor der britischen Küste zu fischen. Dadurch verstieß er eindeutig gegen die „Sea Fish (Specified United Kingdom Waters) (Prohibition of fishing) Order“ 1982 (Nr. 1849 vom 22. Dezember 1982), eindeutig und, wie man wohl sagen kann, vorsätzlich. Herr Kirk, der dänisches Mitglied des Europäischen Parlaments ist, hatte an Bord seines Schiffes zahlreiche Journalisten. Ziel des Unternehmens war es — er hat bei der Verhandlung noch einmal darauf hingewiesen —, die Gültigkeit der Sea Fish Order 1982 im Hinblick auf das Gemeinschaftsrecht zu bestreiten. Herr Kirk wurde am selben Tag kontrolliert, dann vor den Magistrates Court North Shields gebracht und am 7. Januar 1983 zu einer Strafe von 30000 UKL sowie zur Tragung der Kosten (400 UKL) verurteilt. Er legte gegen dieses Strafurteil vor dem Crown Court Newcastle-upon-Tyne Berufung ein; dieses Gericht hat Ihnen mit Beschluß vom 9. März 1983 folgende Frage vorgelegt: „War das Vereinigte Königreich nach dem 31. Dezember 1982 unter Berücksichtigung sämtlicher einschlägiger Vorschriften des Gemeinschaftsrechts befugt, die Sea Fish (Specified United Kingdom Waters) (Prohibition of Fishing) Order 1982 in der Weise in Kraft zu setzen, daß damit nur in Dänemark registrierten Schiffen der Fischfang entsprechend der näheren Regelung der Verordnung verboten wird?“ Die Art der Frage selbst ist es, die eine Beantwortung im Rahmen des Verfahrens nach Artikel 177 nicht ohne weiteres zuläßt. Das nationale Gericht nennt keine gemeinschaftsrechtliche Vorschrift zur Auslegung oder Beurteilung ihrer Gültigkeit; dagegen stellt es an Sie die Frage, ob eine ganz bestimmte nationale Rechtsvorschrift mit dem Gemeinschaftsrecht vereinbar ist. Wie gewöhnlich ist daher nach der anzuwendenden Gemeinschaftsregelung zu suchen, die es dem nationalen Gericht ermöglicht, zu beurteilen, ob die von ihm angeführte nationale Maßnahme selbst mit diesen Bestimmungen übereinstimmt, und, wenn dies nicht der Fall ist, die Maßnahme für unwirksam zu erklären. |
2. |
In einem unlängst erschienenen Artikel in den „Cahiers de droit européen“ hat Jörn Sack die Fischereipolitik als „ein ‚neues Problem‘, für das die Gemeinschaft schlecht gerüstet war“ ( 2 ), bezeichnet. Dieses Problem, das zunächst einfach ein Teil der gemeinsamen Agrarpolitik war ( 3 ), hat durch den Beitritt Dänemarks, Irlands und des Vereinigten Königreichs zu den Europäischen Gemeinschaften erheblich an Umfang und Bedeutung gewonnen. Die allgemeine Entwicklung der Lage bei der Fischerei und die Bedeutung dieses Sektors für die neuen Mitgliedstaaten vertrugen sich schlecht mit einer strengen und unverzüglichen Anwendung des allgemeinen Prinzips der Nichtdiskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit in Artikel 7 des Vertrages, das für die Fischerei durch Artikel 2 der Verordnung Nr. 2141/70 des Rates vom 20. Oktober 1970 über die Einführung einer gemeinsamen Strukturpolitik für die Fischwirtschaft ( 4 ) bestätigt wurde. Artikel 4 derselben Verordnung sah allerdings folgendes vor: „Abweichend von Artikel 2 kann der Zugang zu bestimmten Fanggebieten ... für bestimmte Fischereiarten während eines Zeitraums von höchstens fünf Jahren ... der in den Küstengebieten entlang dieser Fanggebiete ansässigen Bevölkerung vorbehalten werden, wenn diese hauptsächlich von der Küstenfischerei lebt.“ Unter demselben Gesichtspunkt ermächtigte Artikel 100 der Beitrittsakte die Mitgliedstaaten dazu, „in den ihrer Hoheitsgewalt oder ihrer Gerichtsbarkeit unterliegenden Gewässern ... die Ausübung des Fischfangs nur solchen Schiffen zu gestatten, die herkömmlicherweise ... in diesen Gewässern Fischfang treiben“, wobei die dazu erlassenen Vorschriften nicht „weniger restriktiv als die zum Zeitpunkt des Beitritts tatsächlich angewandten Bestimmungen“ sein durften. Nach Artikel 103 der Beitrittsakte war die Kommission verpflichtet, „vor dem 31. Dezember 1982 ... dem Rat einen Bericht über die wirtschaftliche und soziale Entwicklung der Küstengebiete der Mitgliedstaaten sowie über den Fischbestand“ vorzulegen; hierzu wurde bestimmt, daß der Rat „auf der Grundlage dieses Berichts und unter Berücksichtigung der Ziele der gemeinsamen Fischereipolitik ... auf Vorschlag der Kommission die Bestimmungen [prüft], die den Ausnahmeregelungen, die bis zum 31. Dezember 1982 in Kraft sind, folgen könnten“. Das Vereinigte Königreich hat von der ihm durch Artikel 100 eröffneten Möglichkeit Gebrauch gemacht und die „Fishing Boats (European Economic Community) Designation Order“ 1972 erlassen, die am 1. Januar 1973 in Kraft trat und durch die einer Reihe von Mitgliedstaaten — darunter aber nicht Dänemark — bestimmte Sonderrechte bei der Fischerei eingeräumt wurden. Die Verordnung Nr. 2141/70 des Rates wurde durch die Verordnung Nr. 101/76 vom 19. Januar 1976 ( 5 ) aufgehoben, die jedoch in Artikel 2 den Wortlaut des Artikels 2 der aufgehobenen Vorschrift vollständig übernahm. |
3. |
Am 11. Juni 1982 legte die Kommission dem Rat einen „geänderten Vorschlag für eine Verordnung (EWG) des Rates zur Einführung einer gemeinschaftlichen Regelung für die Erhaltung und Bewirtschaftung der Fischbestände“ ( 6 ) vor. Die Begründungserwägungen enthalten folgende Ausführungen :
Der Vorschlag enthält sechzehn Artikel, von denen ich folgende zitieren möchte:
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4. |
Diese Vorschläge wurden auf der Sitzung des Fischereiministerrats vom 21. Dezember 1982 erörtert, der aber aufgrund des offenkundigen Widerstands der dänischen Regierung nicht zu einer Einigung kommen konnte. Am selben Tag richtete die Kommission eine Erklärung an den Rat ( 7 ), in der sie
Am 22. Dezember 1982 erließ die Regierung des Vereinigten Königreichs die Verordnung Nr. 1849, die ab dem 1. Januar 1983 für ein Jahr in Kraft trat und nach der unter bestimmten Vorbehalten „... der Fischfang innerhalb der britischen Fischereigrenzen in jedem Gebiet, das von den Basislinien des Vereinigten Königreichs aus gemessen innerhalb der 12-Meilen-Zone liegt, für jedes in Dänemark registrierte Fischereifahrzeug verboten“ ist. Am selben Tag legte die britische Regierung die gerade von ihr getroffene Maßnahme der Kommission zur Billigung vor; sie brachte ihre Enttäuschung über das Scheitern der Verhandlungen vom Vortag zum Ausdruck und versicherte, sie wäre selbstverständlich zur Änderung oder Aufhebung der Maßnahme bereit, „um eine Diskriminierung der Fischer der verschiedenen Mitgliedstaaten zu vermeiden, wenn die dänische Regierung hinreichende Sicherheiten geben könnte, daß dieses Ziel im Hinblick auf die dänischen Schiffe zu erreichen ist“. Mit der Entscheidung 83/3/EWG vom 5. Januar 1983 ( ( 8 )) genehmigte die Kommission die ihr von bestimmten Mitgliedstaaten mitgeteilten nationalen Maßnahmen — darunter die des Vereinigten Königreichs vom 22. Dezember 1982 —, behielt sich aber eine Entscheidung in sachlicher Hinsicht vor. Durch diese Genehmigung „sollte vermieden werden, daß sich Konfliktsituationen während ... [der Prüfung der mitgeteilten Maßnahmen] mangels jeder auf die Fischereitätigkeiten in den Gewässern der Gemeinschaft anwendbaren Regelung entwickeln“, sie wurde „vorläufig für die Zeit bis zum 26. Januar 1983“ erteilt. Der Fischereiministerrat sollte nämlich am 25. Januar zusammentreten. Er mußte, um es mit den Worten von Jörn Sack zu sagen, „Ergebnisse über alle Erwartungen hinaus“ ( ( 9 )) erreichen, darunter den Erlaß einer Verordnung Nr. 170/83, die von dem Vorschlag der Kommission vom 11. Juni 1982 den wesentlichen Gehalt und die von mir zitierten Vorschriften fast wörtlich übernahm. Dies sind die für die Rechtssache, mit der Sie befaßt sind, einschlägigen „gemeinschaftsrechtlichen Vorschriften“. Daraus folgt eindeutig, daß die Beibehaltung der auf Artikel 100 der Beitrittsakte gegründeten Ausnahmeregelung für einen weiteren Zeitraum von zehn Jahren ein wesentlicher Bestandteil der gemeinsamen Fischereipolitik ist. |
5. |
Die Frage ist nun, ob dieses Ziel in rechtmäßiger Weise erreicht worden ist. Keine Schwierigkeiten gäbe es, wenn die Verordnung Nr. 170/83 vor dem 1. Januar 1983 zustandegekommen und in Kraft getreten wäre. Dies ist nicht der Fall. Die Verordnung ist am 25. Januar erlassen worden und nach Artikel 16 am 27. Januar, dem Tag ihrer Veröffentlichung im Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften, in Kraft getreten. Streit ist über den Umfang der Rückwirkung der Verordnung oder genauer des Artikels 6 entstanden, der — ich wiederhole — die Beibehaltung der früheren Regelung „vom 1. Januar 1983“ an erlaubt. Bei diesem Streit ging es besonders um die strafrechtlichen Folgen einer solchen Rückwirkung. Im Bereich des Strafrechts wäre die Rückwirkung unzulässig. Offensichtlich stellt sich die Frage im vorliegenden Fall jedoch nicht in dieser Weise. Wie war denn die Situation, als sich der 1. Januar 1983 näherte? Die Verordnung, die noch in Vorbereitung war, konnte noch nicht erlassen werden. Sie haben bereits entschieden, daß „die Tatsache, daß er [der Rat] ... nicht zu einer Entscheidung gelangen konnte, ... nicht zur Folge gehabt [hat], daß die Gemeinschaft ihrer Zuständigkeit ... [auf dem Gebiet der Erhaltung der Fischbestände] beraubt ... worden ist. In einer solchen Lage“, haben Sie erklärt, ist „es Sache der Mitgliedstaaten, die erforderlichen Erhaltungsmaßnahmen für die ihrer Gerichtsbarkeit unterliegenden Seezonen im allgemeinen Interesse und unter Beachtung der materiellen und formellen Vorschriften des Gemeinschaftsrechts ... zu erlassen“ ( 10 ). Diese Auffassung, die nunmehr ständige Rechtsprechung ist, ist in Ihrem anderen Urteil in der Rechtssache Kommission/Vereinigtes Königreich ( 11 ) entwickelt worden, indem Sie festgestellt haben, daß „in einer Situation, in der die Kommission dem Rat zur Befriedigung dringender Erhaltungsbedürfnisse Vorschläge unterbreitet hat, die, obgleich sie vom Rat nicht angenommen worden sind, den Ausgangspunkt eines abgestimmten gemeinschaftlichen Vorgehens darstellen, ... [Artikel 5 EWG-Vertrag] den Mitgliedstaaten besondere Hand-lungs- und Unterlassungspflichten auf [erlegt]“. Außerdem haben Sie darauf hingewiesen, daß die Mitgliedstaaten als „Sachwalter des gemeinsamen Interesses“„die Verpflichtung ... [haben], die Kommission eingehend zu konsultieren und sich redlich um ihre Billigung zu bemühen“. Diese Grundsätze, die im Bereich der Erhaltung der Fischbestände herausgearbeitet worden sind, sind wohl auf den Bereich des Zugangs zur 12-Meilen-Küstenzone übertragbar, und zwar
Die Erklärung der Kommission an den Rat vom 21. Dezember 1982 verweist ausdrücklich auf die zitierte Rechtsprechung. Im Rahmen dieser Grundsätze hat das Vereinigte Königreich, dem Ersuchen der Kommission entsprechend, dieser die streitige Maßnahme zur Billigung vorgelegt, die von ihr am 5. Januar 1983 vorläufig genehmigt wurde. |
6. |
Somit bleibt noch die streitige Verordnung in bezug auf ihren Inhalt und ihre Vereinbarkeit im Hinblick auf die Anforderungen des einschlägigen Gemeinschaftsrechts zu prüfen. Es geht also um die Frage nach der diskriminierenden Wirkung, die von Herrn Kirk sowie der dänischen und der niederländischen Regierung behauptet worden ist. Es ist daran zu erinnern, daß die „Sea Fish Order“ 1982 den Fischfang in den britischen Küstengewässern allein den in Dänemark registrierten Fischereifahrzeugen untersagte. Eine solche Maßnahme, vielleicht unglücklich in der Wahl der Form, ist nur scheinbar diskriminierend. Denn die dänischen Schiffe, die herkömmlicherweise in den betreffenden Gewässern keinen Fischfang trieben, konnten von diesen bereits nach dem Gemeinschaftsrecht aufgrund der Ermächtigung in Artikel 100 der Beitrittsakte rechtmäßig ausgeschlossen werden. Die Vorschläge der Kommission, die am 25. Januar 1983 vom Rat gebilligt wurden, haben insoweit für sie keine neuen Rechte begründet. Infolgedessen handelt es sich im vorliegenden Fall nicht um eine Diskriminierung, sondern um eine Ausnahme, die an die jeweilige Situation der beiden betroffenen Mitgliedstaaten geknüpft ist und deren Fortdauer vom Vereinigten Königreich durch den Erlaß der streitigen Verordnung sichergestellt wurde. Diese Verordnung konnte um so mehr geboten erscheinen, als Dänemark es im Gegensatz zu den meisten anderen Mitgliedstaaten abgelehnt hatte, dem Vereinigten Königreich damals bis zum Erlaß der Ratsverordnung Garantien hinsichtlich des Status quo zu geben. Ich schlage daher vor, daß Sie wie folgt für Recht erkennen :
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( 1 ) Aus dem Französischen übersetzt.
( 2 ) „La nouvelle politique commune de la pêche“, Cahiers de droit européen, 1983, 437 ff.
( 3 ) Artikel 38 Absatz 1 EWG-Vertrag.
( 4 ) ABl. vom 27. 10. 1970, L 236, S. 1.
( 5 ) ABl. vom 28. 1. 1976, L 20, S. 19.
( 6 ) ABl. vom 1. 9. 1982, C 228, S. 1 (ein erster Vorschlag war dem Rat am 8. 10. 1976 vorgelegt und im Amtsblatt vom 28. 10. 1976, C 255, S. 3, veröffentlicht worden).
( 7 ) ABl. vom 31. 12. 1982, C 343, S. 2.
( 8 ) ABl. vom 14. 1. 1983, L 12, S. 50.
( 9 ) a.a.O., S. 444.
( 10 ) Randnummer 15 der Entscheidungsgründe des Urteils vom 10. 7. 1980, Kommission/Vereinigtes Königreich, Rechtssache 32/79, Slg. 1980, 2403, 2434.
( 11 ) Randnummer 27 bis 31 des Urteils vom 5. 5. 1981, Rechtssache 804/79, Slg. 1981, 1045, 1075 f.
( 12 ) Sechste Begründungserwägung der Verordnung Nr. 170/83 vom 25. 1. 1983.