SCHLUßANTRÄGE DES GENERALANWALTS

SIR GORDON SLYNN

VOM 17. JUNI 1982 ( 1 )

Herr Präsident,

meine Herren Richter!

Im vorliegenden Fall ersucht das Finanzgericht Hamburg den Gerichtshof um Vorabentscheidung über die Auslegung von Artikel 5 Absatz 2 der Richtlinie 69/335 des Rates vom 17. Juli 1969 betreffend die indirekten Steuern auf die Ansammlung von Kapital (ABl. 1969 II, S. 412).

Klägerin ist die Kommanditgesellschaft in Firma Felicitas Rickmers-Linie KG & Co. Eine Kommanditgesellschaft ist eine Personengesellschaft, die aus einem oder mehreren persönlich haftenden Gesellschaftern, deren Haftung unbeschränkt ist, und einem oder mehreren Kommanditisten besteht, deren Haftung auf den Betrag ihrer Vermögenseinlage, die im Handelsregister ausgewiesen ist, beschränkt ist.

Im entscheidungserheblichen Zeitraum war persönlich haftende Gesellschafterin der Klägerin eine andere Kommanditgesellschaft, die Firma Rickmers-Linie KG, die ich im folgenden als „die persönlich haftende Kommanditgesellschaft“ bezeichnen werde. Beklagter ist das Finanzamt für Verkehrsteuern in Hamburg.

Am 10. April 1974 wurde eine Aktiengesellschaft, die Hapag Lloyd AG, persönlich haftende Gesellschafterin der persönlich haftenden Kommanditgesellschaft. Nach Auffassung des Beklagten war dies ein Vorgang, aufgrund dessen nach dem zur Durchführung der Richtlinie 69/335 des Rates erlassenen Kapitalverkehrsteuergesetz vom 17. November 1972 (BGBl. I, S. 2129) Gesellschaftsteuer auf das Kapital der Klägerin zu zahlen war.

Gemäß § 2 Absatz 1 dieses Gesetzes unterliegt der Erwerb von Gesellschaftsrechten an einer inländischen Kapitalgesellschaft durch den ersten Erwerber der Gesellschaftsteuer. Artikel 5 Absatz 1 des Gesetzes definiert den Begriff der „Kapitalgesellschaft“ in der Weise, daß er Aktiengesellschaften einschließt. Nach § 5 Absatz 2 Nr. 3 wird eine Kommanditgesellschaft, zu deren persönlich haftenden Gesellschaftern eine Kapitalgesellschaft im Sinne der vorhergehenden Bestimmungen oder eine als Kapitalgesellschaft geltende Kommanditgesellschaft gehört, einer Kapitalgesellschaft gleichgestellt.

Der Beklagte ist der Auffassung, die persönlich haftende Kommanditgesellschaft sei durch den Eintritt der Hapag Lloyd AG einer Kapitalgesellschaft gleichgestellt worden und die Klägerin sei mit dem Eintritt dieses Ereignisses ihrerseits nach Artikel 5 Absatz 2 Nr. 3 des Gesetzes als Kapitalgesellschaft anzusehen. Somit hätten die Kommanditisten der Klägerin zu diesem Zeitpunkt gemäß Artikel 2 Absatz 1 Gesellschaftsrechte an einer Kapitalgesellschaft erworben.

§ 8 des Gesetzes bestimmt (soweit einschlägig), daß die Gesellschaftsteuer vom Wert der Gesellschaftsrechte zu berechnen ist; soweit jedoch die Gesellschaftsrechte einen Nennwert haben, gilt als Wert der Gesellschaftsrechte mindestens der Nennwert abzüglich der darauf ausstehenden Einlagen.

Die §§ 2 Absatz 1, 5 Absatz 1, 5 Asatz 2 Nr. 3 und 8 des Gesetzes entsprechen den Artikeln 4 Absatz 1 Buchstabe b, 3 Absatz 1 Buchstabe a, 3 Absatz 2 und 5 der Richtlinie.

Das vorlegende Gericht stellte fest, daß der tatsächliche Wert der Kommanditanteile aufgrund von Verlusten im entscheidungserheblichen Zeitraum 0 DM betrug. Der Beklagte setzte jedoch die Gesellschaftsteuer in Höhe von 1 % des Gesamtbetrages der Hafteinlagen der Kommanditisten zu dem fraglichen Zeitpunkt fest. Die Steuerschuld betrug danach 64800 DM.

Gegen diese Steuerfestsetzung erhob die Klägerin Klage vor dem Finanzgericht. Dieses neigt zu der Auffassung, daß die Steuer nicht auf den Wert der Hafteinlagen der Kommanditisten zu erheben sei, da Kommanditanteile keinen „Nennbetrag“ inm Sinne von § 8 des Gesetzes hätten.

Das Finanzgericht legt dar, auf den ersten Blick könnte es so scheinen, als hinge die Entscheidung allein von der Auslegung des deutschen Rechts ab. Da die Richtlinie jedoch „unmittelbar anwendbar“ sei und das Kapitalverkehrsteuergesetz jedenfalls zur Durchführung der Richtlinie erlassen worden sei, betreffe die Frage in Wirklichkeit die Auslegung der Richtlinie, insbesondere ihres Artikels 5 Absatz 2. Dieser bestimmte in der zum entscheidungserheblichen Zeitpunkt geltenden Fassung:

„... darf der steuerpflichtige Betrag ... nicht niedriger sein als der tatsächliche Wert der jedem Gesellschafter gewährten oder ihm gehörenden Gesellschaftsanteile oder als deren Nennbetrag, wenn dieser höher ist als ihr tatsächlicher Wert“.

Die Klägerin hat unter Berufung auf Artikel 4 Absatz 1 in Verbindung mit Artikel 3 Absatz 2 der Richtlinie geltend gemacht, im vorliegenden Fall liege kein nach diesen Vorschriften gesellschaftsteuerpflichtiger Vorgang vor. Der Eintritt einer Kapitalgesellschaft in eine Kommanditgesellschaft, die persönlich haftende Gesellschafterin einer anderen Kommanditgesellschaft sei und in dem gesamten Zeitraum, auf den es ankomme, gewesen sei, führe nicht zur Umwandlung dieser letzteren in eine Kapitalgesellschaft. Das Finanzgericht war der Auffassung, daß dieses Vorbringen zu mehreren Entscheidungen des Bundesfinanzhofes, die es offensichtlich als bindend ansieht, in Widerspruch stehe. Das Finanzgericht hat diese Frage jedoch nicht dem Gerichtshof zur Vorabentscheidung vorgelegt; deshalb erscheint es nicht angebracht, darauf einzugehen.

Stattdessen möchte das Finanzgericht mit seiner ersten Frage wissen, ob Anteile an Kommanditgesellschaften einen Nennbetrag im Sinne von Artikel 5 Absatz 2 haben, gegebenenfalls welches Element den Nennbetrag ausdrückt. Die zweite Frage geht dahin, ob Artikel 5 Absatz 2 der Richtlinie unmittelbar anwendbares Recht in dem Sinne ist, daß sich ein Steuerpflichtiger vor Gericht darauf berufen kann, entsprechend der Richtlinie besteuert zu werden.

Unabhängig von der Frage der „unmittelbaren Anwendbarkeit“ ist, wenn man davon ausgeht, daß das Kapitalverkehrsteuergesetz zur Durchführung der Richtlinie erlassen wurde und sie auch tatsächlich durchführte, meiner Auffassung nach das nationale Gericht berechtigt, Fragen zur Auslegung der Richtlinie selbst als eines Gegenstandes des Gemeinschaftsrechts zu stellen. Die genannte Frage enthält meiner Meinung nach Fragen sowohl des Gemeinschaftsrechts als auch im Hinblick auf Gegenstände, über die das Gericht zu entscheiden hat; der Gerichtshof hat natürlich nur die ersteren zu beantworten.

Meines Erachtens ist die Definition des Begriffs „Nennbetrag“ in Artikel 5 Absatz 2 der Richtlinie im wesentlichen eine Frage des Gemeinschaftsrechts, die letzten Endes vom Gerichtshof zu entscheiden ist. Die entscheidenden Kriterien sind nicht nach nationalem, sondern nach Gemeinschaftsrecht festzulegen (vgl. die Rechtssache 161/78, Conradsen/Ministerium fiir das Steuerwesen, Slg. 1979, 2221, 2244 ff.), da es andernfalls zu unannehmbaren Auslegungsunterschieden innerhalb der Gemeinschaft kommen könnte. Die Anwendung der nach Gemeinschaftsrech festgelegten Definition fällt in die Zuständigkeit der nationalen Gerichte. Nachdem der Gerichtshof die Charakteristika des „Nennbetrags“ unabhängig von nationalem Recht festgesetzt hat, ist es meiner Meinung nach Sache des nationalen Gerichts zu entscheiden, ob die Anteile an nach nationalem Recht gegründeten Kapitaloder Personalgesellschaften diese Charakteristika nach dem betreffenden nationalen Recht besitzen.

Ich glaube nicht, daß Artikel 5 Absatz 2 dahin auszulegen ist, daß jede Formierung, die unter die weite Definition der „Kapitalgesellschaft“ fällt, Anteile besitzt, die „Nennbeträge“ haben, oder so zu behandeln sind, als hätte sie solche Anteile. Die wirkliche Bedeutung von Artikel 5 Absatz 2 ist meines Erachtens die, daß auf den tatsächlichen Wert der Anteile abzustellen ist, es sei denn, a) diese Anteile hätten einen Nennbetrag und b) dieser Nennbetrag sei höher als ihr tatsächlicher Wert. Das Kapitalverkehrsteuergesetz räumt (durch die Worte in § 8 „soweit Gesellschaftsrechte einen Nennwert haben“) ausdrücklich die Möglichkeit ein, daß Gesellschaftsanteile keinen Nennwert besitzen. Insoweit spiegelt es die Richtlinie genau wider.

Der Ausgangspunkt ist der, daß manche Kapitalgesellschaften keine Anteile mit einem Nennwert haben, andere dagegen wohl.

Die Charakteristika des „Nennbetrags“ im Sinne von Artikel 5 Absatz 2 der Richtlinie sind unter Berücksichtigung der Zielsetzung der Richtlinie und des Zusammenhangs, in dem dieser Begriff gebraucht wird, zu ermitteln. Wie aus dem Titel der Richtlinie und ihrer zweiten und sechsten Begründungserwägung hervorgeht, bezweckt die Richtlinie die Förderung eines freien Kapitalverkehrs durch die Harmonisierung der Vorschriften über die Steuern auf die Ansammlung von Kapital. Zu den Steuern auf die Ansammlung von Kapital wird ausdrücklich „die Steuer auf die Einbringungen in Gesellschaften“ gezählt. Nach Artikel 1 erheben die Mitgliedstaaten eine gemäß der Richtlinie harmonisierte Abgabe „auf Kapitalzuführungen an Kapitalgesellschaften“, die als „Gesellschaftsteuer“ bezeichnet wird.

Der zweite Teilsatz des Artikels 5 Absatz 2 ist nur anwendbar, wenn die Anteile (im Sinne von Gesellschafteranteilen, nicht von Aktien) den Gesellschaftern „gewährt“ worden sind oder ihnen „gehören“. Letzteres soll sich wohl auf Anteile beziehen, die nach ihrer Zuteilung übertragen worden sind. Es muß also eine nachprüfbare Zuteilung oder Zuweisung eines bestimmten Anteils an der Gesellschaft vorliegen. Der Nennbetrag eines solchen Anteils muß meines Erachtens unabhängig davon, ob er als Anteil oder als Einheit (oder als eine Anzahl von Anteilen oder Einheiten) oder als bestimmter oder bestimmbarer in einem Geldbetrag ausgedrückter Teil des Gesellschaftskapitals bezeichnet wird, in Geldwert ausgedrückt sein. Bei dem Nennbetrag muß es sich um einen festen Betrag handeln, der nicht von dem Vermögen der Gesellschaft abhängt. Er darf deshalb nicht auf der Grundlage des Wertes der Einlagen der Gesellschaft oder des realisierbaren Wertes des Gesellschafteranteils selbst bestimmt werden. Auch darf er sich nicht nach der Haftung der Gesellschaft Dritten gegenüber oder nach dem Umfang der Haftung der Gesellschafter gegenüber Dritten als solchem richten. Es muß sich um einen bestimmten Betrag handeln, der normalerweise in einer Gesellschaftsurkunde wie z. B. dem Gesellschaftsvertrag, der Satzung, der Gründungsurkunde, der Urkunde über die Zuteilung der Anteile oder im Handels- oder Gesellschäftsregister festgelegt wird. Es kann dies ein bestimmter Betrag oder ein gesetzlich vorgeschriebener Mindestbetrag sein oder auch nicht.

Normalerweise wird der Nennbetrag der Gesellschafteranteile dem Betrag oder dem Wert der Einlagen der Gesellschafter zum Zeitpunkt der Einlage entsprechen; er umfaßt auch den Betrag, den ein Gesellschafter schuldet, aber noch nicht geleistet hat. Den Mitgliedstaaten steht es jedoch nach Artikel 5 Absatz 1 Buchstabe a frei, die Steuer erst dann zu erheben, wenn die Einlagen, die ein Gesellschafter zu leisten hat, tatsächlich geleistet werden.

Ich habe gesagt, „normalerweise“, da die Richtlinie zur Berechnung der Steuer die Berücksichtigung dreier verschiedener Beträge vorschreibt, von denen jeder höher sein kann als die beiden anderen. Der erste findet sich in Artikel 5 Absatz 1 Buchstabe a: „tatsächliche[n] Wert der von den Gesellschaftern geleisteten oder zu leistenden Einlagen jeder Art abzüglich der Lasten und Verbindlichkeiten, die der Gesellschaft jeweils aus der Einlage erwachsen“, bei dem zweiten handelt es sich um den „tatsächliche[n] Wert der jedem Gesellschafter gewährten oder ihm gehörenden Gesellschaftsanteile“, der dritte ist der Nennwert von Anteilen, die einem Gesellschafter zugeteilt worden sind oder ihm gehören. Dieser Betrag, der in bezug auf die Anteile in Geldwert ausgedrückt wird, kann daher, wenn das nationale Recht dies gestattet, vom Nettobetrag der Einlage abweichen und diesen (d. h. den Wert der geleisteten Einlage abzüglich der genannten Abzüge) übersteigen.

Es ist Sache des nationalen Gerichts zu entscheiden, ob eine nach nationalem Recht bestehende Gesellschaft Anteile gewährt hat, die einen „Nennbetrag“ besitzen, und wie dieser Betrag auf der Grundlage der genannten Kriterien zu ermitteln ist.

Mir ist klar, daß diese Lösung im Hinblick auf die einzelnen Gesellschaften Nachforschungen darüber notwendig macht, ob die von ihr gewährten Anteile „Nennbeträge“ haben, sofern die in Rede stehenden Gesellschaften nach einem nationalen Recht gegründet wurden, nach dem sie die oben beschriebenen Charakteristika haben können, aber nicht zwingend haben müssen. Angesichts des unterschiedlichen Gesellschaftsrechts der Mitgliedstaaten und der Vielfalt des Aufbaus einer Gesellschaft selbst innerhalb eines Mitgliedstaats halte ich dies für unvermeidbar, wenn der Begriff des „Nennbetrags“ in der ganzen Gemeinschaft einheitlich ausgelegt werden soll. Die absolute Feststellung, daß alle Kommanditgesellschaften Anteile besitzen, die einen Nennbetrag haben, ist daher meiner Meinung nach nicht möglich und aufgrund der dem Gerichtshof vorliegenden Unterlagen nicht angebracht. Der Prozeßbevollmächtigte des Beklagten hat am Schluß die von mir vorgeschlagene Lösung befürwortet, obwohl er zunächst eine weitergehende Auffassung vertreten hatte. Es ist Sache des nationalen Gerichts, insoweit Nachforschungen über die betroffene Gesellschaft anzustellen.

Die zweite Frage stellt sich meines Erachtens im vorliegenden Fall nicht. Aus den Gründen, die ich in meinen Schlußanträgen in der Rechtssache 8/81 (Becker/Finanzamt Münster Innenstadt, Urteil vom 18. November 1981, noch nicht veröffentlicht) dargelegt habe, erhebt sich die Frage nach der unmittelbaren Wirkung einer Richtlinie nur, wenn ein einzelner sich gegenüber einem Mitgliedstaat, der eine Richtlinie nicht angewandt hat, auf diese Richtlinie beruft und ihr Wortlaut hinreichend klar und für den Mitgliedstaat verbindlich ist. Im vorliegenden Fall ist unstreitig, daß die Bundesrepublik Deutschland die Vorschrift angewandt und in keiner Weise gegen ihre Verpflichtungen verstoßen hat. Die Frage nach der Auslegung von Artikel 5 im allgemeinen kann dem Gerichtshof rechtmäßigerweise vorgelegt werden, da das deutsche Recht entsprechend der Richtlinie auszulegen ist. Die Klägerin kann sich auf das deutsche Recht stützen und braucht keine Richtlinie als solche. Obwohl die Klägerin im vorliegenden Fall geltend gemacht hat, Artikel 5 Absatz 2 habe unmittelbare Geltung, ist es in Wirklichkeit der Beklagte, der sich auf die Richtlinie oder jedenfalls auf deutsches Recht, in das der Wortlaut der Richtlinie übernommen worden ist, beruft.

Meines Erachtens ist deshalb die erste Frage dahin zu beantworten, daß es Sache des deutschen Gerichts ist zu entscheiden, ob im vorliegenden Fall die Klägerin ihren Gesellschaftern Anteile oder eine Beteiligung gewährt hat, die einen in einem Geldbetrag ausgedrückten Nennwert haben, der feststeht und sich nicht von Zeit zu Zeit aufgrund des Vermögenswertes der Gesellschaft oder des realisierbaren Wertes der Anteile oder der Beteiligung ändert.

Die zweite Frage ist meiner Meinung nach gegenstandslos.


( 1 ) Aus dem Englischen übersetzt.