SCHLUßANTRÄGE DES GENERALANWALTS

SIR GORDON SLYNN

VOM 6. OKTOBER 1982 ( 1 )

Herr Präsident,

meine Henen Richter!

Der Hoge Raad der Nederlanden hat dem Gerichtshof in zwei vor ihm anhängigen Rechtssachen nach Artikel 177 EWG-Vertrag die folgenden Fragen vorgelegt:

„1.

Ist in einem Verfahren der einstweiligen Anordnung der Hoge Raad aufgrund von Artikel 177 Absatz 3 EWG-Vertrag verpflichtet, falls im Kassationsverfahren eine Auslegungsfrage im Sinne von Absatz 1 dieses Artikels aufgeworfen wird, sich zur Erlangung einer Vorabentscheidung an den Gerichtshof zu wenden, wenn man die Tatsache berücksichtigt, daß eine Entscheidung des Hoge Raad im Verfahren der einstweiligen Anordnung einen Richter, dem der Rechtsstreit danach in einem Hauptverfahren vorgelegt wird, nicht bindet?

Wenn diese Frage nicht allgemein verneint oder bejaht werden kann, von welchen Umständen hängt es dann ab, ob eine derartige Verpflichtung anzunehmen ist.

2.

Verbietet es Artikel 10 der Verordnung Nr. 1612/68 des Rates vom 15. Oktober 1968 ... — gegebenenfalls in Verbindung mit anderen Bestimmungen des Gemeinschaftsrechts —, daß ein Mitgliedstaat einem der in Artikel 10 Absatz 1 der Verordnung genannten Familienangehörigen eines im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats beschäftigten Arbeitnehmers den Zugang, um bei diesem Arbeitnehmer Wohnung zu nehmen, nicht gestattet, wenn der Arbeitnehmer die Staatsangehörigkeit des Staates, in dem er beschäftigt ist, und der betreffende Familienangehörige eine andere Staatsangehörigkeit besitzt?“

Diese Fragen ergeben sich aus folgendem: Die Kassationsklägerinnen in den Ausgangsverfahren, Frau Morson in der Rechtssache 35/82 und Frau Jhanjan in der Rechtssache 36/82, sind Staatsangehörige von Surinam. Da sie am 25. November 1975 in Surinam lebten, verloren sie aufgrund eines Abkommens zwischen den Niederlanden und Surinam, das an jenem Tag mit der Unabhängigkeit Surinams in Kraft trat, die niederländische Staatsangehörigkeit. Sie reisten — offenbar als Touristen — in die Niederlande ein (Frau Morson am 27. September 1978, Frau Jhanjan im Mai 1980). Frau Morson zog zu ihrer Tochter, die ausweislich der Vorlageentscheidung die niederländische Staatsangehörigkeit besitzt und in Amsterdam wohnt und arbeitet. Frau Jhanjan zog zu ihrem Sohn, der ebenfalls die niederländische Staatsangehörigkeit besitzt. Anschließend beantragten beide eine Aufenthaltserlaubnis, die sie damit begründeten, daß sie von ihren Kindern finanziell abhängig seien. Der Staatssekretär der Justiz lehnte beide Anträge ab, und die Kassationsklägerinnen konnten daraufhin ausgewiesen werden.

Nach niederländischem Recht ist der Raad van State wohl das für die Überprüfung des Bescheids des Staatssekretärs zuständige Gericht. Aber auch wenn das Verfahren vor dem Raad von State anhängig ist, wird die Durchführung des Ausweisungsbeschlusses weder vom Staatssekretär noch vom Raad van State während der Überprüfung ausgesetzt. Frau Morson und Frau Jhanjan konnten deshalb weiterhin ausgewiesen werden. Deshalb beantragten beide beim Präsidenten der örtlichen Arrondissementsrechtbank, dem niederländischen Staat ihre Ausweisung zu verbieten. Der Präsident der Arrondissementsrechtbank ist allgemein befugt, in dringenden Fällen einstweiligen Rechtsschutz zu gewähren, seine Entscheidung hat aber nur vorläufigen Charakter und kann den Streit zwischen den Parteîe^nicht schlichten oder der möglichen Entscheidung des Raad van State in der Hauptsache vorgreifen.

Im vorliegenden Fall lehnte der Präsident die Anträge ab. Die Klägerinnen legten zunächst beim örtlichen Gerichtshof Berufung und anschließend Kassationsbeschwerde beim Hoge Raad ein. Dieser erließ die Vorlageentscheidungen. In der mündlichen Verhandlung ist dem Gerichtshof mitgeteilt worden, daß die Verfahren vor dem Raad van State inzwischen zwar eingeleitet worden seien, daß aber Frau Jhanjan zwischenzeitlich nach Surinam ausgewiesen worden sei. Frau Morson sei wohl noch in den Niederlanden, aber die Polizei habe sie nicht finden können.

Der Gerichtshof hat das in der ersten Frage aufgeworfene Problem in der Rechtssache 107/76, Hoffinann-La Roche/Centrafarm (Slg. 1977, 957) erörtert und wie folgt entschieden:

„Artikel 177 Absatz 3 EWG-Vertrag [ist] dahin auszulegen ..., daß ein einzelstaatliches Gericht in einem Verfahren wegen einstweiliger Verfügung zur Vorlage einer Auslegungs- oder Gültigkeitsfrage im Sinne dieser Bestimmung an den Gerichtshof auch dann nicht verpflichtet ist, wenn die im Verfügungsverfahren ergehende Entscheidung nicht mehr mit Rechtsmitteln angefochten werden kann, sofern es jeder Partei unbenommen bleibt, ein Hauptverfahren, in dem die im summarischen Verfahren vorläufig entschiedene Frage erneut geprüft werden und den Gegenstand einer Vorlage nach Artikel 177 bilden kann, entweder selbst einzuleiten oder dessen Einleitung zu verlangen.“

Der einzige wirkliche Unterschied zwischen den vorliegenden Rechtssachen und der Rechtssache Hoffinann-La Roche/Centrafarm scheint mir darin zu liegen, daß hier die Zivilgerichte für den Erlaß der einstweiligen Anordnung zuständig sind, während für die Entscheidung in der Hauptsache der Raad van State zuständig ist. Dies macht es meiner Ansicht nach nicht erforderlich, zwischen diesen Rechtssachen und dem Urteil in der Rechtssache Hoffinann-La Roche zu unterscheiden.

Der Vertreter der Kommission hat vorgetragen, die Vorlagepflicht könne jedoch bestehen, wenn Gegenstand des summarischen Verfahrens die Aufrechterhaltung eines Anspruchs nach Gemeinschaftsrecht sei, der unwiderruflich verlorengehe, wenn der Antrag auf einstweilige Anordnung abgelehnt werde. Dies scheint sich aus der Formulierung des Urteils des Gerichtshofes zu ergeben. Das wesentliche Kriterium dafür, ob eine Vorlagepflicht besteht, besteht darin, ob die Frage des Gemeinschaftsrechts nochmals im Hauptverfahren wirksam geprüft werden kann. Wenn ja, so besteht keine Pflicht zur Vorlage. Wenn nein, weil zum Beispiel der Antragsteller keine Klage in der Hauptsache erheben kann oder sich die Rechtsfrage in der Hauptsache nicht stellt oder weil aufgrund neuer Umstände eine Antwort auf die Frage rein akademisch oder sinnlos geworden ist oder werden würde, so muß die Frage vorgelegt werden. Die Entscheidung im summarischen Verfahren in den zuletzt genannten Fällen ist tatsächlich eine, gegen die es keinen Rechtsbehelf im Sinne des Artikels 177 Absatz 3 EWG-Vertrag gibt.

Die zweite Frage ist in allgemeinen Worten formuliert, die über den Sachverhalt des vorliegenden Falles hinausgehen. Der Hoge Raad fragt im wesentlichen, ob ein der beschriebenen Gruppe zuzurechnender Familienangehöriger aus gemeinschaftsrechtlicher Sicht ein Recht auf Einreise in einen Mitgliedstaat geltend machen kann, wenn der mit ihm verwandte Arbeitnehmer in diesem Staat beschäftigt ist und dessen Staatsangehörigkeit besitzt, der Angehörige aber eine andere Staatsangehörigkeit hat.

Daß der Familienangehörige eine andere Staatsangehörigkeit — ob nun die eines anderen Mitgliedstaats oder nicht — besitzt, ist für die Einreise kein Hindernis. Artikel 10 Absatz 1 der Verordnung Nr. 1612/68 verleiht dieses Recht eindeutig „ungeachtet ... [der] Staatsangehörigkeit“. Ebenso scheint es mir nicht von Belang zu sein, daß die Antragsteller — wie hier — weder in irgendeinem Mitgliedstaat gewohnt haben noch beschäftigt waren. Die Rechte der Familienangehörigen der betreffenden Gruppe entstehen aufgrund ihrer Verbindung zu einer Person, die ein Arbeitnehmer ist, dem zum Beispiel die Artikel 48 bis 50 EWG-Vertrag und die abgeleiteten Rechtsvorschriften Rechte verleihen, und sie sollen diesen Rechten zur tatsächlichen Geltung verhelfen (vgl. z. B. Rechtssache 40/76, Kermaschek/Bimdesanstalt für Arbeit, Slg. 1976, 1669, zur Verordnung Nr. 1408/71 vom 14. Juni 1971 — ABl. L 149 vom 5. 7. 1971, S. 2).

Offenbar ist es jetzt gefestigte Rechtsprechung, daß ein Arbeitnehmer gegenüber seinem eigenen Mitgliedstaat Ansprüche nach dem Gemeinschaftsrecht geltend machen kann (vgl. z. B. Rechtssache 115/78, Knoors/Staatssekretär für Wirtschaft, Slg. 1979, 399; Rechtssache 175/78, Saunders, Slg. 1979, 1129, und Rechtssache 246/80, Broekmetden/Huisarts Registratie Commissie, Slg. 1981, 2311). Unter bestimmten Umständen können auch abgeleitete Rechte gegenüber dem eigenen Mitgliedstaat nach dem Gemeinschaftsrecht durchgesetzt werden. Daraus folgt jedoch nicht, daß die bloße Tatsache, daß jemand in dem Mitgliedstaat lebt und arbeitet, dessen Staatsangehöriger er ist, nach dem Gemeinschaftsrecht für sich allein ausreicht, ihm das Recht gegenüber dem Mitgliedstaat zu geben, seine Familienangehörigen einreisen zu lassen, oder den Familienangehörigen das Recht auf Einreise zu geben. Er und seine Familienangehörigen können diese Rechte allein in den Fällen geltend machen, die von den Bestimmungen des Gemeinschaftsrecht erfaßt werden: In allen anderen Fällen beruhen seine Rechte und die Rechte seiner Familienangehörigen auf dem innerstaatlichen Recht.

Artikel 10 der Verordnung Nr. 1612/68 verleiht nur Rechte, wenn ein Arbeitnehmer, der Staatsangehöriger eines Mitgliedstaats ist, im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats beschäftigt ist. Diese Bestimmung soll meiner Ansicht nach vorrangig den Fall regeln, in dem ein Arbeitnehmer in einen anderen Mitgliedstaat übersiedelt, um dort eine Beschäftigung aufzunehmen. Könnte er seine Familie nicht mit übersiedeln lassen, wäre die Freizügigkeit gemäß Artikel 48 nicht im echten Sinn verwirklicht. Erfaßt wird eindeutig auch der Arbeitnehmer, der nicht in einen anderen Mitgliedstaat übersiedelt, sondern dort bloß beschäftigt ¡st. Sein Familienangehöriger kann gegenüber seinem Mitgliedstaat/nach dem Gemeinschaftsrecht das Recht geltend machen, sich bei ihm niederzulassen.

Beiden Fällen ist gemeinsam, daß zwei Mitgliedstaaten beteiligt sind: der Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit der Arbeitnehmer besitzt, und der Mitgliedstaat, in dem er beschäftigt ist. Ob sich daraus ergibt, wie die Kommission offenbar vorträgt, daß ein in einem Mitgliedstaat beschäftigter Arbeitnehmer, der nicht die Staatsangehörigkeit dieses Mitgliedstaats besitzt, einen Anspruch auf Rückkehr in seinen Mitgliedstaat geltend machen kann und ob demzufolge seine Angehörigen nach dem Gemeinschaftsrecht, insbesondere nach Artikel 10, einen Anspruch haben, ihn dorthin zu begleiten und sich bei ihm niederzulassen, ist in meinen Augen eine schwierige Frage, die sich in diesem Fall nicht stellt und die zu erörtern weder notwendig noch wünschenswert ist.

Es wird behauptet, dieses Erfordernis zweier Mitgliedstaaten sei falsch und Artikel 10 müsse ganz allgemein in dem Sinne verstanden werden, daß auch der Arbeitnehmer darunter falle, der in dem Staat beschäftigt sei, dessen Staatsangehörigkeit er besitze, und der weder seinen Wohnsitz noch den Ort seiner Beschäftigung verlegt habe. Man stützt sich dabei zuerst auf Artikel 11 der Verordnung Nr. 1612/68, der in der französischen Fassung sowie in einigen anderen Sprachen bestimmten Familienangehörigen des Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats „exerçant sur le territoire d'un État membre une activité salariée ou non salariée“ das Recht gibt, in demselben Mitgliedstaat eine Beschäftigung aufzunehmen. Ob „un Etat membre“ im Lichte des Artikels 10 im Sinne von „un autre Etat membre“ auszulegen ist, wie es im englischen Text.(„another Member State“) und offenbar auch im dänischen Text ausdrücklich heißt, braucht nicht entschieden zu werden. Das Argument, Artikel 11 sei im Lichte von Artikel 10 auszulegen, erscheint mir eher überzeugend als das umgekehrte Argument. Jedenfalls werden im vorliegenden Fall keine Rechte aus Artikel 11 geltend gemacht. Man stützt sich ferner auf die Entscheidung des Gerichtshofes in der Rechtssache Knoors. Diese Rechtssache betraf jedoch Artikel 52 EWG-Vertrag. Es ging daru, daß ein Niederländer, der in Belgien die berufliche Qualifikation eines Klempners erworben hatte, in die Niederlande zurückkehren wollte, um dort seinem Beruf nachzugehen. Die Entscheidung des Gerichtshofs mag zwar für das Vorbringen der Kommission sehr relevant gewesen sein, daß eine Familie das Recht habe, einen Arbeitnehmer zu begleiten, wenn er in seinen eigenen Mitgliedstaat zurückkehre, um dort zu arbeiten. Sie scheint mit jedoch keine Bedeutung in einem Fall zu haben, in dem der Arbeitnehmer nicht von einem Staat in einen anderen übergesiedelt ist. Der Gerichtshof hat in der Tat darauf hingewiesen, daß ein Mitgliedstaat ein berechtigtes Interesse hat, zu verhindern, daß sich seine Staatsangehörigen unter Mißbrauch der durch den Vertrag geschaffenen Erleichterungen der Anwendung des innerstaatlichen Rechts entziehen.

Im vorliegenden Fall gibt es weder eine Vermutung noch ein Anzeichen dafür, daß die Arbeitnehmer, um die es geht, jemals ihre Rechte aus dem Vertrag wahrgenommen haben oder diese wahrzunehmen versucht oder beabsichtigt haben. Sie sind nicht in einem anderen Mitgliedstaat beschäftigt gewesen. Deshalb können sich ihre Familienangehörigen meiner Meinung nach nicht darauf berufen, daß sie irgendeinen Anspruch nach dem Gemeinschaftsrecht haben, sich bei ihren Kindern niederzulassen.

Es wird behauptet, dies führe zu ungereimten Ergebnissen, wenn ein Ausländer mit seiner Familie einreisen oder, wie die Kommission vorträgt, ein Inländer mit seiner Familie zurückkehren könne, aber ein Inländer seine Familie nicht an den Ort kommen lassen dürfe, wo er immer gewesen sei. Da die verliehenen Rechte aus dem Grundsatz der Freizügigkeit der Arbeitnehmer und nicht aus dem Recht, überall in der Gemeinschaft Wohnung zu nehmen, hergeleitet sind, sind Lücken bei dem den Familienangehörigen eingeräumten Recht, bei dem Arbeitnehmer zu leben, mindestens denkbar und vielleicht auch unvermeidbar.

Abschließend schlage ich daher vor, die beiden Fragen wie folgt zu beantworten:

1.

Artikel 177 Absatz 3 EWG-Vertrag ist so auszulegen, daß ein einzelstaatliches Gericht nicht verpflichtet ist, dem Gerichtshof eine Auslegungsfrage im Sinne dieses Artikels vorzulegen, wenn diese Frage im Rahmen eines Verfahrens der einstweiligen Anordnung gestellt wird, auch wenn es gegen eine Entscheidung in diesem Verfahren keine Rechtsmittel gibt, sofern jede Partei — auch vor einem anderen Gericht — ein Hauptverfahren einleiten oder dessen Einleitung beantragen kann, in dem die im summarischen Verfahren vorläufig entschiedene Frage wirksam neu geprüft werden und Gegenstand einer Vorlage an den Gerichtshof nach Artikel 177 sein kann.

2.

Artikel 10 der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 des Rates vom 15. Oktober 1968 (ABl. L 257, 1968, S. 2) in Verbindung mit Artikel 48 EWG-Vertrag ist dahin auszulegen, daß das Gemeinschaftsrecht es einem Mitgliedstaat nicht verbietet, einem der in Artikel 10 Absatz 1 dieser Verordnung genannten Familienangehörigen eines in seinem Hoheitsgebiet beschäftigten Arbeitnehmers, der die Staatsangehörigkeit dieses Mitgliedstaats besitzt, die Einreise zu verweigern, wenn der Familienangehörige eine andere Staatsangehörigkeit besitzt und sich bei diesem Arbeitnehmer niederlassen will und wenn der Arbeitnehmer im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats weder beschäftigt ist noch beschäftigt war.


( 1 ) Aus dem Englischen übersetzt.